Gottesdienst für den Sonntag Estomihi
Text: Amos 5,21-24.27
Stellen Sie sich vor, wir feiern einen festlichen Gottesdienst – sagen wir: den Gottesdienst zum Weihnachtsmarkt. In den Bänken wird es eng, sogar die Empore ist gut gefüllt. Die Sonne scheint herein und taucht die Talkirche in ein freundliches Licht. Alle sind gespannt, was die prominente Gastpredigerin zu sagen hat, sind gut gelaunt und freuen sich auf einen schönen, erbaulichen Vormittag. Beim Vorspiel zeigt der Organist, was die Orgel hergibt. Nach der Begrüßung singt der Chor, vielleicht spielen auch Bläser mit. Alle haben fleißig geübt und tun ihr Bestes zur Ehre Gottes und zur Freude der Gemeinde. Die will da natürlich nicht zurückstehen und singt beim ersten Lied kräftig und fröhlich mit. Die Eingangsliturgie nimmt ihren Lauf. Der Wochenpsalm wird gesprochen, und nach dem Gebet will der Pastor gerade Amen sagen, da ruft plötzlich jemand: „Halt, hört auf damit!“
Der Pastor guckt verdutzt, alle drehen sich um oder beugen sich über die Emporenbrüstung, um zu sehen, was da los ist. Der Mann, der jetzt irgendwo aus den hinteren Bankreihen in den Mittelgang tritt, ist fremd in Geisweid. Niemand kennt ihn, niemand weiß, wo er herkommt. Was will der hier, und was hat er bloß? Aber noch bevor irgendwer diese verwirrten Fragen sortieren kann, beginnt der Mann mit erhobener Stimme zu sprechen:
„Hört auf! Gott hasst eure Gottesdienste, und eure Feste kann er nicht ausstehen. Eure Kollekten sind ihm egal, und er pfeift auf eure großzügigen Spenden. Lasst ihn in Ruhe mit eurer ewigen Singerei! Euer Getröte und Gedudel geht ihm auf die Nerven. Geht lieber nach Hause und setzt euch für eure Mitmenschen ein: Besucht die Einsamen, kümmert euch um die Kranken, verteidigt die, denen Unrecht geschieht, lindert mit eurem Geld die Not der Ärmsten, statt es für teure Technik oder Renovierungen rauszuschmeißen! Aber weil ihr das ja sowieso nicht tun werdet, wird Gott euch strafen: Immer mehr Leute werden euch wegsterben und aus der Kirche austreten, ihr werdet immer weniger Kirchensteuern einnehmen, ihr werdet auf Pfarrer und anderes Personal verzichten und noch mehr Kirchen aufgeben müssen, bis ihr nur noch ein kleines, vergessenes Häuflein seid, das wehmütig den alten Zeiten nachtrauert. Wundert euch nicht, wenn es so kommt, denn ihr habt es nicht besser verdient!“
Im Kirchenschiff ist es totenstill nach diesem Auftritt. Für einen Moment sind alle geschockt, und mancher denkt darüber nach, ob der Mann nicht womöglich Recht hat. Aber dann bricht sich doch die Entrüstung Bahn: „Das ist ja wohl der Gipfel! Wie kann der sich nur so aufblasen? Wie kann der sich einfach hier rein schleichen und unseren Gottesdienst stören? Er ist ja noch nicht mal von hier! Wie kann er sich da herausnehmen, über uns zu Gericht zu sitzen, und das auch noch im Namen Gottes? Er kann doch gar nicht beurteilen, ob das wahr ist, was er uns vorwirft! Der gehört bestimmt zu einer Sekte, zu irgend so einem Verein von fundamentalistischen Spinnern, die glauben, dass sie die Wahrheit für sich gepachtet haben.“ Dann befördern Küster und Presbyter den Störenfried höflich aber bestimmt hinaus und erteilen ihm für die Zukunft Hausverbot. Eine Zeitlang ist der Vorfall noch Gemeinde- und Stadtgespräch. „Rausschmiss aus dem Gottesdienst – So geht die Kirche mit ihren Kritikern um“, schreibt die führende Lokalzeitung und bekommt dazu viele Leserbriefe. Aber keine Aufregung währt ewig. Schon bald passiert der nächste Skandal, und die ganze Affäre gerät in Vergessenheit.
Aber jetzt kommt’s: Was wäre, wenn der Mann tatsächlich im Namen Gottes reden würde? Wenn er ein Prophet wäre, wie Amos einer war? Von dem sind uns nämlich ganz ähnliche Worte überliefert, und sie sind heute Predigttext:
Ich hasse und verachte eure Feste
und mag eure Versammlungen nicht riechen.
An euren Speisopfern habe ich kein Gefallen,
und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an.
Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder;
denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Es ströme aber das Recht wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Und ich will euch wegführen lassen bis jenseits von Damaskus,
spricht der Herr, der Gott Zebaoth heißt.
Das steht heute in der Bibel. Deshalb gehen wir davon aus, dass Amos recht hatte, als er die Opfergottesdienste im Reichsheiligtum zu Bethel verurteilte. Die Israeliten, zu denen er sprach, sind für uns herzlose Heuchler: feiern prächtige Gottesdienste, aber kümmern sich nicht um die Not der Armen. Dagegen gilt uns der Prophet Amos als mutiger Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit und für Gottes Gebot. Damals jedoch war diese Rollenverteilung keineswegs klar. Die Menschen im Heiligtum von Bethel waren genauso überzeugt, Gottesdienst zur Ehre Gottes zu feiern, wie wir das sind. Sie hielten sich bestimmt mit nicht weniger Recht für anständige Menschen, als wir das heute tun. Und als der Priester Amazja Amos aus Bethel nach Juda, in sein Herkunftsland abschob, da war er überzeugt, im Namen Gottes zu handeln.
Könnten die Worte des Amos also auch uns gelten, der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Klafeld im Jahre 2024 nach Christus? Geschähe uns Recht mit einer solchen Strafpredigt? Wir sollten es uns mit der Antwort nicht zu leicht machen!
Natürlich gibt es vieles, wofür wir als Gemeinde froh und dankbar sein können: für die vielen Ehrenamtlichen mit ihren vielfältigen Gaben, für das, was sie alles auf die Beine stellen vom Weihnachtsmarkt bis zur Kibiwo, für den guten Zusammenhalt, für die solide Basis, auch was Gebäude und Finanzen angeht. Wer schon Gemeinden erlebt hat, in denen es das alles kaum oder gar nicht gibt, weiß diese Dinge sehr zu schätzen. Und ich denke, dass sich auch Gott darüber freut.
Aber wenn an den Worten des Amos etwas dran ist, dann ist auch die erfolgreichste Gemeindearbeit kein sanftes Ruhekissen. Man kann sich wohl fühlen damit, vieles für sich mitnehmen und sich vielfältig einsetzen – das ist wahr und das ist ein Grund zur Freude. Aber es steckt auch immer eine Gefahr darin. Die Gefahr nämlich, dass die, die drin und dabei sind, sich so wohl fühlen und so beschäftigt sind, dass sie gar nicht mehr an die denken, die draußen sind. Und das sind nicht wenige, sondern es ist der Großteil unserer Gemeindeglieder – von all den anderen, die um uns herum leben, ganz zu schweigen. Haben wir uns damit abgefunden, weil es ja immer so war und immer so bleiben wird, oder treibt es uns noch um?
Es gibt zum Beispiel viele alte Menschen, die krank und einsam sind, und es werden immer mehr. Etliche von ihnen haben sogar einmal dazugehört, kamen zum Gottesdienst, waren im Chor oder in der Frauenhilfe, aber jetzt sind sie draußen. Denken wir an sie? Werden wir auf sie aufmerksam, wenn sie in unserer Nähe wohnen? Können wir uns um sie kümmern, und wenn ja, wie?
Ein zweites Beispiel: Wir haben in unserer Gemeinde, verteilt auf zwei Jahrgänge immer noch gut 70 Konfirmanden. Und es gibt in Geisweid und drum herum fünf evangelische Kindertagesstätten, in denen über 250 Kinder betreut werden. Viele der Konfis und viele der jungen Familien haben mit Kirche nicht wirklich was am Hut. Aber vielleicht ändern sie ihre Meinung, wenn sie merken, dass sie uns willkommen sind, dass wir bereit sind auf ihre Fragen, ihre Bedürfnisse einzugehen, auch wenn es andere sind als unsere, so dass sie bei uns einen Platz zum Dabeisein und Mitmachen finden. Sind wir dafür offen? Tun wir genug dafür? Oder regen wir uns nur gern auf über Konfis, die sich in der Kirche nicht benehmen können – und sind ganz froh, wenn die jungen Familien sich in der „Kirche kunterbunt“ tummeln, uns aber am Sonntagmorgen in Frieden lassen (wenn nicht gerade Taufe ist wie heute)?
Drittes und letztes Beispiel: Wir haben als Kirche immer auch einen gesellschaftlichen Auftrag. Viele erwarten Orientierung von uns: Stellungnahmen zu aktuellen Problemen und vor allem entsprechendes Handeln. Wir mögen uns damit überfordert fühlen und es deshalb gern den Hauptamtlichen und den Experten überlassen, aber wir können trotzdem nicht daran vorbei. Trauen wir uns noch, in Streitfragen eine christlich fundierte Position zu beziehen, auch wenn wir dafür Prügel einstecken? Nehmen wir unser Stück Verantwortung für die Geschicke dieser Welt wahr, auch wenn es vielleicht nur ein sehr kleines Stück ist?
Das sind nur Fragen ohne fertige Antworten. Und wir tun ja auch schon einiges, um Menschen zu erreichen, die wir bisher nicht erreicht haben – beim Mittagstisch zum Beispiel oder eben bei der „Kirche kunterbunt“. Aber ich finde, wir müssen weiter darüber nachdenken, und das immer wieder. Wir werden nie alle Probleme lösen und alle Not beenden können, nicht einmal dann, wenn wir nur an unsere engste Umgebung denken. Wir werden es auch nie erreichen, dass alle unsere Gemeindeglieder sich auch am Gemeindeleben beteiligen. Aber auch wenn wir im Kleinen anfangen, können wir viel bewegen. Mit einem „wir können doch eh nichts ändern“ gibt Gott sich jedenfalls nicht zufrieden. Wenigstens das sollten wir uns von Amos hinter die Ohren schreiben lassen.
Bevor ich meine Predigt beende, muss ich allerdings noch ein mögliches Missverständnis ausräumen. Durch die Worte des Amos könnten wir versucht sein, Gottesdienst und Dienst am Menschen gegeneinander auszuspielen nach dem Motto: Gerechtigkeit statt Gottesdienst, Arbeiten statt Beten. Aber das wäre falsch. Im Gegenteil: Je mehr wir unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen wahrnehmen, desto dringender brauchen wir den Gottesdienst. Denn wir müssen ja irgendwo Kraft schöpfen für das, was wir tun. Wir brauchen Vergebung für das, was wir falsch machen. Und wir brauchen die Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitchristen, die uns Halt gibt. Sonst wird unser Handeln blinder Aktionismus, und uns wird bald die Puste ausgehen. Damit ist keinem geholfen. Gottesdienst und Dienst am Menschen gehören zusammen wie Einatmen und Ausatmen. Also ist es gut, wenn wir auch weiterhin schöne Gottesdienste feiern – mit Wort und Sakrament, mit Musik und mit Stille, mit Reden und mit Hören, mit Ernst und mit Freude. Und wenn wir das ausgiebig getan haben, dann können wir uns frisch gestärkt dorthin wenden, wo Menschen uns brauchen. Gott segne uns dabei. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein