Predigt vom 16.9.2012

 

GOTTESDIENST
FÜR DEN FÜNFZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
und Wenschtkirche, 16.9. 2012
Text: Gal 5,25-6,5

Der deutsche Durchschnittsmensch
wird immer mehr zum Einzelgänger. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte
wächst ständig – in vielen Großstädten sind es schon mehr als fünfzig
Prozent. Natürlich geschieht das nicht immer freiwillig, zum Beispiel
bei Witwen und Witwern. Und es ist auch nicht immer auf Dauer, zum
Beispiel bei Studenten. Aber viele empfinden das Single-Dasein auch
als angenehm und wollen gar nicht anders leben. Und davon ab: auch
viele Ehepaare oder Familien leben zwar unter einem Dach, aber jeder
für sich. Man hat seine eigene Arbeit oder Schule, seine eigenen
Freunde und Hobbys, seinen eigenen Computer oder Fernseher. Man
sieht sich beim Kommen oder Gehen, redet nur das Nötigste, und wenn
man doch mal mehr Zeit miteinander verbringt – zu Weihnachten vielleicht
oder im Urlaub – weiß man nicht viel miteinander anzufangen.

Man muss das gar
nicht unbedingt bedauern. Man kann die Zeiten auch glücklich schätzen,
in denen Menschen so frei und ungebunden leben können. Man kann
es durchaus genießen, sein eigener Herr zu sein und auf niemand
Rücksicht nehmen zu müssen. Und wenn man sich anschaut, was für
eine Zwangsveranstaltung das Familienleben früher oft war und manchmal
immer noch ist, dann bekommt man Verständnis für alle, die sich
lieber nicht so fest binden.

Und doch steckt
tief in uns drin wohl immer noch die biblische Weisheit: „Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Würden sonst die meisten
Jugendlichen heiraten und Kinder bekommen wollen, auch wenn sie
zu Hause eher Familienverhältnisse zum Abgewöhnen erleben? Gäbe
es sonst immer wieder Filme, in denen überzeugte Singles schließlich
doch im Hafen von Ehe und Familie landen? Gäbe es sonst all die
Kontaktanzeigen in den Zeitungen – spätere Heirat nicht ausgeschlossen?
Klar: da ist oft mehr Sehnsucht als Realitätssinn im Spiel. Aber
diese Sehnsucht ist uns offenbar nicht auszutreiben.

Soweit zum Großen
und Allgemeinen. Und wie sieht es unter uns Christen aus? Auch da
spüren wir erst mal deutlich den Trend der Zeit. Kirchenmitglied
ist man nicht mehr unbedingt lebenslang, sondern nur solange man
es zu brauchen meint – also etwa, solange die Kinder im kirchlichen
Kindergarten sind oder zum Konfirmanden-unterricht gehen. Und wenn
man irgendwo Pate werden soll oder einen Arbeitsplatz bei der Kirche
haben will, dann tritt man halt mal wieder ein. Viele Menschen fühlen
sich nicht mehr als Teil ihrer Kirche oder Gemeinde, sondern als
Konsumenten, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen. Und geglaubt
wird heute sowieso nur noch ganz individuell. Da bastelt sich jeder
nach den persönlichen Bedürfnissen selber was zurecht und bedient
sich dafür frei auf dem Weltmarkt der Religion oder der Esoterik.
Dass es wichtig sein könnte, sich gemeinsam mit anderen zu einem
bestimmten Glauben zu bekennen, dass leuchtet kaum noch jemandem
ein.

Natürlich hat
auch das seine positiven Aspekte. Auch in Glaubenssachen gab es
ja früher viel unguten Zwang und viele Lippenbekenntnisse ohne echte
Überzeugung – im frommen Siegerland mag es das sogar immer noch
geben, hier und da. Aber wenn es schon nicht gut ist, dass der Mensch
allein sei, dann trifft das für den Christenmenschen erst recht
zu. Ohne Gemeinschaft ist christlicher Glaube gar nicht denkbar.
Und wer meint, dass er auch ohne Kirche, ohne Gemeinde Christ sein
kann, der hat nicht wirklich begriffen, was Christsein heißt.

Nun muss ich das
wahrscheinlich hier und heute keinem erzählen. Denn Ihnen allen
ist die Gemeinschaft der Christen ja offensichtlich noch etwas wert,
sonst wären Sie heute nicht zum Gottesdienst gekommen. Doch wie
sie genau aussieht, diese Gemeinschaft, und wie sie funktionieren
kann, darüber sollten auch wir uns immer wieder Gedanken machen.
Am meisten können wir dazu immer noch beim Apostel Paulus erfahren.
Denn zu seiner Zeit war die Gemeinde Jesu Christi ja erst im Entstehen.
Da war viel Aufbruch und Begeisterung, aber noch wenig auf Dauer
Tragfähiges. Deshalb musste Paulus einen Großteil seiner Briefe
darauf verwenden, die Gemeinschaft der Gläubigen zu beschreiben
und zu festigen. Er tut das auch im heutigen Predigttext, im 5.
und 6. Kapitel des Galaterbriefes:

 

Wenn wir im Geist
leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach
eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.
Liebe Geschwister, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt
wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die
ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch
versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das
Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl
er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe
sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst
haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine
eigene Last tragen.

 

Das wichtigste
wird gleich am Anfang deutlich Wir sind als Christen nicht deshalb
zusammen, weil wir uns alle so nett finden. Wir gehören auch nicht
deshalb dazu, weil wir in eine christliche Familie hineingeboren
sind. Und erst recht nicht deshalb, weil wir einen Mitgliedsbeitrag
zahlen. Sondern „wir leben im Geist“, sagt Paulus. Das heißt: Wir
bilden eine Gemeinschaft und gehören dazu, weil Gott es so wollte.
Er hat uns den Glauben geschenkt. Er hat das Vertrauen zu ihm in
uns wachsen lassen. Er hat uns mit der Taufe seine Liebe zugesprochen
und alles Trennende zwischen uns beseitigt. Er schließt uns durch
den heiligen Geist mit allen Glaubenden zu einer Gemeinschaft zusammen,
die in Jesus Christus ihren Mittelpunkt hat. Und wenn er das einmal
getan hat, dann kann nichts und niemand es noch rückgängig machen.
„Ihr lebt im Geist, ihr seid geistlich“, sagt Paulus. Und das heißt
nichts anderes als: ihr gehört zu Gott und damit zueinander, ein
für alle Mal.

Die Frage ist
nur, ob und welchen Gebrauch wir davon machen. „Wenn wir im Geist
leben“, sagt Paulus, „dann lasst uns auch im Geist wandeln.“ Sei,
was du bist, heißt das knapp formuliert. Halte fest an dem, was
Gott dir mit dem Glauben geschenkt hat. Und dann führe dein Leben
so, dass es Gottes Geist entspricht, auch im Umgang mit deinen Mitmenschen
und Mitchristen. Wenn wir das nicht tun, wenn wir einfach so vor
uns hin leben, als ob es Gott nicht gäbe, dann nimmt Gott uns zwar
sein Geschenk nicht wieder weg. Aber es wäre doch schade, wenn es
bloß in der Ecke läge und weder wir selber noch andere etwas davon
hätten, oder?

Also lasst uns
anfangen, wenn wir es noch nicht getan haben, so zu leben, wie Gott
will. Nicht nur jeder für sich, sondern auch als Gemeinschaft der
Glaubenden. Wir müssen diese Gemeinschaft, wie gesagt, nicht erst
herstellen. Aber es ist unsere Aufgabe, sie zu pflegen und zu stärken,
damit wir alle etwas davon haben. Wie das gehen kann? Paulus sagt
es so: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi
erfüllen.“

Ich finde, das
ist erfreulich nüchtern formuliert. Es ist mir viel lieber, als
wenn da stünde: „Habt einander lieb!“ Das steht zwar auch in der
Bibel, aber man kann es leicht missverstehen. Gott verlangt nicht
von uns, dass wir für unsere Mitchristen liebevolle Gefühle entwickeln,
erst recht nicht, dass wir welche heucheln. Wenn wir unsere Geschwister
im Herrn nicht ausstehen können oder sie uns auf die Nerven gehen,
dann ist das halt so. Da kann und muss keiner aus seiner Haut. Trotzdem
können wir einer des anderen Last tragen. Wir können auch einem
ungeliebten Mitchristen beistehen, wenn er Hilfe braucht, können
ihm abnehmen, was ihm Leib und Seele niederdrückt – durch verständnisvolles
Zuhören, durch Worte, die Mut machen, durch tatkräftige Unterstützung.
Mag sein, dass wir uns anschließend auch besser leiden können. Aber
wir müssen nicht die dicksten Freunde werden.

Und dann ist noch
das Stichwort „einander“ wichtig. Niemand muss sich zum Lastenpackesel
für die ganze Gemeinde machen und irgendwann darunter zusammenbrechen.
Und wer seine Lasten immer gern anderen aufbürdet ohne an Gegenleistung
zu denken, der sollte den letzten Satz des Abschnitts beachten:
Vor Gott wird jeder doch seine eigene Last tragen – sprich: sein
ganz persönliches Urteil bekommen, wenn Gott Gericht hält. Und wer
immer nur nimmt und nie gibt, auf den wird dann manche Last zurückfallen.

Aber es gibt noch
etwas anderes neben dem Lastentragen, womit wir die Gemeinschaft
der Christen fördern können, und das ist realistische Selbsteinschätzung.
Vor „eitler Ehre“ warnt Paulus, vor Selbstbetrug und provozierender
Prahlerei. Und er fordert uns zur Selbstprüfung auf – gerade dann,
wenn wir Fehltritte bei anderen entdecken; denn wir sind ja selbst
nie weit davon entfernt. Ich glaube, wir können das gar nicht ernst
genug nehmen. Denn im Prinzip ist uns zwar bewusst, dass kein Mensch
unfehlbar ist, alles kann und immer recht hat. Nur fällt es uns
in der Praxis unglaublich schwer, dieses Prinzip auf uns selber
anzuwenden. Da sind dann doch immer die anderen schuld, in jedem
Konflikt liegt das Recht natürlich auf meiner Seite, und alles würde
viel besser laufen, auch in der Kirche, wenn alle endlich täten,
was ich für richtig halte. Besonders schlimm wird es für die Gemeinschaft
der Glaubenden, wenn jemand seine Rechthaberei auch noch direkt
aus der Bibel herleitet. Denn das ist die sicherste Methode, Gemeinden
zerbrechen zu lassen und Kirchen zu spalten.

Also, mit Paulus
gesprochen: „Ein jeder prüfe sein eigenes Werk!“ Und wenn ich das
tue, sollte ich mir zum Beispiel folgende Fragen stellen: Bin ich
über die Fehler anderer Leute wirklich so erhaben, dass ich mich
darüber entrüsten dürfte? Liegt das Recht in dieser oder jener Sache
wirklich ganz auf meiner Seite, oder haben die an-deren vielleicht
genauso recht, wenn ich mal in ihre Lage versetze? Muss Kirche unbedingt
so sein, wie ich sie mir vorstelle, oder kann ich anderen Vorstellungen
ihren Platz lassen, auch wenn sie mir nicht gefallen? Ist meine
Meinung in dieser oder jener Glaubensfrage wirklich biblisch fundiert
oder hängt sie doch nur an Tradition und Gewohnheit? Denken Sie
mal an diese Fragen, wenn sie sich das nächste Mal über ihre Glaubensgeschwister
und Mitmenschen aufregen! Vielleicht legt sie sich die Aufregung
dann ganz ohne Beruhigungspillen.

„Tragt einander
die Lasten und prüft euch selbst“: das könnte also ein Ansatz sein,
wie Gemeinschaft unter Christen bewusst gelebt werden kann – mit
dem heiligen Geist und im Sinne Jesu Christi. Das mag anstrengender
sein, als wenn jeder allein vor sich hin glaubt. Es mag mehr Mühe
machen als Kirchensteuer zu zahlen und bei Bedarf kirchlichen Service
in Anspruch zu nehmen. Aber es lohnt sich. Denn ich bin überzeugt:
Was wir in diese Gemeinschaft investieren, der wir durch Glaube
und Taufe angehören, das werden wir vielfältig zurückbekommen: in
Form von Halt und Sinn, von Hilfe und Anregung, von Bestätigung
und Zufriedenheit, von Lust und Lebens-freude. Und das ist noch
nicht alles, was Gott für uns bereit hält. Wer trotzdem lieber Solochrist
und Einzelgänger bleibt, der verpasst was.  Und das kann doch
keiner wollen, oder?

Amen.