Predigt zum 2. Advent

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
ADVENT

Talkirche, 9.12. 2012
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Jes 63,15-64,3

Nun ist also wieder
Advent. Wie wohl die meisten von Ihnen wissen, heißt das auf deutsch
„Ankunft“. Und wie Sie alle wissen, muss man auf Ankunften manchmal
lange warten. Und keiner tut das besonders gern. Denn:

Warten ist lästig.
Da steht man in Kälte und Regen auf dem Bahnsteig, wartet auf den
Zug und hört dann eine dieser netten Durchsagen: „Achtung an Gleis
drei: Der Regional-Express nach Hagen, planmäßige Abfahrt 9.32 Uhr,
wird voraussichtlich 20 Minuten später eintreffen. Wir bitten um
etwas Geduld!“

Warten macht unruhig.
Da hat sich die Tochter für nachmittags zum Kaffee angekündigt,
aber es wird vier, halb fünf, fünf, und niemand kommt. Und während
der Kaffee langsam kalt wird, beginnt man sich Sorgen zu machen:
„Wo bleibt sie denn nur? Ihr wird doch nichts passiert sein! Sie
hätte doch wenigstens anrufen können, wenn sie später kommt!“

Warten ist zermürbend.
Da hat der Arzt bei einer Routine-Untersuchung bedenkliche Symptome
festgestellt. Er hat Untersuchungen angestellt, Proben genommen
und eingeschickt. Aber es dauert seine Zeit, bis die Ergebnisse
kommen, und so lange verbringt man schlaflose Nächte: „Bin ich ernsthaft
krank oder ist alles ganz harmlos? Muss ich mich auf eine Operation
gefasst machen, oder vielleicht gar auf Schlimmeres?“ Und selbst
wenn der Befund schließlich Entwarnung gibt, braucht man noch eine
Weile, bis die Angst sich gelegt hat.

Warten nimmt manchmal
kein Ende. Arbeitslose warten jahrelang auf einen Job und kriegen
keinen. Alte und lebenssatte Menschen warten auf den Tod, und er
kommt nicht. Viele Menschen auf der Welt sehnen sich nach Frieden.
Seit Jahrhunderten tun sie das schon, und Antonio Vivaldi hat  mit
seinem „Et in terra pax“ ergreifende Musik zu dieser Sehnsucht geschrieben.
Aber viel zu viele Menschen warten immer noch vergebens auf Frieden,
auf Gerechtigkeit und Freiheit.

Ja, warten kann
eine Qual sein. Davon weiß auch mein heutiger Predigttext ein Lied
zu singen. Es ist ein Klagelied, und es steht in Jesaja 63 und 64:

So schau nun
vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen
Wohnung!
Wo ist nun dein Eifer und deine Macht,
deine
innere Regung und deine Barmherzigkeit?
Halte nicht an dich,
bist du doch unser Vater!
Denn Abraham weiß von uns nichts,
und
Israel kennt uns nicht.
Du, HERR, bist unser Vater;
»Unser
Erlöser«, das ist von alters her dein Name.
Ach dass du
den Himmel zerrissest und führest herab,
dass die Berge
vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet
und wie
Feuer Wasser sieden macht,
dass dein Name kund würde unter
deinen Feinden
und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn
du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten
und das man
von alters her nicht vernommen hat.
Kein Ohr hat gehört,

kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir,
der so wohl
tut denen, die auf ihn harren.

Hier warten Menschen
auf Gott. Und sie warten schon entsetzlich lange. Seit vielen Jahren
ist Jerusalem zerstört, liegt der Tempel des Gottes Israels in Trümmern.
Die Bevölkerung von Juda ist arm und machtlos, und den Nachbarvölkern
ist das gerade recht. Damit sind sie schließlich einen lästigen
Konkurrenten los. Und die Leute in Juda wissen: aus eigener Kraft
gibt es keinen Ausweg aus der Misere.  Dabei hatten sie noch
vor kurzem neue Hoffnung geschöpft: Die Babylonier, die Jerusalem
zerstört hatten, waren von den Persern besiegt worden. Und der Perserkönig
Kyros hatte den Exils-Juden in Babylon die Heimkehr gestattet. Ja,
er hatte sogar erlaubt, den Tempel wiederaufzubauen. Der Prophet,
den wir den Zweiten Jesaja nennen, schien recht zu behalten. „Jetzt
bricht eine neue Heilszeit an“, hatte er gesagt. „Gott wendet sich
seinem Volk wieder zu. Er beweist seine Macht an uns – noch herrlicher
als damals, als er unsere Vorfahren aus Ägypten befreit hat.“ Aber
aus alledem ist nichts geworden. Ein paar Leute sind aus dem Exil
heimgekehrt, sie haben auch den Grundstein zu einem neuen Tempel
gelegt, aber die feindseligen Nachbarn und die ärmlichen Verhältnisse
haben alle Blütenträume zunichte gemacht. An der trostlosen Lage
hat sich nichts geändert.

Jedenfalls noch
nicht. Denn wenn eine großartige Hoffnung einmal geweckt ist, dann
ist sie so leicht nicht wieder tot zu kriegen. Die Menschen in Juda
und Jerusalem erwarten immer noch alles von ihrem Gott. Und deshalb
haben sie das Warten noch nicht aufgegeben, so zermürbend und qualvoll
es auch ist. Allerdings ist ihr Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt.
Sie bestürmen ihren Gott geradezu mit Klagen, Bitten und Hilferufen.
Der Text, den ich gelesen habe, ist davon nur ein kleiner Ausschnitt.
Sie lassen nichts unversucht, um bei Gott Gehör zu finden.

Sie erinnern ihn
an seine großen Taten: „Damals, beim Auszug aus Ägypten, da hast
du tatsächlich den Himmel zerrissen wie einen Vorhang, der dich
vor der Welt verbarg. Du hast dein Volk befreit und die Ägypter
im Schilfmeer versinken lassen. Du hast sie durch die Wüste geführt.
Und am Berg Sinai bist du ihnen erschienen in Feuer, Donner und
Erdbeben. Keiner konnte da noch an dir zweifeln.“

Sie packen ihn
bei seiner Ehre: „Es ist doch dein Volk, das so miss-handelt wird,
es ist dein Heiligtum, das man mit Füßen tritt! Wie kannst du das
so einfach hinnehmen? Wie kannst du die Feinde nur denken lassen,
dass du deine Leute nicht im Griff hast, dass du zu schwach warst,
um sie bei der Stange zu halten?“

Sie nageln ihn
fest auf seine Zusagen: „Hast du nicht immer gesagt, dass wir dein
Volk, dein Erbteil sind? Hat es nicht immer geheißen: Barmherzig
und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte? Was ist nun
mit all diesen großen Worten?“

Sie erinnern ihn
an seine Verantwortung: „Unsere irdischen Stammväter, Abraham, Isaak
und Jakob, sind längst zu Staub zerfallen. Sie können nichts für
uns tun. Aber du, du bist doch in Wahrheit unser Vater, unser Erlöser,
unser Gott und unser Herr! Wer soll uns denn helfen, wenn nicht
du?“

Und sie trauen
ihm etwas zu: „Du hast die Macht, um die Feinde zum Zittern zu bringen
und ihnen das Maul zu stopfen. Du kannst mehr tun und bewirken,
als wir Menschen uns vorstellen können. Du kannst die ganze Weltgeschichte
umkrempeln, wenn du nur willst.“

Man kann es fast
unverschämt nennen, wie das Volk hier auf seinen Gott einredet.
Nichts lassen sie unversucht, um ihn zu einer Antwort zu bewegen.

Der Text des altkirchlichen
Gloria tut es ihnen gleich. Auch dort werden im Lobpreis alle verdienten
Ehrentitel Gottes aufgezählt: „Herr, Gott, himmlischer König, allmächtiger
Vater, Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn, Lamm Gottes, das
der Welt Sünde trägt“. Und auch dort mündet die dankbare Aufzählung
immer wieder ein in die flehentliche Bitte um Erhörung: „erbarm
dich unser, nimm an unser Gebet.“ Wir werden noch hören, was Vivaldi
musikalisch daraus gemacht hat.

Aber lohnt sich
die Anstrengung? Hat sie sich für die Menschen von Juda gelohnt?
Hat das Gloria von Vivaldi oder von wem auch immer noch einen anderen
Wert als den musikalischen und kulturellen? Bewirkt all das Beten
und Fragen, all das Singen und Reden etwas – außer vielleicht für
das eigene seelische Wohlbefinden? Oder verhallt es letztlich doch
im Nichts – weil es zu dem, den wir mit unseren Gebeten meinen,
gar nicht durchdringt? Oder weil da im Himmel gar keiner ist, der
uns zuhört?

Ich denke, wir
kennen das. Wir haben alle schon Situationen erlebt, in denen uns
danach war, Gott mit den Fragen zu überschütten, die uns quälen:
Warum treffen Leiden, Not und Tod anscheinend immer die falschen,
warum ausgerechnet mich? Warum kann ich mich abstrampeln, wie ich
will, und komme doch nie auf einen grünen Zweig? Warum schwimmen
die einen im Geld, und die anderen ertrinken in Schulden? Was soll
aus mir, aus meiner Familie, meiner Kirche, meinem Land, meiner
Welt werden, wenn alle nur noch an sich selber denken und auf den
eigenen Vorteil aus sind? Und wann antwortet Gott endlich auf diese
Fragen? Wann fängt er endlich an damit, die Welt heil zu machen,
wie er es auch uns versprochen hat – im Alten und im Neuen Testament?

Auch ich wünsche
mir manchmal, dass Gott endlich den Himmel zerreißt und sichtbar
als Herr der Welt erscheint. Damit den Armen endlich das Himmelreich
gehört. Damit die Leidtragenden endlich getröstet werden. Damit
der Hunger nach Gerechtigkeit endlich gestillt wird. Damit die Barmherzigen
endlich Barmherzigkeit erlangen. Und damit ich endlich die Zweifel
loswerde, ob ich mir und anderen nicht doch etwas vormache, wenn
ich darauf hoffe und von dieser Hoffnung rede.

Noch warte ich:
auf Antwort, auf Erfüllung, auf Gott. Und manchmal wird das Warten
lang. Aber ein Zeichen habe ich doch, dass ich nicht vergebens warte.
Der Himmel ist noch nicht zerrissen, aber er hat sich schon einen
Spalt breit aufgetan. Damals, als Jesus geboren wurde und der Engel
zu den Hirten sagte: „Euch ist heute der Heiland geboren“, bevor
er mit den himmlischen Heerscharen das allererste Gloria anstimmte.
Damals, als Jesus sich taufen ließ und eine Stimme vom Himmel sagte:
„Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Damals,
als der Auferstandene seinen Jüngern erschien und sagte: „Mir ist
gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ Ein Spalt nur, ein
Strahl vom Licht Gottes im Dunkel der Welt. Aber dieser Himmelsspalt
weckt berechtigte Hoffnung auf mehr. In den 2000 Jahren seit Jesus,
in den zweieinhalbtausend Jahren seit Jesaja ist diese Hoffnung
nie gestorben. Und wenn ihre letzte Erfüllung auch noch aussteht,
so hat sie doch vielen Menschen durch die Jahrtausende Trost und
Kraft gegeben und tut es noch – auch und gerade durch so herrliche
Musik, wie wir sie heute hören dürfen. Das alles ist zwar kein Beweis
für die Richtigkeit dieser Hoffnung. Aber doch ein Grund, mich auf
sie einzulassen. Und dann selber zu erfahren: Wer Hoffnung hat,
der kann auch warten. Und wartet nicht vergebens.

Amen.