Predigt zum 3. Advent

 

GOTTESDIENST FÜR DEN DRITTEN
ADVENT

Talkirche, 16.12. 2012
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Jesaja 40,1-11

1
Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.
2
Redet mit Jerusalem freundlich und ruft ihr zu,
dass ihre
Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist;
denn
sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für
alle ihre Sünden.
3 Es ruft eine Stimme:
In
der Wüste bereitet dem HERRN den Weg,
macht in der Steppe
eine ebene Bahn unserm Gott!
4 Alle Täler sollen
erhöht werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt
werden,
und was uneben ist, soll gerade,
und was hügelig
ist, soll eben werden;
5 denn die Herrlichkeit
des HERRN soll offenbart werden,
und alles Fleisch miteinander
wird es sehen;
denn des HERRN Mund hat es geredet.
6
Es spricht eine Stimme: „Predige!“
Und ich sprach: „Was soll
ich predigen?
Alles Fleisch ist Gras
und alle seine Kraft
ist wie eine Blume auf dem Felde.
7 Das Gras verdorrt,
die Blume verwelkt,
wenn der Wind des HERRN darüber weht.“

„Ja, Gras ist das Volk!
8 Das Gras verdorrt,
die Blume verwelkt.
Aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“
9
Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg;
Jerusalem,
du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht;
erhebe sie
und fürchte dich nicht!
Sage den Städten Judas: Siehe, da
ist euer Gott!
10 Siehe, Gott der HERR kommt gewaltig,
und
sein Arm wird herrschen.
Siehe, was er gewann, ist bei ihm,

und was er sich erwarb, geht vor ihm her.
11
Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte.
Er wird die Lämmer
in seinen Arm sammeln
und im Bausch seines Gewandes tragen

und die Mutterschafe führen.

Es herrscht Aufbruchsstimmung
in diesem Text. Freudige Erregung und gespannte Hoffnung brechen
sich Bahn. Etwas Neues fängt an, und dafür werden buchstäblich Himmel
und Erde in Bewegung gesetzt. Befehle werden erteilt und weitergegeben:
„Tröstet“, „redet freundlich“, „bereitet den Weg“, „macht ebene
Bahn“. Es geht zu wie in einem geordneten Staatswesen – nach damaliger
Vorstellung: Der Herrscher gibt eine Anweisung, sein Wesir leitet
sie weiter an den Hofstaat, und dort veranlasst jeder an seinem
Platz das Nötige, um die Anweisung in die Tat umzusetzen. So geht
es nach diesen Worten auch im Himmel zu, wenn der HERR sich seinem
Volk wieder zuwendet.

Lange haben Jerusalem
und seine verschleppten Bewohner in Babylon nichts mehr von ihrem
Gott gehört. Seit ihre Stadt zerstört wurde und sie ihre Heimat
verloren, hat er geschwiegen. Und das Letzte, was er ihnen hatte
sagen lassen, war wenig erfreulich gewesen: „Es geschieht euch recht“,
hatte es bei Jeremia oder Hesekiel geheißen, „ihr habt meine Gebote
missachtet, ihr habt auf Kosten der Armen gelebt, ihr habt euch
in falscher Sicherheit gewiegt und ihr habt mir nicht vertraut,
sondern euch lieber auf eure Waffen und eure zweifelhaften Bündnispartner
verlassen. Und für all das trifft euch nun die Strafe – meine Strafe,
denn auch ein König Nebukadnezar handelt nur in meinem Auftrag.“

Seitdem war Funkstille
gewesen, fast fünfzig Jahre lang. Die einen hausten in den Trümmern
der zerstörten Stadt, die anderen saßen im Exil, zuerst noch auf
gepackten Koffern, dann mit wachsender Resignation. Die Alten waren
gestorben, und die nachwachsende Generation hatte sich mit den Verhältnissen
abgefunden. Die Klage-lieder über die verlorene Heimat waren anfangs
noch von Herzen gekommen, inzwischen sang man sie nur noch aus Gewohnheit
und ohne Leidenschaft. Man stumpft eben ab, wenn man keine Hoffnung
mehr hat.

Aber jetzt: Jetzt
kommt Bewegung ins Geschehen. Das babylonische Reich gerät ins Wanken
durch Thronwirren im Innern und Angriffe von außen. Und auch das
geschieht nicht einfach so. Auch hier ist wieder Gott am Werk. Doch
nun geht es nicht mehr um Strafe, denn die Strafe ist im vollen
Umfang abgeleistet. Nun soll Gottes Volk getröstet und aufgerichtet
werden. Und wenn Gott seine himmlischen Heerscharen zum Trösten
ausschickt, dann geht es nicht nur um ein paar seelische Streicheleinheiten,
nicht nur um Trauerbegleitung und Verlustbewältigung. Nein, hier
wird ein Triumphzug vorbereitet: Gott der HERR kehrt zum Zion zurück,
wo einst sein Tempel stand: mitten durch die Wüste, an der Spitze
seines Volkes, das er aus der Knechtschaft befreit hat – so wie
beim Auszug aus Ägypten damals, nur noch viel gewaltiger. Dafür
muss eine Straße her, die dem Anlass angemessen ist: breit und eben,
gut gepflastert und ohne Schlaglöcher. Wenn Hügel dafür im Weg stehen,
müssen sie eben weichen, und wenn Täler stören, werden sie aufgeschüttet.
Das wäre ein Traum für jeden Tiefbauingenieur und ein Alptraum für
die Umweltschützer; aber zum Glück waren beide damals noch nicht
erfunden. Da war nur eines wichtig: Nichts und niemand soll den
Triumphzug aufhalten können. Alle sollen es sehen und staunen, und
alle sollen davon erfahren, so schnell wie möglich.

Damit ist die
Befehlskette auf Erden angekommen, bei dem unbekannten Propheten,
der uns diese Worte überliefert hat: „Es spricht eine Stimme: Predige!“
Erzähl deinen Leuten, was sich da anbahnt! Sag ihnen, wie Gott sein
Volk trösten will! Doch hier kommt die Ausführung des himmlischen
Ratschlusses ins Stocken. Denn der Prophet ruft nicht laut „Jawohl“
und macht sich ans Werk, sondern er hat da noch eine Frage, einen
Einwand sogar: „Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras und
alle seine Kraft ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt,
die Blume verwelkt, wenn der Wind des HERRN darüber weht.“

Das ist die Sprache
der Resignation, die den Propheten und sein Volk ergriffen hat:
Was sind wir denn schon, wir Menschen? Leben für ein paar Jahre
auf dieser leidgeplagten Erde, werden plötzlich dahingerafft wie
Gras im heißen Wüstenwind. Und selbst wenn wir 70, 80 werden, war
doch nur alles Arbeit und Mühe. Was soll daran jemals anders werden?
Die Alten haben noch gehofft, irgendwann wieder nach Hause zu kommen.
Aber sie sind gestorben, und nichts ist passiert. Und deshalb glauben
wir nicht mehr an Wunder. Herrscher kommen und gehen, aber für uns
bleibt alles gleich. Das Gras ist verdorrt und wird nie wieder grün
werden. Jerusalem ist gefallen und wird nie wieder aufstehen. Also
finden wir uns besser damit ab, als von triumphaler Heimkehr zu
träumen.

Ich denke, wir
kennen sie nur zu gut, diese Stimme. Ich höre sie deutlich auch
in mir selber – gerade in diesen Adventstagen, wo die alten Verheißungen
wieder neu erklingen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es
kommt der Herr der Herrlichkeit!“ – „Tochter Zion, freue dich, sieh,
dein König kommt zu dir!“ – „Mache dich auf, werde Licht, denn dein
Licht kommt!“ Und? Wann kommt es denn endlich, das Heil der Welt?
Wenn ich die Zeitung aufschlage, finde ich jedenfalls keine Spur
davon. Das Morden in Syrien nimmt kein Ende, das in amerikanischen
Schulen offenbar auch nicht. In Mali sterben die Leute vor Hunger.
Islamisten bauen fleißig weiter Bomben, auch für deutsche Bahnhöfe.
In Europa erreichen Schulden und Arbeitslosigkeit Rekordniveau.
Und während wahrscheinlich bald die ersten Inseln im Meer versinken,
glauben die Politiker, sie hätten immer noch Zeit, über Klimaschutz
bloß zu verhandeln – ohne Lust und ohne Ergebnis. Und ich? Danke,
mir geht’s ja ganz gut. Aber rechne ich ernsthaft damit, dass Gott
noch einmal ins Geschehen eingreift und „all unsre Not zum Ende
bringt“ – nicht nur bildlich gesprochen und ansatzweise, sondern
wirklich und endgültig? Irgendwie ist das doch genauso unwahrscheinlich
wie der Weltuntergang am nächsten Freitag. Also: Was soll ich predigen?
Alles Fleisch ist doch Gras, und so wird es bleiben.

Es ist gut, dass
die Stimme, die da im Auftrag Gottes mit dem Propheten spricht,
den Einwand nicht einfach ignoriert oder wegwischt. „Du hast Recht“,
sagt sie. „Ja, es ist so: Gras ist das Volk, und das Gras ist verdorrt.
Es steht schlimm um die Welt und um die Menschen in ihr. Tod und
Vergänglichkeit bestimmen über ihr Leben, und das oft viel zu früh.
Aber damit ist noch nicht das letzte Wort über sie gesprochen, denn
„des HERRN Wort bleibt in Ewigkeit.“ Er spricht von Trost und Rettung,
und er wird Wort halten. Sein Befehl wird nicht unausgeführt bleiben.
Was er sagt, das wird geschehen, und ihr werdet es erleben.

Reicht das, um
den Einwand des Propheten zu entkräften? Reicht es, um die Resignation
zu überwinden? Da könnte man so seine Zweifel haben – angesichts
der Erfahrungen mit menschlichen Versprechungen und Ehrenworten.
Kann ja jeder behaupten, dass er zu seinem Wort steht. Aber wo bleibt
der Beweis?

Doch dem Propheten
genügt Gottes Wort. Er muss wohl zu der Überzeugung gelangt sein,
dass es tatsächlich Gottes Wort ist, was er da vernimmt. Kein bloß
menschliches Wort, das für seine Verlässlichkeit nicht gerade stehen
kann. Kein menschlicher Wunschtraum, der womöglich dem eigenen Hirn
entsprungen ist. Nein, es ist wirklich Gott, der durch seinen Boten
zu ihm redet. Und Gott wäre nicht Gott, wenn sein Wort nicht gelten
und geschehen würde.

Also lässt er
seinen Einwand fallen und führt den Befehl aus. Er predigt. Und
wie er das tut! Er wird zum Freudenboten, zum Evangelisten des Alten
Testaments. Selbst die Trümmer Jerusalems fordert er auf, es ihm
gleich zu tun: Aufzustehen aus Ruinen, sich dem Kommen Gottes zuzuwenden
und die Botschaft weiterzugeben: an alle Städte Judas, an alle Kinder
Israel nah und fern. Nicht eher ist der Auftrag „Tröstet mein Volk!“
ausgeführt, bis die ganze Welt davon erfahren hat, bis alle Menschen
erkennen: „Siehe, da ist euer Gott!“

Die große Vision
von der triumphalen Heimkehr durch die Wüste ist damals nicht Wirklichkeit
geworden. Die Offenbarung der Herrlichkeit des HERRN vor aller Welt
hat nicht stattgefunden. Was wirklich geschah, war ein bisschen
Heimkehr, ein bisschen Neuanfang, aber in viel bescheideneren Dimensionen.
Doch das Wort Gottes an den Propheten ist dadurch nicht hinfällig
geworden. Es hat weiter gewirkt, Hoffnung geweckt und genährt, Glauben
gefunden. Johannes der Täufer hat es aufgegriffen als „Prediger
in der Wüste“, als Wegbereiter des Messias. Und als der dann kam,
ganz anders, als die Propheten sich das vorgestellt hatten, da wurde
Gottes Wort eins mit unserem vergänglichen Menschsein, mit dem Fleisch,
das wie Gras ist. Und von daher und dadurch wirkt es weiter bis
zum heutigen Tag. Es spendet Trost, es richtet auf, es eröffnet
neue Wege, es nimmt sich unserer Zweifel an, es weist uns hin auf
Gott, der in Jesus längst zu uns gekommen ist, es schenkt uns Freude
mitten im Leid, Zuversicht mitten in der Angst, Leben mitten im
Tod. Wenn wir es nur hören. Wenn wir es nur auf uns wirken lassen.
Wenn uns nur aufgeht, dass es wirklich Gott ist, der da zu uns spricht.
Mag sein, dass wir das von uns aus nicht können. Aber Gott weiß
Wege, wie er uns dahin bringen kann, dass wir seiner Freudenbotschaft
Glauben schenken.

Amen.