Predigt Talkirche, 26.12.2022

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN WEIHNACHTSTAG

Text: Mt 1,1-17

Interessieren Sie sich für Stammbäume? Wenn ja, dann wohl am ehesten, wenn es um Ihre eigenen Vorfahren geht. Der Adel jeden­falls hat seine Schlösser schon immer gern mit Ahnenga­lerien ge­schmückt. Aber auch mancher Bürgerliche sam­melt Familientra­ditio­nen und steckt seine Nase in alte Kirchenbü­cher, um mehr darüber zu erfahren, wo er herkommt. Manchmal entdeckt man dabei ja auch spannende Dinge. Ich zum Beispiel bin mütterlicher­seits weitläufig mit einer bekannten amerikanischen Artistentruppe und einem holländischen Groß-Admi­ral verwandt. Väterlicherseits bleiben die Nachforschungen allerdings irgendwo im 19. Jahrhun­dert stecken, denn meine Urururgroßmutter hat offenbar ein un­ehe­liches Kind bekommen – Vater unbekannt.

Bei den Stammbäumen anderer Leute lässt dagegen das Interesse schnell nach. Okay, eingefleischte Fans der britischen Royals kennen deren Vorfahren wahrscheinlich mindestens bis Wilhelm dem Er­oberer. Aber bei uns Normalsterblichen? Langweilig! Ein Buch darü­ber würde kein Mensch lesen.

Mit diesen Vorbemerkungen hab ich Ihnen schonend beizubringen versucht, was heute Predigttext ist, nämlich der Stammbaum Jesu nach Matthäus 1:

Dies ist das Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte Ram. Ram zeugte Am­minadab. Amminadab zeugte Nachschon. Nachschon zeugte Sal­mon. Salmon zeugte Boas mit der Rahab. Boas zeugte Obed mit der Rut. Obed zeugte Isai. Isai zeugte den König David.

David zeugte Salomo mit der Frau des Uria. Salomo zeugte Reha­beam. Rehabeam zeugte Abija. Abija zeugte Asaph. Asaph zeugte Joschafat. Joschafat zeugte Joram. Joram zeugte Usija. Usija zeugte Jotam. Jotam zeugte Ahas. Ahas zeugte Hiskia. Hiskia zeugte Ma­nasse. Manasse zeugte Amos. Amos zeugte Josia. Josia zeugte Jo­jachin und seine Brüder um die Zeit der babylonischen Gefangen­schaft.

Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jojachin Schealtiël. Schealtiël zeugte Serubbabel. Serubbabel zeugte Abihud. Abihud zeugte Eljakim. Eljakim zeugte Azor. Azor zeugte Zadok. Zadok zeugte Achim. Achim zeugte Eliud. Eliud zeugte Eleasar. Eleasar zeugte Mattan. Mattan zeugte Jakob. Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus.

Alle Geschlechter von Abraham bis zu David sind vierzehn Geschlech­ter. Von David bis zur babylonischen Gefangenschaft sind vierzehn Geschlechter. Von der babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus sind vierzehn Geschlechter.

Über diesen Text wollte ich schon immer gern mal predigen. Nein, im Ernst – ich meine das tatsächlich so! Natürlich ist das zunächst eine todlangweilige Aufzählung weitgehend unbekannter Namen. Und wenn man näher hinschaut, merkt man, dass sie noch nicht mal stimmt. Nicht nur, dass Lukas uns in seinem Evangelium einen ganz anderen Stammbaum Jesu präsentiert. Nein, er enthält auch offen­kun­dige Fehler. Wenn Sie mitgezählt hätten, würden sie festge­stellt haben, dass es von der babylonischen Gefangenschaft bis Christus nur dreizehn Generationen sind, nicht vierzehn – und das sind für knapp 600 Jahre deutlich zu wenig. Dafür kommt Mat­thäus zwi­schen König David und der babylonischen Gefangenschaft nur deshalb auf vierzehn Generationen, weil er vier Könige von Juda auslässt. Dann erscheinen in der Reihe der Könige von Juda auch noch der Psalmsänger Asaph und der Prophet Amos. Die haben da aber nichts verloren. Stattdessen müssten es die Kö­nige Asa und Amon sein. Entsprechend wird es in unseren Bibelausga­ben meistens korrigiert, aber im griechischen Original steht es nun mal anders.

Alles in allem handelt es sich also hier nicht um eine Ahnentafel, wie wir sie kennen. Matthäus schreibt nicht auf, was über die Vorfahren Jesu überliefert ist oder was genaue Nachforschung ergeben hat, sondern er gestaltet diesen Stammbaum bewusst so und nicht an­ders. Historische und mathematische Unstimmigkeiten nimmt er dafür gelassen in Kauf.

Aber gerade weil er das macht, wird diese endlose Aufzählung dann doch an einigen Punkten spannend – auch für uns.

Nehmen wir als erstes nur mal die beiden Namen, die da nicht hingehö­ren: Asaph und Amos. Das sind nicht einfach Schreib- oder Gedächtnisfehler, sondern diese Namen stehen für etwas: Amos ist der älteste Prophet, dessen Worte uns im Alten Testament schrift­lich überliefert sind. Und Asaph ist der Verfasser vieler Psalmen. Seine Familie gehörte zu den Sänger-Gilden, die über Generationen hinweg am Tempel von Jerusalem Dienst taten und die Gottes­dienste dort mit Gesang und Musik erfüllten. Den ersten Christen galten aber sowohl die Propheten als auch die Psalmen als Weis­sagungen, die sich in Jesus Christus erfüllt haben. Gerade Matthäus legt darauf besonderes Augenmerk. Also hat er wohl bewusst diese beiden in den Stammbaum Jesu gesetzt, um deutlich zu machen: die Tora, die Propheten, die Psalmen, die ganze Überlieferung Israels läuft auf Jesus Christus zu. In ihm erreicht sie ihr Ziel und ihre Erfüllung.

Noch spannender sind für mich die Frauen, die der Stammbaum erwähnt. Denn das war damals ganz und gar nicht üblich. Bei den Vorfahren zählten nur die Väter, nicht die Mütter. Hier werden aber zumindest einige Mütter benannt, und die haben zwei Dinge ge­mein­sam: Erstens sind sie alle keine Israelitinnen, und zweitens nehmen sie alle wegen besonderer Umstände ihr Schicksal selber in die Hand, statt es sich von den Männern vorgeben zu lassen.

Da ist erstens Tamar. Sie war der Überlieferung nach Kanaanäerin und mit Judas Sohn Ger verheiratet. Der starb früh und kinderlos, also sollte ihm nach damaliger Sitte sein Bruder Onan mit Tamar Nachkommen verschaffen. Der weigerte sich aber, was dem Herrn missfiel, so dass er ihn auch sterben ließ. Nun sollte Tamar warten, bis Judas jüngster Sohn Schela alt genug wäre. Das dauerte ihr aber zu lange. Also verkleidete sie sich und stellte sich an eine Straße, von der sie wusste, dass ihr frisch verwitweter Schwiegervater dort vorbeikom­men würde. Der sah sie auch, hielt sie plangemäß für eine Hure und schwängerte sie. Neun Monate später bekam sie Zwillinge, Perez und Serach. Immerhin war Juda so anständig, die Vaterschaft anzuerkennen, so dass Tamar nicht als Hure verbrannt wurde.

Dann ist da Rahab. Die war wirklich eine Hure in Jericho. Als Israel sich aufmachte, das Land Kanaan zu erobern, rettete sie zwei israeliti­sche Kundschafter, indem sie sie versteckte und dann aus der Stadt entkommen ließ. Zur Belohnung versprachen die Kundschaf­ter, dass ihr bei der Eroberung Jerichos kein Leid gesche­hen sollte. So kam es auch, und einer der beiden, Salmon, soll sie dann geheiratet haben.

Als nächstes Ruth, die Moabiterin. Aus Zuneigung folgte sie ihrer Schwiegermutter Noomi nach Bethlehem, nachdem Noomis Ehe­mann und ihre beiden Söhne gestorben waren. Dort fand sie mit Noomis Hilfe neues Glück an der Seite von Boas, der mit Noo­mis Mann verwandt war. Nach Matthäus wären Boas‘ Eltern Salmon und Rahab gewesen.

Und schließlich Batseba. Wie ihr erster Mann Uria, Offizier in König Davids Armee, galt sie als Hethiterin. Ich denke, ihre Geschichte ist bekannt: David sieht sie vom Dach seines Palastes beim Baden, wäh­rend ihr Mann an der Front ist. Er lässt sie kommen und macht ihr ein Kind. Und als er es nicht schafft, Uria das Kind unterzujubeln, sorgt er dafür, dass der den Krieg nicht überlebt. Die­ses erste Kind muss dann zwar zur Strafe sterben. Aber später wird Batseba die Mutter von Salomo und sorgt dafür, dass er Davids Nachfolger wird.

Das alles erzählt Matthäus nicht ausführlich, aber er und seine Leser kennen die Geschichten natürlich. Dadurch macht er zwei Dinge deutlich:

Erstens: Auch im Stammbaum Jesu finden sich Menschen „mit Migrati­onshintergrund“. Sie repräsentieren die Völker, denen die Sendung Jesu genauso gilt wie dem Volk Israel – so wie die Sterndeu­ter aus dem Osten, die der Stern nach Bethlehem führt. Ihnen allen, uns allen, gilt die Botschaft, dass Gott Mensch gewor­den ist.

Und zweitens: Auch im Stammbaum Jesu ging es menschlich-allzu­menschlich zu, manchmal sogar kriminell. Auch darin ist er nicht anders als wir. Noch bevor wir geboren werden, sind wir verstrickt in die Irrungen und Wirrungen der Menschheitsgeschichte. Noch bevor wir eigene Schuld auf uns laden, lastet auf uns die Schuld unse­rer Vorfahren – mal mehr, mal weniger. Auch da begibt sich Gott hinein, als er in Jesus Mensch wird, um uns davon frei zu ma­chen.

Und damit bin ich am spannendsten Punkt im Stammbaum Jesu, nämlich an seinem Ende. Bis dahin hieß es immer: a zeugte b, b zeugte c, c zeugte d. Nach diesem Muster müsste es am Ende hei­ßen: Jakob zeugte Josef, Josef zeugte Jesus. Aber hier formuliert Matthäus plötzlich anders: „Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus“. Und er sagt damit, dass dieser ganze lange Stammbaum über 42 Generationen – gar nicht der Stammbaum Jesu ist. Denn wenn Josef zwar der Mann von Jesu Mutter Maria war, aber diesen Jesus nicht gezeugt hat, dann war er nach Stammbaum-Logik auch nicht der Vater von Jesus, und seine Vorfahren waren nicht Jesu Vorfahren. Trotzdem wird Jesus „Christus“ genannt, der Gesalbte, der Messias, später im Evange­lium auch „Sohn Davids“. Und von dem stammte nun mal Josef ab und nicht Maria.

Wie das kommt, das sagt uns der nächste Abschnitt bei Matthäus, den wir eben als Schriftlesung gehört haben: Nachdem ein Engel Josef darüber aufgeklärt hat, was es mit dem Kind der Maria auf sich hat, verlässt er sie nicht heimlich, wie zuerst geplant, son­dern nimmt sie zu sich, heiratet sie und gibt dem Kind den Namen Jesus, wie es ihm der Engel aufgetragen hat. Das ist nichts anderes als eine Adoption: Josef nimmt Jesus an Sohnes statt an. Und nach damaliger Vorstellung, wird Jesus damit nicht nur rechtlich, sondern wirklich Josefs Kind, damit ein Nachfahre Davids und all der ande­ren, die da genannt werden, und damit Träger all der Veheißungen, die sich mit dem Haus David verbinden.

Wir Heutigen mögen das umständlich finden. Warum kann Jesus nicht einfach Josefs Kind sein, und fertig? Nun, für mich würde die Welt nicht untergehen, wenn Josef auch genetisch-biologisch der Vater Jesu gewesen wäre. Schließlich ist es ja nichts Schlimmes, ein Kind zu zeugen, und irgendwo musste Jesus sein y-Chromosom ja her haben. Aber hier bei Matthäus geht es um Theologie, nicht um Biologie. Hier geht es darum, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Gott begibt sich in Jesus mitten hinein in unsere irdischen Verhältnisse, einschließlich der Abfolge von Generationen, einschließlich all der Schuld und all dem Versagen, die damit verbunden sind. Aber weil Gott es ist, der sich dort hineinbegibt, werden die Verhältnisse zu­gleich durchbrochen. Er nimmt unsere Schuld und die Schuld unse­rer Vorfahren auf sich, aber nicht, um selbst da hinein verstrickt zu werden, sondern „um sein Volk zu retten von ihren Sünden“, wie der Engel den Namen Jesus deutet. Er macht uns frei von der Last unserer Geschichte, auch unserer eigenen, und lässt uns als freie Menschen seine Kinder sein – ganz ohne „Stammbaum“. Dafür sei er gelobt und gepriesen, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein