Gottesdienst für den fünften Sonntag nach Trinitatis
Text: Joh 1,35-51
Der Predigttext bewegt mich, mit einer Frage zu beginnen: Wie wird, wie bleibt man eigentlich eine einladende Gemeinde? Ich setze dabei voraus, dass auch die Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde Klafeld eine Gemeinde sein will, in die Menschen sich gern einladen lassen. Und ich hebe auch gern hervor, dass wir auf diesem Gebiet nicht die Schlechtesten sind. Viele empfinden zum Beispiel die „Guten-Abend-Kirche“ oder die „Kirche kunterbunt“ als einladendes Angebot und nehmen es auch wahr, andere kommen über den Mittagstisch oder über die Konfirmandenarbeit zu uns. Und es gibt immer wieder Leute, die Kontakt zu uns finden, sich bei uns wohlfühlen und dann auch an der einen oder anderen Stelle mitarbeiten – in der Jugendarbeit zum Beispiel oder auch beim Reparatur-Treff.
Soweit, so erfreulich. Aber es gibt auch Dinge, die uns immer sehr wichtig waren, bei denen es mit der Einladung nicht mehr so funktioniert. Ich denke zum Beispiel immer noch, dass es Christen guttut, wenn sie regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen und nicht nur, wenn was Besonderes los ist. Aber die Zahl der treuen Kirchgänger schrumpft ständig. Überhaupt bin ich überzeugt, dass die Glaubens-Gemeinschaft einfach zum Glauben dazugehört. Aber auch das sehen viele nicht mehr so. „Ich kann auch für mich allein an Gott glauben“, heißt es dann. Oder: „Ich glaub ja an Gott, aber die Kirche brauche ich dafür nicht – und deshalb trete ich aus.“
Da ertappe ich mich schon mal bei dem Gedanken, ob ich die Leute eigentlich immer mit irgendwas ködern muss – mit Spiel und Spaß, mit Kaffee und Kuchen oder auch nur mit einer Unterschrift auf dem Konfi-Pass –, damit sie dafür in Kauf nehmen, anderen Christen zu begegnen und mit der Bibel und den wesentlichen Inhalten unseres Glaubens konfrontiert zu werden. Natürlich tue ich mit diesen Gedanken vielen Leuten Unrecht. Und so ohne weiteres lässt sich das „Eigentliche“ ja auch nicht vom „Uneigentlichen“ trennen. So freudlos und muffig, wie Kirche früher oft rübergekommen ist, soll sie wahrlich nicht wieder werden. Aber trotzdem: Die Frage ist da, und vielleicht ja nicht nur bei mir. Deshalb möchte ich das mit der einladenden Gemeinde noch etwas genauer klären und drei Fragen stellen:
1. Wozu laden wir eigentlich ein?
2. Wer lädt wen ein?
3. Was haben wir den Eingeladenen zu bieten?
Wenn wir diese Fragen beantworten können, sind wir, glaube ich, ein gutes Stück weiter. Und der heutige Predigttext kann uns dabei helfen. Er steht in Johannes 1 und lautet folgendermaßen:
Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: „Was sucht ihr?“ Sie aber sprachen zu ihm: „Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo ist deine Herberge?“ Er sprach zu ihnen: „Kommt und seht!“ Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.
Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden“, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: „Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen“, das heißt übersetzt: Fels.
Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: „Folge mir nach!“ Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus.
Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: „Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth.“ Und Nathanael sprach zu ihm: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen!“ Philippus spricht zu ihm: „Komm und sieh!“ Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: „Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist.“ Nathanael spricht zu ihm: „Woher kennst du mich?“ Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen.“ Nathanael antwortete ihm: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!“ Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das.“ Und er spricht zu ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.“
Soweit der Text. Und nun nochmal die erste er drei Fragen: Wozu laden wir eigentlich ein?
Ist doch klar, könnte man denken. Wir wollen, dass mehr Menschen einen Platz in unserer Gemeinde finden. Also laden wir sie ein: Zum Gottesdienst. Aber auch zur Frauenhilfe, zur Jugend-Lounge, zum Kirchenchor, zu Gemeindefesten und so weiter. Das ist ja auch alles gut und richtig. Aber wir sollten dabei eins nicht vergessen: Für den, der eingeladen wird, unterscheidet sich unsere Einladung erstmal nicht von einer Einladung zum Seniorenclub der AWO oder zum Grillfest des Kleingartenvereins. Ob er sie annimmt oder nicht, ist für ihn letztlich egal. Echte Bedeutung bekommen unsere Einladungen nur, wenn hinter ihnen die große Einladung steht, die alle anderen umfasst und übertrifft: die Einladung zu Jesus Christus. Im Predigttext wird das ganz deutlich: Johannes der Täufer zeigt auf Jesus und sagt zu seinen Jüngern: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ Und Andreas sagt zu Simon: „Wir haben den Messias gefunden.“ Dann bringt er ihn zu Jesus.
Mit dieser Einladung tun wir uns heute schwer, und das obwohl wir uns doch in jedem Gottesdienst zum Glauben an Jesus Christus bekennen. Und das Problem besteht nicht nur darin, dass wir ihn nicht leibhaftig vor Augen haben wie die Menschen damals. Wir wissen auch sonst wenig darüber, wo man denn die Gegenwart Jesu Christi heute erfahren kann, wo etwas davon zu spüren ist, dass Gott tatsächlich Mensch geworden ist. Deshalb wäre es wirklich zu billig, wenn wir einfach sagen würden: „Komm zu Jesus, und alles wird gut!“ Dann müssten wir uns die Rückfrage gefallen lassen: „Wo ist er denn, dieser Jesus? Und wenn du mir das nicht sagen kannst, wieso behauptest du dann, dass bei ihm alles gut wird?“
So wie die Dinge stehen, sollten wir also erstmal selber tun, was die beiden Johannes-Jünger tun, als sie Jesus treffen. „Meister“, fragen sie ihn, „wo ist deine Herberge?“ Ich übertrage das für uns mal so: „Wo hast du deine Bleibe, Jesus? Wo können wir dich finden? Wo können wir dir begegnen?“ Und Jesus antwortet ihnen und uns: „Kommt und seht!“ Letztlich sind es also gar nicht wir, die einladen. Jesus selbst lädt uns zu sich ein. „Kommt und seht“ – für uns könnte diese Einladung vielleicht so lauten: „Beschäftigt euch mit der Bibel. Da schreiben Menschen, die meine Nähe erfahren haben, und durch ihre Worte hindurch will ich euch begegnen.“ Oder: „Kommt zur Ruhe im Gebet. Werdet still und lasst mich auf euch wirken, dann könnt ihr spüren, dass ich da bin.“ Oder: „Kommt zum Abendmahl! Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist. So gewiss, wie ihr das Brot esst und den Wein trinkt, so gewiss bin ich mit meiner Liebe für euch da.“ Erst wenn wir uns so haben einladen lassen, erst wenn wir selber gekommen sind und gesehen haben, werden unsere Einladungen einen Unterschied machen.
Nun zur zweiten Frage: Wer lädt wen ein?
Eigentlich ist das nach dem Gesagten schon klar. Wenn es wichtig ist, dass wir das weitergeben, was wir selber erfahren haben, dann reicht es nicht, einen Gemeindebrief zu verteilen oder Plakate und Handzettel zu drucken. Es reicht auch nicht eine Homepage zu haben und in den sozialen Medien präsent zu sein, obwohl das heute natürlich dazu gehört. Wir können da noch so rührig und professionell unterwegs sein, es wird alles nicht helfen, wenn wir nicht persönlich für das einstehen, wovon wir überzeugt sind – wir Pfarrerinnen und Pfarrer zuerst, aber alle anderen Christenmenschen auch. Das Christentum hätte sich nie über die ganze Welt verbreitet, wenn es nicht immer wieder Menschen gegeben hätte, die von Jesus und seiner Sache begeistert waren und auch andere dafür begeistern konnten. Diese Begeisterung kann man natürlich nicht hervorzaubern. Aber ich vertraue darauf: Wenn Jesus Christus uns begegnet in der Bibel, im Gebet, im Gottesdienst, dann springt der Funke des heiligen Geistes auf uns über und be-geistert uns im wörtlichen Sinne. Auch wenn’s nur ein kleiner Funke ist – er reicht um helle Flammen zu entfachen.
Tja, und wen laden wir ein? Die Menschen in unserem Predigttext wenden sich schlicht an ihre nächste Umgebung: Johannes an seine engsten Anhänger, Andreas an seinen Bruder Simon, dann kommt Philippus, der aus dem gleichen Dorf stammt wie sie, und der findet schließlich seinen Freund Nathanael. Wir müssen also nicht gleich in ferne Länder ziehen, um Menschen unseren Glauben weiterzugeben. Wir können in unseren Familien anfangen: bei unseren Kindern und Enkeln, in unserem Freundeskreis oder in unserer Nachbarschaft. Wenn auch nur einige von ihnen sich einladen lassen, ist schon viel gewonnen.
Und schließlich noch die dritte Frage: Was haben wir den Eingeladenen zu bieten?
An dieser Frage könnte man verzweifeln. Denn verglichen mit den Dingen, die die Massen anziehen, haben wir anscheinend kaum eine Chance. Kirche ist bei aller Liebe eben doch nicht so mitreißend wie ein Rock-Konzert oder ein Bundesligaspiel, nicht so entspannend wie ein Wellness-Wochenende, nicht so geheimnisvoll wie ein esoterischer Zirkel. Ausnahmen – vom Kirchentag bis zum Klafelder Weihnachtsmarkt – bestätigen die Regel. Natürlich sollten wir uns fragen, ob das so sein muss. Ob bei uns nicht immer noch vieles zu nüchtern und bürokratisch ist, zu trocken und kopflastig, zu altbacken und langweilig, zu gut gemeint und schlecht gemacht. Und es mangelt ja auch nicht an Ideen, was man anders und besser machen kann. Trotzdem bleibt es dabei: in punkto Unterhaltsamkeit und Erlebniswert werden wir in unserer schnelllebigen Medienwelt nie mithalten können. Das können die Profis des Event-Managements einfach besser.
Aber dafür werden wir auch nicht gebraucht. Das, was wir zu bieten haben, ist völlig anders und unendlich wertvoller. Wir haben den zu bieten, den Johannes „Gottes Lamm“, Andreas „den Messias“ und Nathanael „Gottes Sohn“ nennt. Auch Jesus machte äußerlich nicht viel her: Er war der Sohn eines schlichten Bauhandwerkers aus einem völlig unbekannten Kaff in Galiläa. „Was soll aus Nazareth Gutes kommen?“ fragt Nathanael mit Recht. Aber dann kommt er doch mit und sieht: Er begegnet dem, der alles wegträgt, was uns von Gott trennt, der Gottes neue Welt wirklich werden lässt, ja in dem Gott Mensch geworden ist. Bei ihm finden wir erfülltes Leben statt einer Fülle von Erlebnissen. Ruhe statt Reizüberflutung. Festen Halt statt ständig wechselnder Moden und Launen. Menschen, die füreinander da sind, statt aneinander vorbei zu leben. Die Freude an diesem Herrn ist unsere Kraft. Da liegen unsere Stärken. Da haben wir mehr zu bieten als irgendjemand sonst – einschließlich der weltanschaulichen Konkurrenz. Oder wo gibt es sonst noch einen Gott wie unseren Gott, der sich nicht zu schade ist, sich selbst für seine Menschen aufzuopfern? Wir haben also überhaupt keinen Grund, unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Und wir müssen mit unserer Einladung nicht hinterm Berg halten: „Kommt und seht: Wir haben den gefunden, der uns das Leben schenkt!“ Was für ein Angebot! Wenn diese Einladung ankommt, müsste dann nicht jede Kirche jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt sein? Man wird ja wohl noch fragen dürfen – und vielleicht ein bisschen träumen. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein