Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 20.11.2022

GOTTESDIENST FÜR DEN EWIGKEITSSONNTAG

Text: Mk 13,31-37

Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mit­ternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

„Seid wachsam!“ Gleich viermal steht diese Aufforderung in unse­rem Predigttext. Dem Evangelisten, der diese Worte Jesu zusam­mengestellt hat, scheint das also wirklich wichtig gewesen zu sein: „Seid wachsam! Seid immer bereit für das Ende der Welt. Seid im­mer be­reit, eurem Herrn zu begegnen, wenn er kommt. Denn keiner weiß die Stunde, also kann es jeden Moment soweit sein.“ Offenbar hatten schon die ersten Leser des Markusevangeliums diese Ermah­nung nötig. Auch sie waren schon müde von vierzig Jahren Warten auf die Wie­derkunft Christi. Auch sie waren schon versucht zu den­ken: „Der kommt nicht mehr, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Also können wir uns getrost für eine Weile schlafen legen und unser Glaubensleben ruhig angehen lassen.“

Kein Wunder, dass es uns erst recht so geht. Wer rechnet schon heute noch ernsthaft mit dem Jüngsten Tag? Ein Atomkrieg mag immer noch die Erde verwüsten, der Klimawandel mag sie in wei­ten Teilen unbewohnbar machen – das sind leider nur zu reale Gefahren, und sie bereiten uns Angst und Sorge. Aber dass der Menschensohn mit den Wolken des Himmels kommt und Him­mel und Erde neu macht – das passt nicht mehr in unser Weltbild.

Aber was wäre, wenn es doch stimmt? Was wäre, wenn Gott doch eines Tages erscheint und die Welt verwandelt? Der Schriftsteller Albrecht Gralle hat sich das vorzustellen versucht. In einer Erzäh­lung schreibt er von fünf Leuten in einem Zugabteil: Da sitzt ein alter Bauer, der noch selbstverständlich an das glaubt, was er im Konfir­mandenunterricht gelernt hat; neben ihm eine junge Frau, die an ei­ner unheilbaren Krankheit lei­det; dann noch ein Student, der von Gerechtigkeit für die Armen und Unter­drückten träumt; eine Lehre­rin, die immer schön auf dem Boden der Tatsachen bleiben möchte; und schließlich ein Theologieprofessor, der über Bi­bel und Christen­tum bestens Bescheid weiß, aber selber nicht wirk­lich daran glauben kann. Während einer langen Nachtfahrt kommen die fünf miteinan­der ins Gespräch, diskutieren über Gott und die Welt, kommen sich näher und bleiben sich doch fremd.

Als es Tag wird, steigt ein junger Mann zu und setzt sich auf den freien Platz im Abteil. In der Hand trägt er einen länglichen Koffer aus schwarzem Leder. Unaufgefordert stellt er sich seinen Mitreisen­den vor: „Ich bin ein Engel. Ich bin gekommen, um in einer Stunde die letzte Posaune zu blasen. Das Ende ist da!“ Die anderen reagieren unterschiedlich auf seine Ankündigung. Der alte Bauer, der noch in der letzten Nacht von einer Fahrt ins Ungewisse geträumt hat, weiß nun, wohin die Reise geht. Die junge Frau erkennt im Gespräch mit dem Engel, dass das Ende der Welt die Erfüllung bringt, auf die sie insgeheim ihr ganzes Leben gewartet hat. Der Student ist völlig ver­stört und äußert zunächst Unglauben und dann Protest. Er findet es ungerecht, dass Gott so von heute auf morgen alles durcheinander­bringt. Die Lehre­rin ist einfach nur starr vor Entsetzen. Und der Theo­­lo­gie­professor, der ja „weiß“, dass die biblischen Engel nur „Symbole hereinbre­chender Transzendenz“ sind, verbittet sich den üblen Scherz und will dem jungen Mann die Posaune abnehmen. Erst als er sich an dem Instrument die Finger verbrennt, dämmert ihm, dass es doch wahr ist, was er bisher so schön theologisch wegerklärt hat. Dann bläst der Engel in seine Posaune, die Welt vergeht und alles wird erfüllt von himmlischem Lobgesang.

Könnte es so sein, das Ende der Welt? Könnte es so plötzlich über uns hereinbrechen, wie es hier beschrieben wird, und wie es Jesus im Predigttext ankündigt? Ich weiß es nicht. Wenn ich die Bibel ernst nehmen will, bin ich gut beraten, wenn ich es nicht einfach für un­möglich halte. Sonst könnte es mir eines Tages so gehen wie dem Theologieprofessor in der Erzählung. Aber ich bin nun einmal ein irdisches Wesen, das mit einem irdischen Verstand ausgerüstet ist. Deshalb liegt es jenseits meiner Vorstellungskraft, dass plötzlich eine ganz andere Welt in meine irdischen Horizonte einbricht und sie zum Vergehen bringt. Und ich denke, das ist auch gut so. Denn wenn ich verant­wortungsbewusst in dieser Welt leben will, muss ich einfach davon ausgehen, dass sie Bestand hat. Ich muss davon ausgehen, dass mein Handeln Auswirkungen hat, die bis in eine noch ferne Zu­kunft rei­chen. Ich kann eben nicht mit meiner Welt umgehen, als hätte ich noch eine zweite im Kofferraum. Dann würde ich auch nicht ernst nehmen, dass sie Gottes gute Schöpfung ist.

Andererseits: Die Reaktionen der Menschen aus der Erzählung, die sind mir durchaus vertraut. So verhalten sich Menschen, denen be­wusst wird, dass sie bald sterben müssen. Manche verfallen in einen Schockzustand. Manche wollen es nicht wahrhaben. Manche protes­tieren und versuchen sich zu wehren. Manche versuchen mit dem Tod zu verhandeln: „Lass mich nur dies oder jenes noch erleben, dann kann ich in Frieden sterben.“ Manche tragen nach außen Gelas­senheit zur Schau und sind doch innerlich aufgewühlt. Manche be­grüßen den Tod auch wie einen langerwarteten Freund. Und manche machen alle diese Reaktionen durch – nacheinander oder gleichzei­tig.

Denjenigen unter Ihnen, die in diesem Jahr einen lieben Menschen verloren haben, sage ich damit nichts Neues. Sie kennen diese Reak­tionen von denen, die Sie begraben mussten, und wohl auch von sich selbst als Trauernden. Und deshalb werden Sie mir wohl bei­pflich­ten, wenn ich sage: Über mich persönlich kann das Ende der Welt in der Tat sehr schnell hereinbrechen. Es reicht ein banaler Autounfall, wie er jährlich tausendfach auf unseren Straßen passiert. Es reicht ein unentdecktes Leiden, das mir eines Tages plötzlich das Herz ver­sa­gen lässt. Und selbst wenn ich alt, krank und gebrechlich werden sollte, kann der Tod mich und meine Angehöri­gen immer noch in einem Moment treffen, in dem keiner damit ge­rechnet hat. Also dürfte auch im Blick auf unseren eigenen Tod die Mahnung gelten: „Seid wachsam, denn ihr wisst nicht Zeit noch Stunde!“

Aber was heißt das dann für jeden einzelnen von uns? Wie soll sie aussehen, unsere Wachsamkeit? Natürlich können wir uns nicht ständig bewusst sein, dass uns jederzeit der Tod ereilen kann. Dann wären wir nicht mehr lebenstüchtig. Aber einige Ratschläge kann ich uns vielleicht trotzdem geben – Ihnen, und mir selber auch.

Der erste ist: Verdränge nicht jeden Gedanken an den Tod aus dei­nem Leben. Trotz all der vielen Bücher und Diskussionen über Tod und Sterben ist das wohl immer noch ein Ratschlag gegen den Trend. Wir haben es weit gebracht in der Fähigkeit, uns den Tod möglichst weit vom Leib zu halten: Gestorben wird im Krankenhaus, aufge­bahrt wird in der Lei­chenhalle, beerdigt wird möglichst unauffällig im engsten Familien­kreis, und immer mehr Gräber bleiben anonym. Ich stelle das nur fest und möchte niemandem daraus einen Vorwurf ma­chen. Aber ich glaube nicht, dass uns diese Entwicklung gut tut. Denn viele von Ihnen haben es in diesem Jahr erlebt, dass der Tod sich um keine Verdrängungsversuche schert. Irgendwann werden wir mit ihm kon­frontiert, ob wir wollen oder nicht. Aber je besser wir ihn aus unse­rem täglichen Leben verbannt haben, desto mehr wirft er uns aus der Bahn, wenn er uns tatsächlich begegnet. Ich denke also, wir sollten uns wieder bewusster werden, dass der Tod zum Leben ge­hört. Er würde uns dann wohl nicht mehr so unvorbereitet treffen und so stumm und hilflos machen.

Der zweite Ratschlag ist: Lebe bewusster. Unser Leben ist ein ein­maliges Geschenk Gottes, und wir wissen nicht, wie lang es noch währen wird. Viel zu kostbar ist es, um es zu verschleudern, indem ich leichtfertig meine Gesundheit ruiniere. Viel zu wertvoll, um es mit Terminen voll zu stopfen, bis ich nicht mehr zum Ruhen oder Nachdenken komme. Viel zu bunt und vielfältig, um es nur mit Ar­beit zuzubringen. Viel zu groß, um alles, was es mir schenkt, nur für mich zu behalten. Und weil das so ist, hängt die Qualität eines Le­bens auch nicht von seiner Dauer ab. Wenn ein Kind stirbt, ist das für uns schrecklich. Und doch kann dieses Kind ein erfülltes Leben ge­habt haben. Andere dagegen werden achtzig, neunzig Jahre alt und haben doch nie wirklich gelebt.

Diese beiden Ratschläge sind natürlich nichts anderes als schlichte Lebensweisheiten. Man muss nicht unbedingt Christ sein, um sie gut zu finden und zu befolgen. Ich denke, sie gehören zu dem, was Jesus mit seiner Mahnung zur Wachsamkeit meint, aber sie um­schreiben sie noch nicht erschöpfend. Damit aus der Wachsamkeit ein Element unseres christlichen Glaubens wird, muss noch ein drit­ter Ratschlag dazu kommen: Rechne damit, dass Gott sogar aus dem Tod neues Leben schaffen kann.

Dieser Ratschlag ist keine schlichte Lebensweisheit mehr. Er setzt voraus, dass ich an den Gott glaube, der Jesus von den Toten aufer­weckt hat und der deshalb auch mich vom Tod erwecken kann und will. Und jedenfalls für mich gilt, dass ich ohne diesen Glauben auch die ersten beiden Ratschläge nicht befolgen könnte. Ohne diesen Glauben könnte ich nicht mit dem Gedanken an den Tod leben, mit dem ja dann alles aus wäre. Ohne diesen Glauben, könnte ich aber auch mein Lebensgeschenk nicht so annehmen, wie es ist. Ich müsste immer befürchten, zu kurz zu kommen, etwas zu verpassen, mit mei­nem Lebensentwurf nicht zum Ziel zu kommen. Wenn es aber stimmt, dass Gott die Toten auferweckt, dann kann er auch die un­vollendeten Bruchstücke meines Lebens über den Tod hinaus ganz und heil machen. Dann ist es auch nicht einfach egal, wie ich lebe, sondern dann weiß ich, dass ich Gott für mein Leben verantwortlich bin und eines Tages vor ihm Rechenschaft ablegen muss. Wachsam sein heißt dann, mich zu bemühen, mein Leben so zu führen, dass es vor Gott bestehen kann.

Ich denke, wenn wir diese drei Ratschläge befolgen, dann wird Gott uns bereit finden, wenn das Ende kommt – für uns persönlich oder auch für die Welt im Ganzen. Dann können wir im Frieden von der Welt Abschied nehmen und zuversichtlich ihm entgegen gehen. Was auch immer dann kommt: Gott wird da sein und uns mit seiner un­endlichen Liebe umfangen. Darauf vertrauen zu können, das muss und kann uns genügen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein