Predigt zum 2. Advent

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
ADVENT

Talkirche, 9.12. 2012
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Jes 63,15-64,3

Nun ist also wieder
Advent. Wie wohl die meisten von Ihnen wissen, heißt das auf deutsch
„Ankunft“. Und wie Sie alle wissen, muss man auf Ankunften manchmal
lange warten. Und keiner tut das besonders gern. Denn:

Warten ist lästig.
Da steht man in Kälte und Regen auf dem Bahnsteig, wartet auf den
Zug und hört dann eine dieser netten Durchsagen: „Achtung an Gleis
drei: Der Regional-Express nach Hagen, planmäßige Abfahrt 9.32 Uhr,
wird voraussichtlich 20 Minuten später eintreffen. Wir bitten um
etwas Geduld!“

Warten macht unruhig.
Da hat sich die Tochter für nachmittags zum Kaffee angekündigt,
aber es wird vier, halb fünf, fünf, und niemand kommt. Und während
der Kaffee langsam kalt wird, beginnt man sich Sorgen zu machen:
„Wo bleibt sie denn nur? Ihr wird doch nichts passiert sein! Sie
hätte doch wenigstens anrufen können, wenn sie später kommt!“

Warten ist zermürbend.
Da hat der Arzt bei einer Routine-Untersuchung bedenkliche Symptome
festgestellt. Er hat Untersuchungen angestellt, Proben genommen
und eingeschickt. Aber es dauert seine Zeit, bis die Ergebnisse
kommen, und so lange verbringt man schlaflose Nächte: „Bin ich ernsthaft
krank oder ist alles ganz harmlos? Muss ich mich auf eine Operation
gefasst machen, oder vielleicht gar auf Schlimmeres?“ Und selbst
wenn der Befund schließlich Entwarnung gibt, braucht man noch eine
Weile, bis die Angst sich gelegt hat.

Warten nimmt manchmal
kein Ende. Arbeitslose warten jahrelang auf einen Job und kriegen
keinen. Alte und lebenssatte Menschen warten auf den Tod, und er
kommt nicht. Viele Menschen auf der Welt sehnen sich nach Frieden.
Seit Jahrhunderten tun sie das schon, und Antonio Vivaldi hat  mit
seinem „Et in terra pax“ ergreifende Musik zu dieser Sehnsucht geschrieben.
Aber viel zu viele Menschen warten immer noch vergebens auf Frieden,
auf Gerechtigkeit und Freiheit.

Ja, warten kann
eine Qual sein. Davon weiß auch mein heutiger Predigttext ein Lied
zu singen. Es ist ein Klagelied, und es steht in Jesaja 63 und 64:

So schau nun
vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen
Wohnung!
Wo ist nun dein Eifer und deine Macht,
deine
innere Regung und deine Barmherzigkeit?
Halte nicht an dich,
bist du doch unser Vater!
Denn Abraham weiß von uns nichts,
und
Israel kennt uns nicht.
Du, HERR, bist unser Vater;
»Unser
Erlöser«, das ist von alters her dein Name.
Ach dass du
den Himmel zerrissest und führest herab,
dass die Berge
vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet
und wie
Feuer Wasser sieden macht,
dass dein Name kund würde unter
deinen Feinden
und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn
du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten
und das man
von alters her nicht vernommen hat.
Kein Ohr hat gehört,

kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir,
der so wohl
tut denen, die auf ihn harren.

Hier warten Menschen
auf Gott. Und sie warten schon entsetzlich lange. Seit vielen Jahren
ist Jerusalem zerstört, liegt der Tempel des Gottes Israels in Trümmern.
Die Bevölkerung von Juda ist arm und machtlos, und den Nachbarvölkern
ist das gerade recht. Damit sind sie schließlich einen lästigen
Konkurrenten los. Und die Leute in Juda wissen: aus eigener Kraft
gibt es keinen Ausweg aus der Misere.  Dabei hatten sie noch
vor kurzem neue Hoffnung geschöpft: Die Babylonier, die Jerusalem
zerstört hatten, waren von den Persern besiegt worden. Und der Perserkönig
Kyros hatte den Exils-Juden in Babylon die Heimkehr gestattet. Ja,
er hatte sogar erlaubt, den Tempel wiederaufzubauen. Der Prophet,
den wir den Zweiten Jesaja nennen, schien recht zu behalten. „Jetzt
bricht eine neue Heilszeit an“, hatte er gesagt. „Gott wendet sich
seinem Volk wieder zu. Er beweist seine Macht an uns – noch herrlicher
als damals, als er unsere Vorfahren aus Ägypten befreit hat.“ Aber
aus alledem ist nichts geworden. Ein paar Leute sind aus dem Exil
heimgekehrt, sie haben auch den Grundstein zu einem neuen Tempel
gelegt, aber die feindseligen Nachbarn und die ärmlichen Verhältnisse
haben alle Blütenträume zunichte gemacht. An der trostlosen Lage
hat sich nichts geändert.

Jedenfalls noch
nicht. Denn wenn eine großartige Hoffnung einmal geweckt ist, dann
ist sie so leicht nicht wieder tot zu kriegen. Die Menschen in Juda
und Jerusalem erwarten immer noch alles von ihrem Gott. Und deshalb
haben sie das Warten noch nicht aufgegeben, so zermürbend und qualvoll
es auch ist. Allerdings ist ihr Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt.
Sie bestürmen ihren Gott geradezu mit Klagen, Bitten und Hilferufen.
Der Text, den ich gelesen habe, ist davon nur ein kleiner Ausschnitt.
Sie lassen nichts unversucht, um bei Gott Gehör zu finden.

Sie erinnern ihn
an seine großen Taten: „Damals, beim Auszug aus Ägypten, da hast
du tatsächlich den Himmel zerrissen wie einen Vorhang, der dich
vor der Welt verbarg. Du hast dein Volk befreit und die Ägypter
im Schilfmeer versinken lassen. Du hast sie durch die Wüste geführt.
Und am Berg Sinai bist du ihnen erschienen in Feuer, Donner und
Erdbeben. Keiner konnte da noch an dir zweifeln.“

Sie packen ihn
bei seiner Ehre: „Es ist doch dein Volk, das so miss-handelt wird,
es ist dein Heiligtum, das man mit Füßen tritt! Wie kannst du das
so einfach hinnehmen? Wie kannst du die Feinde nur denken lassen,
dass du deine Leute nicht im Griff hast, dass du zu schwach warst,
um sie bei der Stange zu halten?“

Sie nageln ihn
fest auf seine Zusagen: „Hast du nicht immer gesagt, dass wir dein
Volk, dein Erbteil sind? Hat es nicht immer geheißen: Barmherzig
und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte? Was ist nun
mit all diesen großen Worten?“

Sie erinnern ihn
an seine Verantwortung: „Unsere irdischen Stammväter, Abraham, Isaak
und Jakob, sind längst zu Staub zerfallen. Sie können nichts für
uns tun. Aber du, du bist doch in Wahrheit unser Vater, unser Erlöser,
unser Gott und unser Herr! Wer soll uns denn helfen, wenn nicht
du?“

Und sie trauen
ihm etwas zu: „Du hast die Macht, um die Feinde zum Zittern zu bringen
und ihnen das Maul zu stopfen. Du kannst mehr tun und bewirken,
als wir Menschen uns vorstellen können. Du kannst die ganze Weltgeschichte
umkrempeln, wenn du nur willst.“

Man kann es fast
unverschämt nennen, wie das Volk hier auf seinen Gott einredet.
Nichts lassen sie unversucht, um ihn zu einer Antwort zu bewegen.

Der Text des altkirchlichen
Gloria tut es ihnen gleich. Auch dort werden im Lobpreis alle verdienten
Ehrentitel Gottes aufgezählt: „Herr, Gott, himmlischer König, allmächtiger
Vater, Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn, Lamm Gottes, das
der Welt Sünde trägt“. Und auch dort mündet die dankbare Aufzählung
immer wieder ein in die flehentliche Bitte um Erhörung: „erbarm
dich unser, nimm an unser Gebet.“ Wir werden noch hören, was Vivaldi
musikalisch daraus gemacht hat.

Aber lohnt sich
die Anstrengung? Hat sie sich für die Menschen von Juda gelohnt?
Hat das Gloria von Vivaldi oder von wem auch immer noch einen anderen
Wert als den musikalischen und kulturellen? Bewirkt all das Beten
und Fragen, all das Singen und Reden etwas – außer vielleicht für
das eigene seelische Wohlbefinden? Oder verhallt es letztlich doch
im Nichts – weil es zu dem, den wir mit unseren Gebeten meinen,
gar nicht durchdringt? Oder weil da im Himmel gar keiner ist, der
uns zuhört?

Ich denke, wir
kennen das. Wir haben alle schon Situationen erlebt, in denen uns
danach war, Gott mit den Fragen zu überschütten, die uns quälen:
Warum treffen Leiden, Not und Tod anscheinend immer die falschen,
warum ausgerechnet mich? Warum kann ich mich abstrampeln, wie ich
will, und komme doch nie auf einen grünen Zweig? Warum schwimmen
die einen im Geld, und die anderen ertrinken in Schulden? Was soll
aus mir, aus meiner Familie, meiner Kirche, meinem Land, meiner
Welt werden, wenn alle nur noch an sich selber denken und auf den
eigenen Vorteil aus sind? Und wann antwortet Gott endlich auf diese
Fragen? Wann fängt er endlich an damit, die Welt heil zu machen,
wie er es auch uns versprochen hat – im Alten und im Neuen Testament?

Auch ich wünsche
mir manchmal, dass Gott endlich den Himmel zerreißt und sichtbar
als Herr der Welt erscheint. Damit den Armen endlich das Himmelreich
gehört. Damit die Leidtragenden endlich getröstet werden. Damit
der Hunger nach Gerechtigkeit endlich gestillt wird. Damit die Barmherzigen
endlich Barmherzigkeit erlangen. Und damit ich endlich die Zweifel
loswerde, ob ich mir und anderen nicht doch etwas vormache, wenn
ich darauf hoffe und von dieser Hoffnung rede.

Noch warte ich:
auf Antwort, auf Erfüllung, auf Gott. Und manchmal wird das Warten
lang. Aber ein Zeichen habe ich doch, dass ich nicht vergebens warte.
Der Himmel ist noch nicht zerrissen, aber er hat sich schon einen
Spalt breit aufgetan. Damals, als Jesus geboren wurde und der Engel
zu den Hirten sagte: „Euch ist heute der Heiland geboren“, bevor
er mit den himmlischen Heerscharen das allererste Gloria anstimmte.
Damals, als Jesus sich taufen ließ und eine Stimme vom Himmel sagte:
„Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Damals,
als der Auferstandene seinen Jüngern erschien und sagte: „Mir ist
gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ Ein Spalt nur, ein
Strahl vom Licht Gottes im Dunkel der Welt. Aber dieser Himmelsspalt
weckt berechtigte Hoffnung auf mehr. In den 2000 Jahren seit Jesus,
in den zweieinhalbtausend Jahren seit Jesaja ist diese Hoffnung
nie gestorben. Und wenn ihre letzte Erfüllung auch noch aussteht,
so hat sie doch vielen Menschen durch die Jahrtausende Trost und
Kraft gegeben und tut es noch – auch und gerade durch so herrliche
Musik, wie wir sie heute hören dürfen. Das alles ist zwar kein Beweis
für die Richtigkeit dieser Hoffnung. Aber doch ein Grund, mich auf
sie einzulassen. Und dann selber zu erfahren: Wer Hoffnung hat,
der kann auch warten. Und wartet nicht vergebens.

Amen.

 

Predigt zum 1. Advent

 

FAMILIENGOTTESDIENST ZUM ERSTEN
ADVENT

mit Kita Jasminweg und Sohlbach
Pfr.
Dr. Martin Klein
Wenschtkirche, 2.12. 2012

Thema: Ein Blick durchs Schlüsselloch

Einen Blick durchs
Schlüsselloch haben die Kinder uns gerade präsentiert. Und ich habe
mich gefragt: Wann und warum macht man eigentlich so was – durch
ein Schlüsselloch schauen? Denn das ist ja doch in der Regel eine
mühsame Angelegenheit: Man muss sich bücken dafür (jedenfalls sobald
man größer als 1,10 ist), man muss angestrengt mit einem Auge durch
ein winziges Loch gucken, vielleicht noch das andere dabei zukneifen,
und man sieht trotzdem nur einen winzigen Ausschnitt von dem, was
hinter der Tür liegt. Und man muss auch noch mit Unannehmlichkeiten
rechnen, wenn man dabei erwischt wird. Denn man müsste ja nicht
durchs Schlüsselloch linsen, wenn die Tür nicht abgeschlossen wäre
oder wenn man sie einfach aufmachen dürfte. Und das ist ja meistens
so, weil man das, was hinter der Tür ist, gar nicht sehen soll –
oder jedenfalls noch nicht sehen soll.

Trotzdem haben
wir wohl alle schon mal durch Schlüssellöcher geschaut, und das
– geben wir’s ruhig zu – nicht nur als Kinder. Denn wenn man nur
überzeugt genug ist, dass sich hinter der Tür etwas befindet oder
passiert, das unheimlich spannend ist, das man unbedingt sehen und
mitbekommen möchte – und zwar jetzt gleich und nicht erst irgendwann
– dann spielt alles andere keine Rolle. Und dass es womöglich verboten
ist, erhöht natürlich nur den Reiz und die Neugier.

Früher, mancher
mag sich erinnern, war die Adventszeit für Kinder die Hochsaison
des Schlüssellochguckens. Denn da taten die Erwachsenen ja gern
ein wenig geheimnisvoll, wollten ihre Kinder zum Fest überraschen,
wollten die Freude am Endlich-alles-sehen-und-haben-Dürfen erhöhen,
indem vorher das meiste versteckt und unsichtbar blieb. Umso spannender
war es für die Kinder, wenigstens mal einen flüchtigen Blick auf
die Geschenke oder den geschmückten Tannenbaum zu erhaschen, wenigstens
mal eins der leckeren Plätzchen zu probieren, die zwar schon gebacken,
aber bis zum Heiligen Abend noch unter Verschluss waren. Und weil
die Schlüssellochguckerei auch die Phantasie anregt, glaubte schon
mancher, er habe im Weihnachtszimmer, so gerade noch im Verschwinden,
das Christkind gesehen.

Heute dagegen
haben die Schlüssellöcher ausgedient, jedenfalls was Advent und
Weihnachten angeht. Spätestens am Montag nach dem Totensonntag steht
die ganze Weihnachtspracht sichtbar vor aller Augen. Es wird nicht
nach und nach heller – erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier
– sondern es gehen sofort alle Lampen an. Es gibt die Plätzchen
nicht erst zu Weihnachten, sondern da kann man sie schon nicht mehr
sehen. Kinder kriegen das ganze Jahr über Geschenke, nur die Menge
wird zu Weihnachten noch mal gesteigert. Überraschungen gibt es
dabei kaum noch: Was auf dem Wunschzettel steht, wird angeschafft
(und wehe, wenn nicht!), oder es gibt gleich Geld zum Selberkaufen.
Und wie das Christkind und der Weihnachtsmann aussehen, das wissen
alle Kinder bestens aus der Fernsehwerbung. Kein Warten, keine Spannung,
keine Geheimnisse mehr – heute wollen wir alles, und das sofort.
Manche Familie mag zwar noch tapfer dagegenhalten, aber Trend weg
vom Schlüsselloch ist nicht zu stoppen.

Man könnte darüber
wehmütig werden. Man könnte aber auch zu-geben, dass die ganze Geheimniskrämerei
zur Weihnachtszeit schon immer etwas Künstliches an sich hatte.
Die meisten Kinder durchschauen das, noch bevor sie in die Schule
kommen, und es wäre falsch, ihnen dann weiter etwas vorzuspielen.
Stattdessen sollten wir uns alle miteinander, Große und Kleine,
wieder dem echten Geheimnis der Advents- und Weihnachtszeit zuwenden:
dem Geheimnis, das immer und zu allen Zeiten spannend bleiben wird,
weil unser kleiner Menschenverstand es nie wird ergründen können.

Also beugen wir
uns in Gedanken mal tief hinunter, kneifen ein Auge zu und schauen
mit dem anderen gespannt durchs Schlüsselloch dieses Geheimnisses
– was bekommen wir da zu sehen? Anscheinend nicht viel. Nur eine
junge Frau, die ein Kind bekommt – man sieht, dass es nicht mehr
lange dauern wird. Einen jungen Mann, der zögernd den Arm um diese
junge Frau legt – man sieht ihm an, dass er sich erst noch daran
gewöhnen muss, dass seine Verlobte ein Kind bekommt – ein Kind,
von dem er nichts geahnt hat. Wir sehen wie die beiden sich auf
eine Reise begeben – nicht freiwillig, sondern auf Befehl des Kaisers,
der Steuerzahler braucht. Wir sehen eine Futterkrippe in einem Stall
– außer Heu liegt da nichts drin, aber was soll auch sonst in einer
Krippe liegen? Wir sehen Männer in orientalischen Gewändern, die
aufgeregt zum Himmel schauen. Und wenn wir in die Hocke gehen und
durch das Schlüsselloch schräg nach oben schauen, können wir so
gerade eben noch erkennen weshalb: Da ist ein besonders heller Stern
zu sehen, und der ist dann vielleicht doch etwas Besonderes. Aber
im heutigen Weihnachtslichtermeer würde ihn wahrscheinlich keiner
mehr bemerken.

Nein, der Blick
durchs Schlüsselloch klärt noch nicht, was hier Geheimnisvolles
passiert. Er enthüllt uns nicht, dass sich auf so unscheinbare Weise
das größte Ereignis aller Zeiten anbahnt: Gott kommt zu uns Menschen.
Und er macht sich dafür so klein, dass er als Baby in den Bauch
der Maria passt – und später in eine Krippe mit Heu. Gott wird ein
kleines, armes Menschenkind, damit wir Menschen zu Gott kommen können,
damit uns nichts mehr von ihm trennt. Wie das geschehen konnte,
das ist ein Geheimnis und wird immer eines bleiben. Aber dass dieses
Geheimnis wahr ist, das kann und soll jeder von uns erfahren – nicht
nur zur Advents- und Weihnachtszeit, aber da besonders.

Also, liebe Erwachsene,
nehmt euch in den nächsten Wochen Zeit für dieses Geheimnis – für
euch selbst und für eure Kinder. Lasst euch nicht von Rummel und
Kommerz überwältigen, sondern gönnt euch öfter mal die Ruhe, eine
Kerze anzuzünden, ein Lied zu singen oder wenigstens bewusst anzuhören,
die alten biblischen Geschichten wieder neu zu lesen oder vorzulesen
und so dem Geheimnis der Weihnacht wieder neu zu begegnen. Noch
sind wir nicht da angekommen, wo Gott mit seiner Welt und seinen
Menschen hin will, aber auf diese Weise können wir schon mal einen
kleinen Ausschnitt davon sehen – wie durch ein Schlüsselloch eben
– und wir können erahnen, wie wunderbar es einmal werden wird. In
diesem Sinne wünsche ich uns allen eine Adventszeit voller gespannter
Vorfreude und dann ein fröhliches Weihnachtsfest.

Amen.

 

Predigt vom 16.9.2012

 

GOTTESDIENST
FÜR DEN FÜNFZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
und Wenschtkirche, 16.9. 2012
Text: Gal 5,25-6,5

Der deutsche Durchschnittsmensch
wird immer mehr zum Einzelgänger. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte
wächst ständig – in vielen Großstädten sind es schon mehr als fünfzig
Prozent. Natürlich geschieht das nicht immer freiwillig, zum Beispiel
bei Witwen und Witwern. Und es ist auch nicht immer auf Dauer, zum
Beispiel bei Studenten. Aber viele empfinden das Single-Dasein auch
als angenehm und wollen gar nicht anders leben. Und davon ab: auch
viele Ehepaare oder Familien leben zwar unter einem Dach, aber jeder
für sich. Man hat seine eigene Arbeit oder Schule, seine eigenen
Freunde und Hobbys, seinen eigenen Computer oder Fernseher. Man
sieht sich beim Kommen oder Gehen, redet nur das Nötigste, und wenn
man doch mal mehr Zeit miteinander verbringt – zu Weihnachten vielleicht
oder im Urlaub – weiß man nicht viel miteinander anzufangen.

Man muss das gar
nicht unbedingt bedauern. Man kann die Zeiten auch glücklich schätzen,
in denen Menschen so frei und ungebunden leben können. Man kann
es durchaus genießen, sein eigener Herr zu sein und auf niemand
Rücksicht nehmen zu müssen. Und wenn man sich anschaut, was für
eine Zwangsveranstaltung das Familienleben früher oft war und manchmal
immer noch ist, dann bekommt man Verständnis für alle, die sich
lieber nicht so fest binden.

Und doch steckt
tief in uns drin wohl immer noch die biblische Weisheit: „Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Würden sonst die meisten
Jugendlichen heiraten und Kinder bekommen wollen, auch wenn sie
zu Hause eher Familienverhältnisse zum Abgewöhnen erleben? Gäbe
es sonst immer wieder Filme, in denen überzeugte Singles schließlich
doch im Hafen von Ehe und Familie landen? Gäbe es sonst all die
Kontaktanzeigen in den Zeitungen – spätere Heirat nicht ausgeschlossen?
Klar: da ist oft mehr Sehnsucht als Realitätssinn im Spiel. Aber
diese Sehnsucht ist uns offenbar nicht auszutreiben.

Soweit zum Großen
und Allgemeinen. Und wie sieht es unter uns Christen aus? Auch da
spüren wir erst mal deutlich den Trend der Zeit. Kirchenmitglied
ist man nicht mehr unbedingt lebenslang, sondern nur solange man
es zu brauchen meint – also etwa, solange die Kinder im kirchlichen
Kindergarten sind oder zum Konfirmanden-unterricht gehen. Und wenn
man irgendwo Pate werden soll oder einen Arbeitsplatz bei der Kirche
haben will, dann tritt man halt mal wieder ein. Viele Menschen fühlen
sich nicht mehr als Teil ihrer Kirche oder Gemeinde, sondern als
Konsumenten, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen. Und geglaubt
wird heute sowieso nur noch ganz individuell. Da bastelt sich jeder
nach den persönlichen Bedürfnissen selber was zurecht und bedient
sich dafür frei auf dem Weltmarkt der Religion oder der Esoterik.
Dass es wichtig sein könnte, sich gemeinsam mit anderen zu einem
bestimmten Glauben zu bekennen, dass leuchtet kaum noch jemandem
ein.

Natürlich hat
auch das seine positiven Aspekte. Auch in Glaubenssachen gab es
ja früher viel unguten Zwang und viele Lippenbekenntnisse ohne echte
Überzeugung – im frommen Siegerland mag es das sogar immer noch
geben, hier und da. Aber wenn es schon nicht gut ist, dass der Mensch
allein sei, dann trifft das für den Christenmenschen erst recht
zu. Ohne Gemeinschaft ist christlicher Glaube gar nicht denkbar.
Und wer meint, dass er auch ohne Kirche, ohne Gemeinde Christ sein
kann, der hat nicht wirklich begriffen, was Christsein heißt.

Nun muss ich das
wahrscheinlich hier und heute keinem erzählen. Denn Ihnen allen
ist die Gemeinschaft der Christen ja offensichtlich noch etwas wert,
sonst wären Sie heute nicht zum Gottesdienst gekommen. Doch wie
sie genau aussieht, diese Gemeinschaft, und wie sie funktionieren
kann, darüber sollten auch wir uns immer wieder Gedanken machen.
Am meisten können wir dazu immer noch beim Apostel Paulus erfahren.
Denn zu seiner Zeit war die Gemeinde Jesu Christi ja erst im Entstehen.
Da war viel Aufbruch und Begeisterung, aber noch wenig auf Dauer
Tragfähiges. Deshalb musste Paulus einen Großteil seiner Briefe
darauf verwenden, die Gemeinschaft der Gläubigen zu beschreiben
und zu festigen. Er tut das auch im heutigen Predigttext, im 5.
und 6. Kapitel des Galaterbriefes:

 

Wenn wir im Geist
leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach
eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.
Liebe Geschwister, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt
wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die
ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch
versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das
Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl
er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe
sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst
haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine
eigene Last tragen.

 

Das wichtigste
wird gleich am Anfang deutlich Wir sind als Christen nicht deshalb
zusammen, weil wir uns alle so nett finden. Wir gehören auch nicht
deshalb dazu, weil wir in eine christliche Familie hineingeboren
sind. Und erst recht nicht deshalb, weil wir einen Mitgliedsbeitrag
zahlen. Sondern „wir leben im Geist“, sagt Paulus. Das heißt: Wir
bilden eine Gemeinschaft und gehören dazu, weil Gott es so wollte.
Er hat uns den Glauben geschenkt. Er hat das Vertrauen zu ihm in
uns wachsen lassen. Er hat uns mit der Taufe seine Liebe zugesprochen
und alles Trennende zwischen uns beseitigt. Er schließt uns durch
den heiligen Geist mit allen Glaubenden zu einer Gemeinschaft zusammen,
die in Jesus Christus ihren Mittelpunkt hat. Und wenn er das einmal
getan hat, dann kann nichts und niemand es noch rückgängig machen.
„Ihr lebt im Geist, ihr seid geistlich“, sagt Paulus. Und das heißt
nichts anderes als: ihr gehört zu Gott und damit zueinander, ein
für alle Mal.

Die Frage ist
nur, ob und welchen Gebrauch wir davon machen. „Wenn wir im Geist
leben“, sagt Paulus, „dann lasst uns auch im Geist wandeln.“ Sei,
was du bist, heißt das knapp formuliert. Halte fest an dem, was
Gott dir mit dem Glauben geschenkt hat. Und dann führe dein Leben
so, dass es Gottes Geist entspricht, auch im Umgang mit deinen Mitmenschen
und Mitchristen. Wenn wir das nicht tun, wenn wir einfach so vor
uns hin leben, als ob es Gott nicht gäbe, dann nimmt Gott uns zwar
sein Geschenk nicht wieder weg. Aber es wäre doch schade, wenn es
bloß in der Ecke läge und weder wir selber noch andere etwas davon
hätten, oder?

Also lasst uns
anfangen, wenn wir es noch nicht getan haben, so zu leben, wie Gott
will. Nicht nur jeder für sich, sondern auch als Gemeinschaft der
Glaubenden. Wir müssen diese Gemeinschaft, wie gesagt, nicht erst
herstellen. Aber es ist unsere Aufgabe, sie zu pflegen und zu stärken,
damit wir alle etwas davon haben. Wie das gehen kann? Paulus sagt
es so: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi
erfüllen.“

Ich finde, das
ist erfreulich nüchtern formuliert. Es ist mir viel lieber, als
wenn da stünde: „Habt einander lieb!“ Das steht zwar auch in der
Bibel, aber man kann es leicht missverstehen. Gott verlangt nicht
von uns, dass wir für unsere Mitchristen liebevolle Gefühle entwickeln,
erst recht nicht, dass wir welche heucheln. Wenn wir unsere Geschwister
im Herrn nicht ausstehen können oder sie uns auf die Nerven gehen,
dann ist das halt so. Da kann und muss keiner aus seiner Haut. Trotzdem
können wir einer des anderen Last tragen. Wir können auch einem
ungeliebten Mitchristen beistehen, wenn er Hilfe braucht, können
ihm abnehmen, was ihm Leib und Seele niederdrückt – durch verständnisvolles
Zuhören, durch Worte, die Mut machen, durch tatkräftige Unterstützung.
Mag sein, dass wir uns anschließend auch besser leiden können. Aber
wir müssen nicht die dicksten Freunde werden.

Und dann ist noch
das Stichwort „einander“ wichtig. Niemand muss sich zum Lastenpackesel
für die ganze Gemeinde machen und irgendwann darunter zusammenbrechen.
Und wer seine Lasten immer gern anderen aufbürdet ohne an Gegenleistung
zu denken, der sollte den letzten Satz des Abschnitts beachten:
Vor Gott wird jeder doch seine eigene Last tragen – sprich: sein
ganz persönliches Urteil bekommen, wenn Gott Gericht hält. Und wer
immer nur nimmt und nie gibt, auf den wird dann manche Last zurückfallen.

Aber es gibt noch
etwas anderes neben dem Lastentragen, womit wir die Gemeinschaft
der Christen fördern können, und das ist realistische Selbsteinschätzung.
Vor „eitler Ehre“ warnt Paulus, vor Selbstbetrug und provozierender
Prahlerei. Und er fordert uns zur Selbstprüfung auf – gerade dann,
wenn wir Fehltritte bei anderen entdecken; denn wir sind ja selbst
nie weit davon entfernt. Ich glaube, wir können das gar nicht ernst
genug nehmen. Denn im Prinzip ist uns zwar bewusst, dass kein Mensch
unfehlbar ist, alles kann und immer recht hat. Nur fällt es uns
in der Praxis unglaublich schwer, dieses Prinzip auf uns selber
anzuwenden. Da sind dann doch immer die anderen schuld, in jedem
Konflikt liegt das Recht natürlich auf meiner Seite, und alles würde
viel besser laufen, auch in der Kirche, wenn alle endlich täten,
was ich für richtig halte. Besonders schlimm wird es für die Gemeinschaft
der Glaubenden, wenn jemand seine Rechthaberei auch noch direkt
aus der Bibel herleitet. Denn das ist die sicherste Methode, Gemeinden
zerbrechen zu lassen und Kirchen zu spalten.

Also, mit Paulus
gesprochen: „Ein jeder prüfe sein eigenes Werk!“ Und wenn ich das
tue, sollte ich mir zum Beispiel folgende Fragen stellen: Bin ich
über die Fehler anderer Leute wirklich so erhaben, dass ich mich
darüber entrüsten dürfte? Liegt das Recht in dieser oder jener Sache
wirklich ganz auf meiner Seite, oder haben die an-deren vielleicht
genauso recht, wenn ich mal in ihre Lage versetze? Muss Kirche unbedingt
so sein, wie ich sie mir vorstelle, oder kann ich anderen Vorstellungen
ihren Platz lassen, auch wenn sie mir nicht gefallen? Ist meine
Meinung in dieser oder jener Glaubensfrage wirklich biblisch fundiert
oder hängt sie doch nur an Tradition und Gewohnheit? Denken Sie
mal an diese Fragen, wenn sie sich das nächste Mal über ihre Glaubensgeschwister
und Mitmenschen aufregen! Vielleicht legt sie sich die Aufregung
dann ganz ohne Beruhigungspillen.

„Tragt einander
die Lasten und prüft euch selbst“: das könnte also ein Ansatz sein,
wie Gemeinschaft unter Christen bewusst gelebt werden kann – mit
dem heiligen Geist und im Sinne Jesu Christi. Das mag anstrengender
sein, als wenn jeder allein vor sich hin glaubt. Es mag mehr Mühe
machen als Kirchensteuer zu zahlen und bei Bedarf kirchlichen Service
in Anspruch zu nehmen. Aber es lohnt sich. Denn ich bin überzeugt:
Was wir in diese Gemeinschaft investieren, der wir durch Glaube
und Taufe angehören, das werden wir vielfältig zurückbekommen: in
Form von Halt und Sinn, von Hilfe und Anregung, von Bestätigung
und Zufriedenheit, von Lust und Lebens-freude. Und das ist noch
nicht alles, was Gott für uns bereit hält. Wer trotzdem lieber Solochrist
und Einzelgänger bleibt, der verpasst was.  Und das kann doch
keiner wollen, oder?

Amen.

 

Predigt vom 15.7.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SESCHSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
15.7. 2012
Text: Apg 8,26-39

Aber der Engel
des Herrn redete zu Philippus und sprach: „Steh auf und geh nach
Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und
öde ist.“ Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus
Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin
von Äthiopien, welcher ihren ganzen Schatz verwaltete, der war nach
Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog er wieder heim und saß
auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. Der Geist aber sprach
zu Philippus: „Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!“ Da lief
Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte:
„Verstehst du auch, was du liest?“ Er aber sprach: „Wie kann ich,
wenn mich nicht jemand anleitet?“ Und er bat Philippus, aufzusteigen
und sich zu ihm zu setzen. Der Inhalt aber der Schrift, die er las,
war dieser: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und
wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen
Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben.
Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der
Erde weggenommen.« Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und
sprach: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich
selber oder von jemand anderem?“ Philippus aber tat seinen Mund
auf und fing mit diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das
Evangelium von Jesus. Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen
sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: „Siehe, da ist Wasser;
was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ Und er ließ den Wagen
halten, und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der
Kämmerer, und er taufte ihn. Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen,
entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Kämmerer sah
ihn nicht mehr; denn er zog seine Straße fröhlich.

 

Eine schöne Geschichte
ist das. Eine meiner Lieblingsgeschichten aus dem Neuen Testament.
Schon deshalb, weil sie mit dem Wort „fröhlich“ endet. Aber auch,
weil sie viel davon deutlich macht, wie man ein fröhlicher Christenmensch
wird. Also hab ich mich gefreut, dass ich mal wieder darüber predigen
darf. Aber als ich dann überlegt habe, wie ich das denn mache, da
habe ich auch wieder festgestellt, dass es gar nicht so einfach
ist, über diesen schönen Text zu predigen. Denn das, was hier berichtet
wird, scheint von uns heute unendlich weit weg zu sein.

Mal ganz zu schweigen
von Engelsbotschaften und Entrückungen durch den heiligen Geist,
fängt das schon bei der schlichten Beschreibung der Situation an:
Da sitzt also der äthiopische Finanzminister auf der Heimreise von
einer Pilgerfahrt nach Jerusalem auf seinem Wagen und liest den
Propheten Jesaja.

Ich habe versucht,
mir eine ähnliche Situation in unserer Zeit zu vorzustellen. Das
war gar nicht so einfach. Denn die Schwierigkeiten fangen schon
damit an, dass da jemand in einem Buch liest. Das ist heute überhaupt
nicht mehr selbstverständlich. Es werden zwar mehr Bücher gedruckt
und verkauft als je zuvor. Aber die Zahl derer, die sie auch lesen,
wird immer kleiner. Auch E-Books und Ähnliches ändern daran wenig.
Immer mehr junge Menschen reagieren nur noch auf visuelle Reize
aus dem Fernseher oder dem Computer. Mit einem längeren geschriebenen
Text können sie dagegen nichts mehr anfangen. Ihn zu entziffern
und dann auch noch zu verstehen, ist ihnen viel zu mühsam. Ich denke,
wir Theologen und Pfarrer müssen uns noch manche Gedanken machen,
was das für das Christentum als Buchreligion für Konsequenzen hat.
Immerhin: Damals gab es wahrscheinlich noch weniger Menschen, die
lesen konnten, und von einer höhergestellten Persönlichkeit wie
einem Minister wird man auch heute noch erwarten können, dass er
in der Lage ist, ein Buch zu lesen.

Aber dann taucht
gleich die nächste Schwierigkeit auf: Der Mann liest in der Bibel.
So weit, so gut. Aber wer tut das denn heute noch ernsthaft? Viele
können wie gesagt mit einem Buch überhaupt nicht mehr umgehen. Das
merke ich immer an unseren Konfirmanden: Die ersten scheitern schon
daran, die Bibel an der richtigen Stelle aufzuschlagen, die nächsten
daran, das, was da steht, zu entziffern. Ob sie auch verstehen,
was sie lesen, wage ich dann schon gar nicht mehr zu fragen. Aber
auch die Menschen, die gern und viel lesen, halten sich eher an
Belletristik oder aktuelle Sachbücher. Eine Bibel haben sie wohl
auch, aber die steht eher ungelesen im Regal. Selbst viele Theologiestudenten
lesen erstmals ausgiebig in der heiligen Schrift, wenn ihre Bibelkundeprüfung
ansteht. Aber immerhin: Wenn ich heute morgen im Gottesdienst eine
Umfrage machen würde, fände ich wahrscheinlich noch einige, die
durchaus öfter mal einen Blick in die Bibel werfen – vielleicht
sogar ganz freiwillig.

Aber dann geht’s
weiter: Wer heute noch in der Bibel liest, der tut das meistens
für sich allein im stillen Kämmerlein. Oder vielleicht noch mit
ein paar Gleichgesinnten in einem Bibelkreis. Aber die Bibel als
Reiselektüre? Im Zug oder im Bus? Selbst interessierte Bibelleser
kämen auf die Idee wohl kaum. Ich kann mich zwar an ein paar Situationen
erinnern, in denen ich das getan habe, aber dann war’s in der Regel
dienstlich. Und irgendwie wird man schon komisch angeguckt.

Nun war zwar die
Straße von Jerusalem nach Gaza ziemlich einsam, wie Lukas ausdrücklich
vermerkt. Lästige Beobachter gab es also kaum. Trotzdem muss diesen
Äthiopier sein Jesaja brennend interessiert haben. Sonst hätte er
die teure und schwer zu bekommende Schriftrolle erstens nicht gekauft
und zweitens nicht gleich auf der holprigen und anstrengenden Fahrt
zu lesen begonnen. Und wahrscheinlich wäre er sonst erst gar nicht
mehrere Tausend Kilometer nach Jerusalem gereist, um den Gott der
Juden anzubeten. Dieser äthiopische Hofbeamte war einer von denen,
die damals von ihrer alten Religion enttäuscht waren und deshalb
im jüdischen Glauben den Sinn ihres Lebens suchten. Das waren gar
nicht wenige, gerade unter den Gebildeten. Sie waren fasziniert
davon, dass es bei den Juden nur einen Gott gab und dass der sich
auch noch den Menschen zuwendete und ihnen gute Regeln zum Leben
gab. Einige dieser so genannten Gottesfürchtigen traten auch ganz
zum Judentum über und ließen sich beschneiden. Aber dieser Weg war
dem Äthiopier versperrt. Als Diener einer Königin war er ein Eunuch.
Und ein Verschnittener konnte und durfte nicht Jude werden. Trotzdem
ließ er nicht locker und versuchte, dem Gott Israels so nahe zu
kommen wie nur irgend möglich: indem er seinen Tempel besuchte und
indem er die Worte seiner Propheten las.

Wo gibt es solche
Menschen heute? Menschen die von Ideologien, Religionen und Kirchen,
auch christlichen, enttäuscht sind, die aber gerade deshalb in der
Bibel nach Antwort auf ihre Fragen suchen? Mag sein, dass das seltene
Vögel sind heutzutage. Mag aber auch sein, dass wir Christen ihnen
selbst nicht mehr die Botschaft vermitteln, dass die Bibel ein Ort
ist, an dem man überhaupt Antwort erwarten kann. Entweder, weil
wir meinen, die Bibel hätte uns schon alle Fragen beantwortet. Oder
weil wir selber aufgehört haben, Fragen an die Bibel zu richten.
Wenn wir aber auch als Christen die Bibel nur noch auf dem Altar
verstauben lassen und nicht mehr mit ihr leben, dann müssen wir
uns nicht wundern, wenn sich auch sonst niemand mehr für sie interessiert.

Aber zurück zur
Ausgangssituation. Da schickt also nun Gott den Philippus zu dem
Mann aus Äthiopien und lässt ihn fragen: „Verstehst du auch, was
du da liest?“ Wie würden Sie reagieren, wenn Sie gerade in der Bibel
lesen und diese Frage gestellt bekommen? Vielleicht würden sie sich
ertappt fühlen bei ihrem so ungewöhnlichen Tun. Vielleicht wären
Sie ärgerlich über die Störung. Vielleicht würden Sie beleidigt
antworten: „Natürlich verstehe ich, was ich lese. Ich bin ja schließlich
nicht blöd!“

Nun, blöd war
der äthiopische Minister auch nicht. Er war ein gebildeter Mann
und konnte dem Wortlaut seiner griechischen Bibelübersetzung sicher
spielend folgen. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man nur die
Worte versteht oder auch den Sinn begreift. Denn nur der Sinn des
Textes könnte ja auch Antwort geben auf die Fragen nach dem Sinn
des Lebens, die den Äthiopier offenbar umtreiben. Ihm fehlt das
Aha-Erlebnis, das ihn weiterbringen könnte. Vielleicht kann Philippus
ihm ja auf die Sprünge helfen, und deshalb kommt er ihm gerade recht.

Er ist bei Jesaja
53 hängen geblieben, einem der geheimnisvollen Lieder vom Gottesknecht.
Um zu begreifen, was da steht, müsste er wissen, von wem der Prophet
denn da eigentlich redet. Aber gerade das lässt der Text offen,
und die Gelehrten streiten sich bis zum heutigen Tag darüber. Ein
redlicher Bibelausleger könnte letztlich nur sagen: „Ich weiß nicht,
wer gemeint ist, weil sich das eben aus dem Text nicht eindeutig
erschließen lässt.“

Philippus freilich
weiß die Antwort. Zumindest kennt er eine Antwort, die dem Äthiopier
das ersehnte Aha-Erlebnis beschert. Aber diese Antwort hat er nicht
aus dem Text, sondern aus seinem Glauben. Er glaubt, dass das, was
Jesaja über den Gottesknecht sagt, sich in Jesus erfüllt hat: Er
ist der, der sich widerstandslos wie ein Lamm hat zur Schlachtbank
führen lassen. Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Strafe
auf sich geladen, damit wir Frieden hätten. Er hat in seiner Erniedrigung
das Gericht über unsere Schuld auf sich genommen. Und er ist dafür
von Gott zu neuem Leben erweckt worden.

Eine Antwort des
Glaubens, wie gesagt, nicht eine Antwort des Wissens. Aber dem Äthiopier
geht dadurch ein Licht auf: „Wenn das stimmt, wenn Jesus die Schuld
der ganzen Welt auf sich genommen hat, dann gilt das ja auch für
mich. Dann muss ich nicht Jude werden, damit der Gott Israels mein
Gott wird. Sondern dann begegnet mir dieser Gott in Jesus Christus.
Und kein Hindernis steht mehr zwischen ihm und mir. Ich darf zu
ihm gehören, und er will mein Gott sein.“ Jetzt, wo ihm das aufgegangen
ist, macht der Herr Finanzminister auch gleich Nägel mit Köpfen.
Die jüdische Beschneidung ist ihm verwehrt, aber die christliche
Taufe steht ihm offen. So wie für jeden Menschen, egal, welche Voraussetzungen
er mitbringt. Gleich am nächsten fließenden Gewässer setzt er seinen
Entschluss in die Tat um. Und dann kann er fröhlich weiterziehen.
Auch ohne Philippus, der ihm auf die Sprünge geholfen hat. Denn
jetzt hat er ja den Schlüssel selber in der Hand, mit dem er die
Bibel aufschließen und gewinnbringend lesen kann.

Wollte Gott, dass
das heute auch wieder öfter geschähe! Dass wir Menschen treffen,
die uns den Sinn der Bibel erschließen. Dass die Bibel zu uns redet
– ganz aktuell und ganz persönlich. Dass sie uns hilft, unser Leben
und unsere Welt zu verstehen und einen Sinn darin zu entdecken.
Ich glaube, dass sie das kann – immer noch und immer wieder. Und
wo ich helfen kann, Sie Ihnen aufzuschließen, will ich das gern
tun – zum Beispiel nächsten Mittwoch bei „Bibel im Gespräch“: herzliche
Einladung! Ich bin überzeugt: Wenn die Bibel wieder zu uns spricht,
dann werden auch wir unsere Straße fröhlich ziehen – mit Gottes
Wort als unseres Fußes Leuchte und als Licht auf unserm Wege.

Amen.

 

Predigt vom 17.6.2012

 

 

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr.. Martin Klein
Wenschtkirche,
17.6. 2012
Text: 1. Kor 14,1-4.15-19.23-25

Neulich beim Abendmahl
in der Wenschtkirche: Unter den Teilnehmenden befindet sich ein
Trupp Konfirmanden, der schon zuvor durch Kichern, Schwätzen und
Zappeln unangenehm aufgefallen ist und nun auch beim Mahl des Herrn
die Andacht stört. Als die Presbyterin auch an die Konfis die kleinen
Kelche austeilt und dabei wie üblich sagt: „Christi Blut, für dich
vergossen“, wird sie dann noch prompt und deutlich hörbar gefragt:
„Was hast du gesagt?“

Damit ist der
Gipfel erreicht. Alle sind sich einig, dass das so nicht geht. Mit
den Konfis wird nach dem Gottesdienst ein ernstes Wort geredet,
und sie werden ohne Unterschrift nach Hause geschickt. Presbyter
bringen die Sache in der nächsten Sitzung zur Sprache. Und eine
ältere treue Gottesdienstbesucherin sagt: „Wenn ich noch mal so
ein Abendmahl erlebe, gehe ich da nicht mehr hin!“

Ich war in diesem
Gottesdienst nicht dabei. Aber ich kann die Empörung gut verstehen.
Auch ich hätte mich wahrscheinlich gestört gefühlt. Und vielleicht
hätte mich gar so ein kleiner heiliger Zorn gepackt über soviel
Missachtung von Dingen, die das Herzstück meines Glaubens bilden.
Aber die Frage „Was hast du gesagt?“, die hat mich ins Nachdenken
gebracht. Vielleicht war sie tatsächlich einfach nur albern, frech
und unpassend. Aber es könnte auch sein, dass sich hinter der Albernheit
ein echtes und ernst gemeintes Anliegen verbirgt: „Was hast du da
gesagt? Ich verstehe es einfach nicht – bitte erklär’s mir!“

Denn wir müssen
uns ja mal klar machen, wie das für einen Durch-schnitts-Konfi ist,
wenn er einen unserer Gottesdienste besucht. Erst einmal befindet
er oder sie sich in einem Lebensalter, wo Körper und Geist einem
tief greifenden Umbau unterworfen sind. Da wird sozusagen alles
auseinander genommen und neu zusammengesetzt. Wie man sich in welcher
Situation angemessen verhält, muss man auf dem Weg vom Kind zum
Erwachsenen noch mal ganz neu lernen. Schon das allein erzeugt große
Unsicherheit, und die wird dann gern durch Coolness oder Albernheit
überspielt. Dazu kommt, dass die meisten Konfis bisher nur selten
in der Kirche waren und wahrscheinlich nie in einem ganz „normalen“
Sonntagsgottesdienst. Natürlich erklären wir ihnen beizeiten, was
es mit dem Gottesdienst auf sich hat, warum er so und nicht anders
abläuft, und wie man sich da angemessen verhält. Aber erklären hilft
nicht viel. Es muss dann auch eingeübt werden. Und das geht nicht
ohne Komplikationen ab, selbst wenn es gelingt. Etwas aber steht
dem Gelingen ganz entscheidend im Weg, nämlich dass die meisten
Konfis unsere gewohnte gottesdienstliche Sprache schlicht und einfach
nicht verstehen. Was heißt denn „im Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes“? Was heißt „Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten“? Was heißt: „dein
Reich komme“? Was heißt: „der Herr lasse sein Angesicht leuchten
über dir?“ Oder eben: Was bedeutet „Christi Blut, für dich vergossen“?
Uns sind diese Worte vertraut. Uns tut es gut, sie zu hören oder
mitzusprechen. Aber könnten wir sie auch in normale Alltagssprache
übersetzen? Und haben wir schon mal versucht, sie einem Kind oder
Jugendlichen zu erklären? Wenn ja, dann können wir, denke ich, nachempfinden,
dass das alles zwar deutsche Wörter sind, dass wir aber für unbedarfte
Konfi-Ohren genauso gut die lateinische Messe wieder einführen oder
in charismatisches Zungenreden verfallen könnten.

Ja, es stimmt:
Unsere kirchliche Insider-Sprache nimmt heute genau die Stellung
ein, die zu Luthers Zeiten das Kirchenlatein und zur Zeit des Paulus
die Zungenrede innehatte. Sie werden das sofort merken, wenn ich
Ihnen nun den heutigen Predigttext vorlese. Er steht im 1. Korintherbrief
im 14. Kapitel:

 

Bemüht euch
um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen
Rede! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern
für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist
von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen
zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet,
der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die
Gemeinde.

Wie soll es
denn nun sein? Ich will beten mit dem Geist und will auch beten
mit dem Verstand; ich will Psalmen singen mit dem Geist und will
auch Psalmen singen mit dem Verstand. Wenn du Gott lobst im Geist,
wie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen auf
dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst? Dein Dankgebet
mag schön sein; aber der andere wird dadurch nicht erbaut. Ich danke
Gott, dass ich mehr in Zungen rede als ihr alle. Aber ich will in
der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit
ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen.

Wenn nun die
ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen,
es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht
sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn sie aber alle prophetisch redeten
und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von
allen geprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen
ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht,
Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.

 

„Zungenrede“ ist
natürlich auch so ein Wort, das heute kein Normal-sterblicher mehr
kennt. „Zunge“ ist hier im Sinne von „Sprache“ zu verstehen. Gemeint
ist ein vom Geist Gottes bewirkter Zustand der Ekstase. Die Betroffenen
geraten außer sich und geben dabei Laute und Worte von sich, die
in der Regel keiner real existierenden Sprache entstammen und einem
unbeteiligten Zuhörer deshalb unverständlich sind. In den frühen
Zeiten der Christenheit, als die Begeisterung noch frisch war, wurde
viel in Zungen geredet. Und in Korinth wurde diese Geistesgabe besonders
hoch geschätzt. Eine maßgebliche Gruppe in der Gemeinde hat sie
wohl als „Sprache der Engel“ gedeutet und zum Kennzeichen der wahrhaft
vollkommenen Gläubigen gemacht. Wer in Zungen redet, der schwebt
in ihren Au-gen sozusagen schon im Himmel, ist eins mit Gott und
allem Irdischen enthoben.

Paulus hat da
grundsätzlich gar nichts gegen einzuwenden. Im Gegenteil: Er sagt
von sich, dass er mehr in Zungen redet als alle an-deren und Gott
dafür dankbar ist. Er weist der Zungenrede nur ihren Platz zu, nämlich
im privaten Bereich, in der ganz persönlichen Erbauung. Dort ist
sie eine wunderbare Bereicherung und Stärkung des Glaubens. Aber
im Gemeindegottesdienst hat sie nichts verloren – höchstens dann,
wenn sie jemand in normale Sprache „übersetzen“ kann und sie so
für andere nachvollziehbar und fruchtbar macht.

Wir sehen daran,
dass der Gottesdienst für Paulus gerade keine fromme Insider-Veranstaltung
ist. Es gibt dort viele Gemeindeglieder, die die Gabe der Zungenrede
nicht besitzen. Und die haben gar nichts davon, wenn da jemand in
„Engelszungen“ redet, so toll das für die Betreffenden auch
sein mag. Sie können dazu nicht Amen sagen und es sich zueigen machen.
Sie können nicht im Glauben wachsen, wenn das Wort Gottes nicht
bei ihnen ankommt. Und außerdem geht Paulus davon aus, dass jederzeit
auch Nichtchristen im Gottesdienst auftauchen können. Wenn die erleben,
dass da erwachsene Menschen mit seligem Lächeln im Gesicht unverständliches
Zeug brabbeln, dann denken sie: „Hilfe, wie bekloppt sind die denn?“,
drehen sich um und verlassen fluchtartig das Haus. Schade um die
verpasste missionarische Gelegenheit!

Deshalb stellt
Paulus der Zungenrede die Prophetie gegenüber und räumt ihr die
höhere Stellung ein. Auch was Prophetie ist, muss man erklären.
Für uns ist ein Prophet landläufig einer, der die Zukunft vorhersagt.
Und natürlich ging es auch damals bei Prophetie um die Ansage zukünftiger
Dinge – nicht im Sinne von Zukunftsforschung oder Science-Fiction,
sondern bezogen auf die Wiederkunft Christi, die man ja damals in
naher Zukunft erwartete. Aber hier meint Paulus wohl mit Prophetie
ganz allgemein die vollmächtige Verkündigung des Wortes Gottes.
Auch sie ist nichts, was Menschen machen könnten, sondern eine Gabe
des Heiligen Geistes. Aber sie ist nicht wie die Zungenrede auf
Ekstase aus, sondern auf Kommunikation. Sie spricht nicht das Gefühl
an, sondern die Vernunft. Und sie bleibt deshalb nicht auf die persönliche
Erbauung beschränkt, sondern dient dem Aufbau der Gemeinde. Deshalb
gehört sie und nicht die Zungenrede in den Gottesdienst. Denn erst
wenn jemand wirklich versteht, was da im Namen Gottes gesagt wird,
kann er oder sie erkennen: „da geht es ja um mich, um mein Leben,
meine Schuld, mein Verhältnis zu Gott“, und erst dann kann ihr oder
ihm aufgehen: „Wahrhaftig, hier ist Gott gegenwärtig.“

Zungenrede, wie
Paulus sie erlebt und erfahren hat, gibt es auch heute noch. In
der wachsenden charismatischen Bewegung erfreut sich ähnlich großer
Beliebtheit wie damals in Korinth. Dazu wäre von Paulus her sicher
manches Kritische zu sagen. Aber ich möchte hier ja keine Fensterreden
halten und bleibe deshalb bei unserer traditionellen Gottesdienstsprache;
denn sie halte ich, wie gesagt, für unsere Form der Zungenrede.

Ich will diese
Sprache damit keinesfalls abwerten. Das dürfte schon klar sein,
wenn man beachtet, wie Paulus die Zungenrede einschätzt. Für mich
und für alle, die mit ihr vertraut sind, ist auch sie eine gute
Gabe Gottes. Wir lieben sie und möchten sie nicht missen. Wir fühlen
uns getröstet und aufgehoben, wenn wir den Psalm 23 nach Luthers
Übersetzung hören. Uns geht das Herz auf, wenn wir die schönen alten
Paul-Gerhardt-Lieder singen. Und wenn uns jemand zuspricht: „Christi
Blut, für dich vergossen“, dann spüren wir etwas von der heilvollen
Gegenwart Christi, die damit ausgesagt werden soll, dann fühlen
wir uns dem Geheimnis unseres Glaubens ganz nah. Nach einem Gottesdienst,
der in gelungener Weise mit dieser altvertrauten Sprache umgegangen
ist, werden wir mit einem guten Gefühl die Kirche verlassen und
denken: „Das war ein richtig schöner und erbaulicher Gottesdienst!“
Und was wir gehört, gesungen und gebetet haben, wird uns nach Hause
begleiten und Kraft geben für den All-tag.

Wie gesagt: Ich
danke Gott von Herzen, dass ich diese Sprache noch von klein auf
habe lernen dürfen und dass ich daraus täglich neu Gewinn für meinen
Glauben und mein Leben ziehen kann. Aber wir sehen es ja an der
schwindenden Zahl derer, die unsere Gottesdienste noch regelmäßig
besuchen: die meisten Menschen in unserem Land, ja selbst die meisten
Mitglieder unserer Kirche verstehen diese Sprache nicht mehr, haben
sie nie verstanden und werden sie aller Vor-aussicht nach auch nicht
mehr lernen. Denn eine Fremdsprache zu lernen macht Mühe – das wissen
die meisten von uns aus der Schule –, und wenn ich nicht weiß, wofür
es gut sein soll, tue ich mir das nicht freiwillig an. Aber andererseits
sitzen diese Menschen ja durchaus in unseren Gottesdiensten: als
Konfirmanden, als Kindergarteneltern, als Gäste bei einer Taufe,
Trauung oder Beerdigung. Oft sind sie dann sogar in der Mehrheit
– und wir regen uns auf, wenn sie nicht wissen, wie man sich in
der Kirche benimmt, und wenn sie uns damit die persönliche Erbauung
verderben.

Von Paulus her
müssen wir allerdings ganz klar sagen: Sie alle haben ein Recht
dort zu sein, auch wenn sie uns stören. Ja, gerade um sie geht es,
wenn wir Gottesdienst feiern. Unsere persönliche Erbauung in den
vertrauten Worten und Formen, die können wir auch für uns allein
oder im kleinen Kreis von Gleichgesinnten finden. Aber der Gottesdienst
ist und war schon immer eine öffentliche Veranstaltung. In ihm geht
es eben nicht um die Erbauung des Einzelnen, sondern um den Aufbau
der Gemeinde. Der geschieht dadurch, dass Menschen im Glauben wachsen
und ihren Platz in der Gemeinde finden. Und er geschieht dadurch,
dass Menschen, die keine Christen sind, dort dem lebendigen Gott
begegnen, umkehren und als Glied am Leib Christi ein neues Leben
beginnen.

Damit das gelingt,
braucht es auch heute die Gabe der Prophetie: Verkündigung des Wortes
Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes und in einer Sprache, die
jeder verstehen kann. Und wenn ich dann in einem Gottesdienst nur
fünf Worte sage, die bei den Konfis wirklich ankommen und ihnen
Gott näher bringen, dann ist das tausendmal mehr wert, als die beste
Predigt, der schönste Choral, das andächtigste Gebet, von dem sie
nichts verstehen.

Was heißt das
nun für uns als Gottesdienstgemeinde? Es heißt erstens, so schwer
uns das fallen mag: Wir müssen es ertragen lernen, wenn Menschen
zu uns kommen, die unsere gewohnte Ordnung stören. Denn sie haben
ein Recht, dort zu sein und Gott zu begegnen, und wir sollten froh
sein, wenn sie wenigstens gelegentlich davon Gebrauch machen, auch
wenn es für sie erst mal ganz andere Gründe haben mag, warum sie
dort hinkommen, auch wenn sie sich in unseren Augen „danebenbenehmen“,
weil sie es nicht besser wissen.

Zweitens müssen
wir uns noch viel mehr darum bemühen, unseren Glauben in den Worten,
der Musik, den Formen unserer Zeit auszudrücken, auch wenn wir dabei
auf manches verzichten müssen, was uns lieb und teuer ist. Wir müssen
die Frage „Was hast du da gesagt?“ ernst nehmen und darauf antworten
können. Denn sonst wird die Sprache unseres Glaubens eines nicht
fernen Tages so tot sein wie Babylonisch oder Altgriechisch. Das
ist natürlich in erster Linie eine Aufgabe für die Pfarrer und alle
anderen, die mit der öffentlichen Verkündigung beauftragt sind.
Aber es ist wichtig, dass mit ihrer Unterstützung auch andere Christen
sprachfähig werden, um den Menschen um sie herum ihren Glauben weitergeben
zu können – in Wort und Tat.

Und drittens –
das ist das Entscheidende – : Wir dürfen alle miteinander nicht
nachlassen, Gott immer wieder um die Gabe der Prophetie zu bitten,
wie Paulus sie versteht. Denn wir haben sie ja nicht in der Hand,
die richtigen Worte, mit denen Gott zu den Menschen reden kann.
Sie sind ein Geschenk des Heiligen Geistes. Natürlich kann er auch
unsere „Zungenrede“ auslegen und so Menschen für Christus gewinnen.
Aber wenn Paulus recht hat, spricht er doch lieber eine einfache,
klare Sprache, die auch der letzte geistliche Analphabet begreifen
kann. Wenn das geschieht – und ich glaube, es geschieht auch bei
uns öfter, als wir denken –, dann wird auch der hibbeligste Konfirmand
keinen Quatsch mehr machen. Dann wird auch die ahnungsloseste Kindergartenmutter
ihren Fotoapparat vergessen. Dann wird auch der kirchenfernste Konfirmationsgast
nicht mehr zwischendurch rauchen gehen. Sondern sie alle werden
begreifen: „Hier geht es um mich, hier redet Gott, und ich will
hören, was er zu sagen hat.“ Weil das so ist, gehört das Lied von
Manfred Siebald, das wir gleich singen, noch zur Predigt: „Gib mir
die richtigen Worte, gib mir den richtigen Ton: Worte, die deutlich
für jeden von dir reden, gib mir genug davon!“

Amen.