Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 11. Februar 2024

Gottesdienst für den Sonntag Estomihi

Text: Amos 5,21-24.27

Stellen Sie sich vor, wir feiern einen festlichen Gottesdienst – sagen wir: den Gottesdienst zum Weihnachtsmarkt. In den Bänken wird es eng, sogar die Empore ist gut gefüllt. Die Sonne scheint herein und taucht die Talkirche in ein freundliches Licht. Alle sind gespannt, was die prominente Gastpredigerin zu sagen hat, sind gut ge­launt und freuen sich auf einen schönen, erbaulichen Vor­mittag. Beim Vor­spiel zeigt der Organist, was die Orgel hergibt. Nach der Be­grüßung singt der Chor, vielleicht spielen auch Blä­ser mit. Alle haben fleißig geübt und tun ihr Bestes zur Ehre Gottes und zur Freude der Gemeinde. Die will da natürlich nicht zu­rückstehen und singt beim ersten Lied kräf­tig und fröhlich mit. Die Eingangsliturgie nimmt ihren Lauf. Der Wochen­psalm wird gesprochen, und nach dem Gebet will der Pa­stor gerade Amen sagen, da ruft plötzlich jemand: „Halt, hört auf damit!“

Der Pastor guckt verdutzt, alle drehen sich um oder beugen sich über die Emporenbrüstung, um zu sehen, was da los ist. Der Mann, der jetzt irgendwo aus den hinteren Bankreihen in den Mittelgang tritt, ist fremd in Geisweid. Niemand kennt ihn, niemand weiß, wo er her­kommt. Was will der hier, und was hat er bloß? Aber noch bevor ir­gendwer diese ver­wirrten Fragen sortieren kann, beginnt der Mann mit erho­bener Stimme zu sprechen:

„Hört auf! Gott hasst eure Gottes­dienste, und eure Feste kann er nicht ausstehen. Eure Kollekten sind ihm egal, und er pfeift auf eure groß­zügigen Spenden. Lasst ihn in Ruhe mit eurer ewigen Singerei! Euer Getröte und Gedudel geht ihm auf die Nerven. Geht lieber nach Hause und setzt euch für eure Mitmenschen ein: Besucht die Einsa­men, küm­mert euch um die Kranken, verteidigt die, denen Unrecht ge­schieht, lindert mit eurem Geld die Not der Ärmsten, statt es für teure Technik oder Renovierungen rauszuschmeißen! Aber weil ihr das ja sowieso nicht tun wer­det, wird Gott euch strafen: Immer mehr Leute werden euch wegsterben und aus der Kirche aus­treten, ihr wer­det immer weniger Kirchen­steuern einnehmen, ihr werdet auf Pfarrer und anderes Personal ver­zichten und noch mehr Kirchen aufgeben müs­sen, bis ihr nur noch ein kleines, vergessenes Häuflein seid, das wehmütig den alten Zeiten nach­trauert. Wundert euch nicht, wenn es so kommt, denn ihr habt es nicht besser verdient!“

Im Kirchenschiff ist es totenstill nach diesem Auftritt. Für einen Moment sind alle ge­schockt, und mancher denkt dar­über nach, ob der Mann nicht womöglich Recht hat. Aber dann bricht sich doch die Entrüstung Bahn: „Das ist ja wohl der Gipfel! Wie kann der sich nur so aufblasen? Wie kann der sich einfach hier rein schleichen und unse­ren Gottes­dienst stören? Er ist ja noch nicht mal von hier! Wie kann er sich da herausnehmen, über uns zu Gericht zu sitzen, und das auch noch im Namen Gottes? Er kann doch gar nicht beurteilen, ob das wahr ist, was er uns vorwirft! Der gehört bestimmt zu einer Sekte, zu irgend so einem Verein von fundamentalistischen Spinnern, die glau­ben, dass sie die Wahrheit für sich gepachtet haben.“ Dann befördern Küster und Presbyter den Störenfried höflich aber be­stimmt hinaus und erteilen ihm für die Zukunft Hausverbot. Eine Zeitlang ist der Vorfall noch Gemeinde- und Stadt­gespräch. „Raus­schmiss aus dem Gottesdienst – So geht die Kirche mit ihren Kriti­kern um“, schreibt die führende Lokalzeitung und bekommt dazu viele Leserbriefe. Aber keine Aufregung währt ewig. Schon bald pas­siert der nächste Skandal, und die ganze Affäre gerät in Verges­sen­heit.

Aber jetzt kommt’s: Was wäre, wenn der Mann tatsächlich im Na­men Gottes reden würde? Wenn er ein Prophet wäre, wie Amos einer war? Von dem sind uns nämlich ganz ähnliche Worte überliefert, und sie sind heute Predigttext:

Ich hasse und verachte eure Feste
und mag eure Versammlungen nicht riechen.
An euren Speisopfern habe ich kein Gefallen,
und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an.
Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder;
denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Es ströme aber das Recht wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Und ich will euch wegführen lassen bis jenseits von Damaskus,
spricht der Herr, der Gott Zebaoth heißt.

Das ste­ht heute in der Bibel. Deshalb gehen wir davon aus, dass Amos recht hatte, als er die Opfergottesdienste im Reichsheiligtum zu Bethel verurteilte. Die Israeliten, zu denen er sprach, sind für uns herzlose Heuchler: feiern präch­tige Got­tesdienste, aber kümmern sich nicht um die Not der Armen. Dagegen gilt uns der Prophet Amos als mutiger Kämpfer für Recht und Ge­rechtigkeit und für Gottes Gebot. Damals jedoch war diese Rollen­verteilung keineswegs klar. Die Menschen im Heiligtum von Bethel waren genauso überzeugt, Got­tesdienst zur Ehre Gottes zu feiern, wie wir das sind. Sie hielten sich bestimmt mit nicht weniger Recht für anständige Men­schen, als wir das heute tun. Und als der Priester Amazja Amos aus Bethel nach Juda, in sein Herkunftsland abschob, da war er überzeugt, im Namen Gottes zu handeln.

Könnten die Worte des Amos also auch uns gelten, der Evangeli­sch-Reformierten Kirchengemeinde Klafeld im Jahre 2024 nach Chris­tus? Geschähe uns Recht mit einer solchen Strafpredigt? Wir sollten es uns mit der Antwort nicht zu leicht ma­chen!

Natürlich gibt es vieles, wofür wir als Gemeinde froh und dankbar sein können: für die vielen Ehrenamtlichen mit ihren vielfälti­gen Gaben, für das, was sie alles auf die Beine stellen vom Weihnachts­markt bis zur Kibiwo, für den guten Zusammenhalt, für die solide Ba­sis, auch was Gebäude und Finanzen angeht. Wer schon Gemein­den erlebt hat, in denen es das alles kaum oder gar nicht gibt, weiß diese Dinge sehr zu schätzen. Und ich denke, dass sich auch Gott darüber freut.

Aber wenn an den Worten des Amos etwas dran ist, dann ist auch die erfolgreichste Gemeindearbeit kein sanftes Ruhekissen. Man kann sich wohl fühlen damit, vieles für sich mitnehmen und sich vielfältig einset­zen – das ist wahr und das ist ein Grund zur Freude. Aber es steckt auch immer eine Gefahr darin. Die Gefahr nämlich, dass die, die drin und dabei sind, sich so wohl fühlen und so be­schäftigt sind, dass sie gar nicht mehr an die denken, die draußen sind. Und das sind nicht wenige, sondern es ist der Großteil unserer Gemeinde­glieder – von all den anderen, die um uns herum leben, ganz zu schweigen. Haben wir uns damit abgefunden, weil es ja im­mer so war und immer so bleiben wird, oder treibt es uns noch um?

Es gibt zum Beispiel viele alte Menschen, die krank und ein­sam sind, und es werden immer mehr. Etliche von ihnen haben sogar einmal dazugehört, kamen zum Gottesdienst, waren im Chor oder in der Frauenhilfe, aber jetzt sind sie draußen. Denken wir an sie? Wer­den wir auf sie aufmerksam, wenn sie in un­serer Nähe woh­nen? Können wir uns um sie kümmern, und wenn ja, wie?

Ein zweites Beispiel: Wir haben in unserer Gemeinde, ver­teilt auf zwei Jahrgänge immer noch gut 70 Konfirmanden. Und es gibt in Geisweid und drum herum fünf evangelische Kindertagesstätten, in denen über 250 Kin­der betreut werden. Viele der Konfis und viele der jungen Familien haben mit Kirche nicht wirk­lich was am Hut. Aber vielleicht ändern sie ihre Meinung, wenn sie merken, dass sie uns willkommen sind, dass wir bereit sind auf ihre Fragen, ihre Be­dürfnisse einzugehen, auch wenn es andere sind als unsere, so dass sie bei uns einen Platz zum Dabeisein und Mitmachen finden. Sind wir dafür offen? Tun wir genug dafür? Oder regen wir uns nur gern auf über Konfis, die sich in der Kirche nicht benehmen können – und sind ganz froh, wenn die jungen Familien sich in der „Kirche kunter­bunt“ tummeln, uns aber am Sonntagmorgen in Frieden lassen (wenn nicht gerade Taufe ist wie heute)?

Drittes und letztes Beispiel: Wir haben als Kirche immer auch einen gesellschaftlichen Auf­trag. Viele erwarten Orientierung von uns: Stellungnahmen zu aktuel­len Problemen und vor allem entsprechen­des Han­deln. Wir mögen uns damit überfordert fühlen und es deshalb gern den Hauptamtli­chen und den Experten überlassen, aber wir kön­nen trotz­dem nicht daran vor­bei. Trauen wir uns noch, in Streit­fragen eine christlich fundierte Position zu beziehen, auch wenn wir dafür Prügel einstecken? Nehmen wir un­ser Stück Verantwortung für die Geschi­cke dieser Welt wahr, auch wenn es vielleicht nur ein sehr kleines Stück ist?

Das sind nur Fragen ohne fertige Antworten. Und wir tun ja auch schon einiges, um Menschen zu erreichen, die wir bisher nicht er­reicht haben – beim Mittagstisch zum Beispiel oder eben bei der „Kirche kunterbunt“. Aber ich finde, wir müssen weiter darüber nachdenken, und das immer wieder. Wir werden nie alle Probleme lösen und alle Not beenden können, nicht einmal dann, wenn wir nur an unsere engste Umgebung denken. Wir werden es auch nie errei­chen, dass alle unsere Gemeindeglieder sich auch am Gemeindeleben beteiligen. Aber auch wenn wir im Klei­nen anfan­gen, kön­nen wir viel bewegen. Mit einem „wir können doch eh nichts ändern“ gibt Gott sich jedenfalls nicht zufrieden. Wenigs­tens das sollten wir uns von Amos hinter die Ohren schreiben lassen.

Bevor ich meine Predigt beende, muss ich allerdings noch ein mögli­ches Missverständnis ausräumen. Durch die Worte des Amos könn­ten wir versucht sein, Gottesdienst und Dienst am Menschen ge­gen­einander auszuspielen nach dem Motto: Gerechtigkeit statt Got­tes­dienst, Arbeiten statt Beten. Aber das wäre falsch. Im Gegenteil: Je mehr wir unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen wahr­neh­men, desto dringender brauchen wir den Gottesdienst. Denn wir müs­sen ja irgendwo Kraft schöpfen für das, was wir tun. Wir brau­chen Vergebung für das, was wir falsch machen. Und wir brauchen die Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitchristen, die uns Halt gibt. Sonst wird unser Handeln blinder Aktionismus, und uns wird bald die Puste ausgehen. Damit ist keinem geholfen. Gottesdienst und Dienst am Menschen gehören zusammen wie Einatmen und Ausat­men. Also ist es gut, wenn wir auch weiterhin schöne Gottes­dienste feiern – mit Wort und Sakrament, mit Musik und mit Stille, mit Re­den und mit Hören, mit Ernst und mit Freude. Und wenn wir das ausgiebig getan haben, dann können wir uns frisch gestärkt dort­hin wenden, wo Men­schen uns brauchen. Gott segne uns dabei. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein