Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 2. Oktober 2022

GOTTESDIENST ZUM ERNTEDANKFEST

Text: Dtn 8,7-18

Der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darin Bä­che und Quellen sind und Wasser in der Tiefe, die aus den Bergen und in den Auen fließen, ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen, ein Land, darin es Ölbäume und Honig gibt, ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts mangelt, ein Land, in dessen Steinen Eisen ist, wo du Kupfer­erz aus den Bergen haust. Und wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn, deinen Gott, loben für das gute Land, das er dir gegeben hat. So hüte dich nun davor, den Herrn, deinen Gott, zu vergessen, sodass du seine Gebote und seine Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst. Wenn du nun gegessen hast und satt bist und schöne Häuser erbaust und darin wohnst und deine Rinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehrt, dann hüte dich, dass dein Herz sich nicht überhebt und du den Herrn, deinen Gott, vergisst, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft, und dich geleitet hat durch die große und furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser war, und ließ dir Wasser aus dem harten Fel­sen hervorgehen und speiste dich mit Manna in der Wüste, von dem deine Väter nichts gewusst haben, auf dass er dich demütigte und versuchte, damit er dir hernach wohltäte. Du könntest sonst sagen in deinem Herzen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir diesen Reichtum gewonnen. Sondern gedenke an den Herrn, deinen Gott; denn er ist’s, der dir Kräfte gibt, Reichtum zu gewinnen, auf dass er hielte seinen Bund, den er deinen Vätern geschworen hat, so wie es heute ist.

Ich greife mir aus diesem langen Text erstmal einen Kernsatz her­aus: „Wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn, dei­nen Gott, loben.“Wenn wir das hören oder lesen, könnten wir auf den Gedanken kommen, dass wir bei unseren kirchlichen Veran­staltun­gen etwas falsch machen. Denn wir stellen das Gottes­lob in der Regel an den Anfang, und erst dann wird gegessen und ge­trunken. Erst kommt der Gottesdienst oder die „geistliche Besin­nung“, dann gibt es den Kaffee, die Grillwurst, das Salatbuffet oder den Kuchen. Denn wir kennen uns ja: Ist der Bauch erst gut gefüllt, fällt das Singen schwer. Sind die fröhlichen Tischge­spräche erst im Gang, findet man nur mühsam zu Andacht und Ruhe zurück. Und wenn die Verdauungs-Müdigkeit einsetzt, kann man auch nicht mehr so konzentriert zuhören. Also verfahren wir nach dem alten deutschen Motto: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Nur: Wo steht geschrieben, dass Gottesdienste und Andachten in diesem Sin­ne „Arbeit“ und „Pflicht“ sind und nicht auch das pure Vergnügen sein können?

Aber wahrscheinlich kommt der Gottesdienst bei uns nur deshalb vor dem Essen, weil wir in einem sehr satten Land leben. Denn über­große Sättigung mag das Gotteslob dämpfen und matter klingen lassen, aber ein hungriger Bauch macht es – fast – unmög­lich. Wie soll ich singen „Er gibet Speise reichlich und überall“, wenn mir der Magen knurrt? Wie fühlt sich wohl ein Hartz-IV-Ge­schädigter, wenn er ein fröhlich-gedankenloses „Danke für meine Arbeitsstelle“ hört? Kann einer, der um einen lieben Menschen trau­ert, ohne Weiteres mit einstimmen, wenn es heißt: „In dir ist Freude in allem Leide“? Wohl kaum!

Deshalb hat Dietrich Bonhoeffer sinngemäß gesagt: Wenn ihr wollt, dass das Evangelium von Gottes Liebe bei den Menschen ankommt, dann müsst ihr dem Evangelium den Weg bereiten. Ihr müsst die Menschen erst in die Lage versetzen, dass sie diese Botschaft über­haupt hören und annehmen können. Also dafür sorgen, soweit es in euren Kräften steht, dass die Hungrigen satt werden, dass die Ar­beitslosen Arbeit bekommen, dass die Trauernden getröstet wer­den. Erst dann können sie Gott für seine Güte loben und preisen. Und natürlich hoffe ich auch, dass sich für uns selber jemand findet, der uns den Weg bereitet, auf dem Gott zu uns kommen kann, wenn wir es nötig haben.

Wenn wir dann allerdings gegessen haben und satt sind, wenn es uns gut geht an Leib und Seele, dann sollte das entsprechende Lob Gottes selbstverständlich sein und ganz von allein kommen. Nur tut es das leider nicht. Wenn wir rundum satt und zufrieden sind, dann sind wir zu träge dazu, und wenn es uns schlechter geht oder zu gehen droht, dann fangen wir an zu jammern und den Teufel an die Wand zu malen.

Wir Deutschen sind darin zurzeit mal wieder besonders gut. Klar, die hohen Energiepreise machen vielen zu schaffen – besonders denen, die eh schon knapp dran sind. Aber die große Mehrheit wird höchstens auf ein bisschen Luxus und Kom­fort verzichten müssen. Und wer jetzt schon davon redet, dass wir im Winter alle frieren, das Brot nicht mehr bezahlen können und Volksaufstände erleben werden, der schürt unnötig Ängste und hat, glaube ich, von wirk­licher Not keine Ahnung.

Deshalb hier noch einmal der Kernsatz aus dem Text im vollen Wort­laut: „Wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn, deinen Gott, loben für das gute Land, das er dir gegeben hat.“Und in den Versen vorher wird dieses gute Land beschrieben: sein Wasser­reichtum, seine Fruchtbarkeit, sein Wohlstand, seine Boden­schätze. Gemeint ist das Land Kanaan, aber es passt auf unser Land mindes­tens genauso gut. Und es ließe sich noch manches hinzufü­gen: Seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert haben wir keinen Krieg erlebt, und auch jetzt betrifft er uns nur indirekt. Morgen ist ganz Deutschland seit 32 Jahren friedlich vereint. Wir leben in gro­ßer Freiheit in einer stabilen Demokratie – und wer das nicht zu schät­zen weiß und über unsere Politiker nur schimpfen kann, der möge sich mal vorstellen, er würde von Wladimir Putin regiert oder von den Taliban oder auch nur von Typen wie Viktor Órban oder Jaïr Bolsonaro. Das Leben hierzulande war noch nie so sicher, und an­ders, als viele meinen, nimmt die Zahl der schweren Gewaltdelikte nicht zu, sondern ab. Wir haben alle Möglichkeiten, uns fit zu hal­ten, uns ausgewogen zu ernähren und medizinisch versorgt zu wer­den, so dass wir lange und gesund leben können. Die Bildungschan­cen und Berufsaussichten für unseren Nachwuchs waren noch nie so gut. Und auch wenn unser Wohlstand den Gipfel fürs erste über­schrit­ten hat, sind wir immer noch ein sehr reiches Land, das gut gerüstet ist für die Krisen, die gerade über uns kommen.

Klingt Ihnen diese Aufzählung zu sehr nach Schönfärberei? Nun, ich hätte es natürlich anders machen können. Ich hätte auch all die satt­sam bekannten Probleme aufzählen können, die uns und die ganze Welt beschäftigen. Es gibt sie, sie machen uns Sorgen, und etliche davon haben wir viel zu lange verdrängt. Wohl wahr. Aber heute ist Erntedank. Heute geht es nicht darum, Gott unsere Nöte zu klagen, sondern nicht zu vergessen, was er uns Gutes getan hat. Dafür ha­ben wir allen Grund, und ich finde, das musste heute mal gesagt werden.

Damit ist aber auch schon klar, wie es nicht sein soll – nämlich so, wie es auch in unserem Predigttext steht: „Du könntest sagen in deinem Herzen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir diesen Reichtum gewonnen.“ Wenn unser Land so positiv geschil­dert wird, wie ich es eben getan habe, dann hat es ja oft diesen Unter­ton: Wir haben das geschafft, dass es uns so gut geht. Wir bzw. unsere Eltern haben nach dem Krieg die Ärmel hochgekrem­pelt und das zerstörte Land wieder aufgebaut. Und dass wir nun so dastehen, das liegt an unserem Fleiß und unserer Tüchtigkeit, auch an den Lehren, die wir aus der Vergangenheit gezogen haben. Wenn es uns gut geht, dann haben wir das also verdient, und wir müssen es verteidigen – gegen „Wohlstands-Flüchtlinge“ und „Sozial-Touris­ten“, gegen „Begehrlichkeiten“ aller Art.

Aber ist das wirklich so? Ist unser Wohlergehen unser Verdienst? Was können wir denn dafür, dass wir in einem Land leben, das von der Natur, oder sagen wir ruhig: vom Schöpfer so gesegnet ist, das – noch – ein gemäßigtes Klima hat, fruchtbare Böden, genügend Was­ser und viel mehr Bodenschätze als Kanaan damals? Was können wir Heutigen dafür, dass uns nun zugutekommt, was Generationen vor uns aufgebaut und erwirtschaftet haben? Was können wir für die günstigen Umstände der Geschichte, die uns so lange Ruhe und Frieden beschert haben? Warum sollten wir ein größeres Recht auf Glück haben als die Ukrainer oder die Afghanen?

Also, Deutschland, „hüte dich“ genau wie Israel damals, „dass du dich nicht überhebst und den Herrn, deinen Gott, vergisst! … Denn er ist’s, der dir Kräfte gibt, Reichtum zu gewinnen.“ Aber leider passiert gerade genau das. Unser Land ist dabei, Gott zu vergessen. Viele ha­ben es längst getan. Auch die, die noch was von Gott wis­sen, le­ben, als ob es ihn nicht gäbe. Und wir als Kirche schaffen es offenbar nicht, das zu ändern, obwohl wir uns große Mühe geben, unsere Botschaft zeitgemäß zu verpacken. Denn vielen fehlt schlicht die Antenne dafür. Wir sind für sie unglaubwürdig geworden, und das teils durch eigenes Verschulden.

Kann sich das nochmal ändern? Auch das liegt letztlich nicht in unse­rer Hand. Gut möglich, dass uns als Kirche noch eine lange Wüs­tenwan­derung bevorsteht, bevor wir wieder ins Gelobte Land kommen. Aber unserem Gott dürfen wir zutrauen, dass er uns dahin bringt. Er kann uns in der Wüste der Gottvergessenheit am Leben halten und uns dorthin führen, wo sein Wort wieder auf fruchtbaren Boden fällt. Das hat er uns versprochen.

Bis es soweit ist, können wir, wie vorhin schon gesagt, nichts Besseres tun, als unserem Gott den Weg zu bereiten, indem wir Menschen in Not beistehen, so gut es geht. Und wir können Gott für seine guten Gaben preisen – auch stellvertretend für die vielen, denen das nicht mehr in den Sinn kommt. Wir können unter uns das Bewusstsein wach halten, dass wir von seiner Treue und Barm­herzigkeit leben. Und hier und da wird es auch Menschen ge­ben, die sich davon anstecken lassen und selber wieder dankbar werden für das, was Gott uns schenkt. Anlass dafür besteht jedenfalls immer. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein