Predigt vom 10.2.2013

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ESTOMIHI

Wenschtkirche, 10.2. 2013
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Lk 18,31-43

Jesus nahm
aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: „Seht, wir gehen hinauf
nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben
ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet
werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespieen
werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage
wird er auferstehen.“ Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn
der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit
gesagt war.

Es begab sich
aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege
saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte
er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe
vorbei. Und er rief: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“
Die aber vornan gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber
schrie noch viel mehr: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Jesus
aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher
kam, fragte er ihn: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“
Er sprach: „Herr, dass ich sehen kann.“ Und Jesus sprach zu ihm:
„Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und sogleich wurde er
sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es
sah, lobte Gott.

 

Blind sein ist
schlimm. Um das nachzuempfinden, muss ich mir nur vorstellen, ich
selber würde nichts mehr sehen können. Alles sichtbar Schöne, sei
es von Gottes oder von Menschenhand geschaffen, bliebe mir dann
verschlossen. Ich könnte nicht mehr lesen und nur noch mit Mühe
schreiben. Ich könnte nicht mehr Auto oder Fahrrad fahren und mich
überhaupt nur noch unsicher im Freien bewegen. Dank der vielen Hilfsmittel,
die es heute gibt – vom Blindenhund über die Blindenschrift bis
zum Blindengeld – könnte ich wohl meinen Alltag irgendwie bewältigen,
vielleicht sogar mit Einschränkungen weiter arbeiten. Aber wenn
es das alles nicht gäbe, bliebe mir auch nur das Los des Blinden
von Jericho damals und vieler Blinder im armen Teil der Erde heute:
Ich müsste betteln gehen und auf ein wenig Mitleid hoffen. Kein
Wunder also, dass den Blinden, der bei Lukas nicht Bartimäus heißt,
nur ein einziger Wunsch beseelt: endlich oder endlich wieder sehen
können! Endlich sich frei bewegen können und das Leben selber in
die Hand nehmen! Endlich nicht mehr auf Mitleid und Almosen angewiesen
sein! Wer wollte es ihm verdenken?

Einen Vorteil
freilich hat die Blindheit: Sie schärft das Gehör. Und so merkt
der Blinde am Geräuschpegel, dass etwas Besonderes im Gang ist:
Eine Menschenmenge naht – viel lauter, viel größer als die üblichen
Pilgergruppen, die vor dem Passafest Tag für Tag durch Jericho ziehen.
Und eine gespannte Erwartung spricht aus den Stimmen, den Tönen,
den Wortfetzen, die an das Ohr des Blinden drin-gen. Also fragt
er nach und erfährt: es ist Jesus von Nazareth, der da mit großem
Tross an ihm vorüberzieht. Jesus, der Verkündiger der Herrschaft
Gottes; Jesus, der Freund der Armen und Ausgestoßenen; Jesus, der
Wundertäter, der schon so viele geheilt hat: Gelähmte, Aussätzige,
Geisteskranke – und Blinde; Jesus, von dem man sich erzählt, er
sei womöglich der Messias, der Nachkomme des Königs David, der Israel
das Heil bringt.

Der Blinde von
Jericho begreift: das ist seine Gelegenheit – die einzige, die er
jemals haben wird! Und die wird er auf gar keinen Fall verpassen
– dazu ist er ist wild entschlossen. Aber was soll er tun? Sich
selber in die Menge stürzen und Jesus suchen? Keine Chance! Jemanden
bitten, für ihn zu Jesus zu gehen? Zu unsicher – selbst, wenn sich
überhaupt jemand dazu herablässt! Also bleibt nur eins: Er ist blind,
aber nicht stumm. Er kann schreien, und heute wird er schreien wie
noch nie in seinem Leben: „Jesus, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit
mir!“

Er macht sich
keine Freunde damit. Schreien gehört sich nicht unter kultivierten
Menschen. Wer schreit, kann sich nicht beherrschen, ist überfordert,
gilt als Nervenbündel – und hat damit schon verloren. Und wer schreit,
geht anderen auf die Nerven. Also versuchen sie ihn zum Schweigen
zu bringen: „Nun beruhig dich doch erst mal! Mit Geschrei erreichst
du gar nichts! Du musst nicht denken, nur weil du blind bist, kannst
du dir alles erlauben!“ Aber der Blinde pfeift auf die guten Sitten.
Er schreit nur noch lauter. Und erreicht sein Ziel: Jesus bleibt
stehen und ruft ihn zu sich.

„Was willst du,
dass ich dir tun soll?“ fragt Jesus ihn, und wir halten diese Frage
vielleicht für überflüssig. Was soll ein offensichtlich Blinder
schon von Jesus wollen? Bestimmt nicht nur ein Autogramm oder ein
paar Bettelmünzen! Aber Jesus will es wohl aus seinem ei-genen Munde
hören: „Traut er mir, traut er Gott wirklich zu, dass ich ihn heilen
kann? Dann soll er es auch sagen!“ So geschieht es. „Herr, dass
ich sehen kann“, antwortet der Blinde. Und Jesus sagt: „Sei sehend!
Dein Glaube hat dir geholfen.“ Das Wunder tritt ein, alle preisen
Gott dafür, und der ehemals Blinde bleibt bei Jesus. Sehenden Auges
geht er mit ihm hinauf nach Jerusalem.

Wirklich sehenden
Auges? Kann er denn ahnen, was dort geschehen wird? Kann er wissen,
dass aus dem gefeierten Davidssohn der leidende Menschensohn werden
wird? Dass man ihn an die Römer ausliefern wird, damit die ihren
Mutwillen mit ihm treiben, ihn anspucken und auspeitschen und schließlich
ans Kreuz nageln? Und kann er etwas davon wissen, dass es genau
das ist, was Gott mit ihm vor-hat und was die Propheten von alters
her angesagt haben? Seine engsten Vertrauten hat Jesus beiseite
genommen und ihnen all das gesagt: „Seht, wir gehen hinauf nach
Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist
durch die Propheten von dem Menschensohn.“ Und die Jünger haben
nichts, aber auch gar nichts davon verstanden. Sie haben kein Problem
mit den Augen und auch keins mit den Ohren, und doch bleiben sie
blind und taub für den Weg, den Jesus wirklich gehen wird. Sieht
der ehemals Blinde mehr als sie? Ist er bereit, nicht nur mit Jesus
zu ziehen sondern auch mit ihm zu leiden? Oder wird er zu denen
gehören, die beim Einzug in Jerusalem „Hosianna dem Sohn Davids“
schreien, aber sich dann unterm Kreuz enttäuscht von Jesus abwenden?
Eine spannende Frage, die uns die Bibel leider nicht beantwortet.

Also sollten wir
uns lieber selber fragen: Wo finden wir uns denn wieder in diesem
ganzen Geschehen?

Gehören wir zu
den Jüngern, die bestens informiert sind und doch nichts verstehen?
Das ist nicht so unmöglich, wie es klingt. Eine Botschaft mag noch
so wichtig und wahr sein – wenn uns einfach die Antenne fehlt, um
sie zu empfangen, wird sie nicht bei uns ankommen. Ein Menschensohn,
der leidet und stirbt und nach drei Tagen aufersteht, statt mit
den Wolken des Himmels zu kommen, um Gericht zu halten? Das ging
einfach über den Horizont eines frommen Israeliten. Es war nicht
zu begreifen, bevor es geschehen war. Erst mit der Auferstehung
wird der Sinn des Ganzen offenbar. Dann, auf dem Weg nach Emmaus,
wird Jesus den Jüngern noch einmal die Botschaft der Propheten auslegen,
und dann werden sie verstehen.

Geht es uns genauso?
Kennen auch wir die Botschaft der Bibel bestens und haben sie doch
nie im Innersten verstanden, weil uns der Auferstandene noch nie
begegnet ist? Dann möge es bald geschehen! Mögen wir bald spüren
und begreifen, dass Jesus Christus nicht nur eine Person der fernen
Vergangenheit ist, sondern lebendig und wirklich ist in jedem Gottesdienst,
bei jedem Abendmahl, bei jedem Lied oder Gebet, das in seinem Namen
gesprochen oder gesungen wird.

Oder gehören wir
zu der Menge: zu denen, die aus Gewohnheit hinter Jesus her trotten
und dabei nicht gestört werden möchten? Gehen auch uns die Glaubensgeschwister
auf die Nerven, die ihre Not zu laut und zu penetrant herausschreien?
Schütteln auch wir den Kopf über Mitchristen, denen es nicht darum
geht, den Anstand und die Tradition zu wahren, sondern um den unmittelbaren
Kontakt, um die direkte Erfahrung der Gegenwart Gottes? Dann erleben
hoffentlich auch wir, dass diese Menschen uns etwas voraus haben:
dass sie Jesus nahe kommen und dass es sie verändert – so wie den
Blinden, der endlich sehen konnte. Denn wenn wir das erleben, dann
kann es auch uns verändern – so wie die Menschenmenge um Jesus,
die Loblieder sang, als sie sah, was geschehen war.

Oder gehören wir
zu den hellsichtigen Blinden – zu denen, die wissen: Nur der kann
mich retten, und die alles dafür tun, damit es auch geschieht? Das
würde ich mir für uns am meisten wünschen. Denn dann würden wir
uns ganz auf Jesus ausrichten, uns ihm völlig anvertrauen und bei
ihm einen Halt finden, den uns niemand nehmen kann. Und wir würden
erfahren, dass er mehr ist als der Sohn Davids, dass in ihm nicht
nur der König zurückkehrt zu seinem Volk, sondern Gott zu den Menschen
kommt. Und wir würden ihm folgen, egal, wohin er uns führt, denn
nirgendwo kann es besser sein als in seiner Nähe.

Amen.