Predigt Talkirche, 24.12.2022

CHRISTVESPER AM HEILIGEN ABEND

Text: Lk 2,1-20

„Zeitenwende“ – das ist das Wort des Jahres 2022. Unser Bundeskanz­ler beschrieb so die Bedeutung des russischen Angriffs­kriegs gegen die Ukraine. Und in der Tat: seit 1939 hat in Europa niemand mehr einen solchen Krieg vom Zaun gebrochen. Damit steht auch bei uns die Landes- und Bündnisverteidigung wieder auf der Tagesordnung, von der sie lange verschwunden war. 100 Milliar­den Euro Sondervermögen für die Ausrüstung der Bundeswehr erschei­nen da plötzlich als Selbstverständlichkeit. Und wer immer für eine friedliche Koexistenz mit Russland eingetreten ist, gerät in Erklärungsnöte.

Aber hat sich wirklich so viel geändert am 24. Februar 2022? Schließ­lich hat der Krieg gegen die Ukraine schon vor Jahren begon­nen – nur bekommen auch wir ihn jetzt mehr zu spüren. Und all die Prob­leme, die die Menschheit sonst noch zu lösen hat, waren auch schon vorher da – sie sind jetzt höchstens noch drängender gewor­den.

Nein, eine echte Zeitenwende hat es in diesem Jahr nicht gegeben. Denn das müsste eine Wende zum Guten sein, nicht eine Wende vom Schlechten zum Schlechteren. Und es müsste eine bleibende, eine endgültige Wende sein, nicht einer der zahlreichen Wende­punkte der Geschichte, von denen unsereins schon einige erlebt hat.

Aber gab es so etwas überhaupt schon mal? Kann es so etwas über­haupt geben? Wenn ja, dann ist es in der Tat das Ereignis, nach dem nicht nur Christen ihre Jahre zählen: Christi Geburt, von der uns die Weihnachtsgeschichte nach Lukas erzählt. Wir haben sie eben ge­hört, wie alle Jahre wieder. Wir kennen sie längst in- und auswen­dig. Und weil sie uns so vertraut ist, nehmen wir gar nicht mehr wahr, dass uns hier etwas grundstürzend Neues berichtet wird – etwas, das den Namen „Zeitenwende“ wirklich verdient. Schauen wir also noch mal hin und versuchen wir zu entdecken, was es damit auf sich hat:

Die Geschichte beginnt mit Kaiser Augustus. Dichter und Inschriften haben auch ihn als Urheber einer Zeitenwende gepriesen. Nach Jahr­zehnten des Bürgerkriegs hatte er dem Römischen Reich den er­sehnten Frieden gebracht. Des­halb verzieh man ihm in Rom, dass er dafür massiv über Leichen ge­gangen war und sich zum Alleinherr­scher aufgeschwungen hatte. Und man sah großzügig darüber hin­weg, dass Krieg und Unterdrückung an den Rändern des Imperiums weitergingen – von Germanien bis nach Palästina.

Dort, in der südöstlichen Ecke des Reiches, bekam ein junges Paar das zu spüren, so erzählt uns Lukas. Der erhabene Kaiser in Rom wusste nichts von ihnen, aber selbst wenn, wäre ihm ihr Schicksal egal gewesen. Er brauchte Geld und er brauchte Soldaten, um sein Riesenreich zusammenzuhalten, und eine Volkszählung sollte ihm beides liefern. Also musste sich eine hochschwangere Frau mit ih­rem Verlobten auf eine beschwerliche Reise begeben. Also bekam sie ihr Kind unterwegs, an einem fremden Ort. Also hatte sie keinen anderen Platz für ihr Baby als einen Futtertrog, wahrscheinlich nicht mehr als eine Kuhle aus Lehm in einem Stall oder einer Höhle oder einer klei­nen Behausung, wo Mensch und Vieh unter einem Dach lebten.

Bis jetzt sieht hier noch nichts nach „Zeitenwende“ aus. Maria gebar zwar ihr Kind unter widrigen Umständen, aber so etwas geschah damals weder zum ersten noch zum letzten Mal. Wie viele ukraini­sche Kin­der werden in diesem Jahr in einem Luftschutzkeller gebo­ren sein, auf einer Geburtsstation ohne Strom und Heizung oder in einem fremden Land, weit weg von Zuhause! Nichts Besonderes also – leider! Nur die Herkunft des Josef lässt aufhorchen: das Haus David, das alte israelitische Königshaus, Träger so vieler Verheißun­gen. Aber was nützt einem obdachlosen Arme-Leute-Kind ein großer Name? Was nützt es den Hirten rund um Bethlehem, dass David einer der ihren war, bevor er König wurde?

Nein, Gott muss schon noch etwas tun, damit Menschen erkennen, dass mit dieser Geburt alles anders wird. Er muss einen Boten schi­cken – wir sagen „Engel“ dazu. Der hat nun in der Tat Erstaunliches anzusagen: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Chris­tus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Und damit die Hirten ihm das auch glauben, setzt Gott noch einen drauf. Er ordnet eine Generalmobilmachung an. Geschlossen lässt er die himmlischen Heerscharen antreten – nein, nicht um auf Erden einzumarschieren, nicht um die Legionen des Augustus bei­seite zu fegen und mal wirklich für Frieden zu sorgen, sondern um – ein Lied zu singen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Seltsame Beschäftigung für eine Armee – und sei es eine aus Engeln! Aber die Zeitenwende, die hier passiert, die findet dadurch ihren deutlichsten Ausdruck. Denn wir können ihn nicht schaffen, den Frieden auf Erden, weder mit noch ohne Waffen. Mit Waffen kommt bestenfalls sowas wie die „Pax Romana“ des Augustus dabei heraus – oder wie die Kapitulation der deutschen Wehrmacht anno 45. Und ohne Waffen geht es nur so lange gut, bis jemand kommt, der skrupellos genug ist, um diese Wehrlosigkeit auszunut­zen. In beiden Fällen schaffen wir den Krieg nicht aus der Welt, und all die anderen Geißeln der Menschheit auch nicht. Selbst himmli­sche Frie­denstruppen, die Gott hätte schicken können, hätten daran nichts geändert. Denn die Menschen wären die gleichen geblieben: böse in ihrem Dichten und Trachten von Jugend auf, entfremdet von ihrem Schöpfer, verfeindet mit ihresgleichen und mit der übrigen Schöp­fung.

Deshalb fängt Gott es ganz anders an, und das heißt: er fängt mit sich selber an. Er schließt von sich aus Frieden mit den Menschen, indem er einer von ihnen wird. Er entwaffnet sich radikal. Er wird ein wehrloses Kind. Er liefert sich der Feindseligkeit der Menschen aus. Fast kostet ihn das schon kurz nach der Geburt das Leben. Aber auch, als es dann wirklich so weit ist, wehrt er sich nicht, lässt sich fesseln, misshandeln und ans Kreuz schlagen. Viele andere sind schon so gestorben; viele sterben immer noch so, und nichts ändert sich. Aber wenn Gott Mensch wird und so stirbt, dann ändert das alles. Dann behält nicht der Tod das letzte Wort, sondern das Leben. Dann endet nicht alles in Gewalt, Zerstörung und Untergang, son­dern dann kehrt wirklich Frieden ein. Denn dann ist der Friede zwi­schen Gott und Mensch geschlossen und besiegelt. Er muss nur noch einkehren in unsere Herzen und von dort ausstrahlen in un­sere Welt – bis der umfassende Friede herrscht, den das hebräische Wort Schalom bezeichnet. Bis Gott für eine Welt sorgt, wo alles gut wird und alle Wunden heilen.

„Ah, da ist sie wieder“, denkt jetzt vielleicht mancher, „die typisch pastorale Weihnachtslyrik. Seit 2000 Jahren erschallt sie immer wie­der und bleibt doch ohne Folgen. Spätestens nach Neujahr ist dann doch wieder alles wie immer.“

Denken Sie nur nicht, dass mir solche Gedanken fremd sind! Ich frage mich das doch selber bei jeder Weih­nachtspredigt, die ich vorbe­reite: Kann ich das wirklich so sagen? Und kann ich dazu ste­hen? Oder sollte ich mich ehrlicher­weise dem Kollegen Otfried Hal­ver anschließen, der diese Fragen schon vor über fünfzig Jahren mit Nein beantwortete? „Nein“, sagte er, „Ich will nicht mehr predigen. Ich höre auf damit. Ich denke mir keine neuen Verfahren mehr aus, mit de­nen ich noch weiter Gott und der Welt vorspiegele, hier sei etwas los, was die Welt verändert.“

Allerdings sagte er das – in einer Predigt. Und auch mich sehen Sie heute dann doch wieder auf der Kanzel stehen. Obwohl „Zeiten­wende“ anschei­nend immer noch nur ein Wort ist, und sei es das Wort des Jahres. Obwohl ich die Wahrheit des Friedens Gottes nicht garantieren kann. Und ich mache das nicht nur, weil’s halt mein Job ist, sondern weil ich mindestens zwei gute Gründe dafür habe.

Der eine Grund, das sind Sie alle, die heute hier sind. Denn ist ja nicht wahr, dass Menschen nur aus sinnent­leerter Tradition an Heilig­abend in die Kirche gehen. Wer mit Weihnachten gar nichts mehr anfangen kann, der bleibt heutzutage gleich zu Hause. Aber Sie haben sich aufgemacht und sind hergekommen. Und das zeigt mir, dass die Weihnachtsbot­schaft wirkt, immer noch. Vielleicht nicht unbedingt durch meine Predigt. Aber durch die Lieder, die Musik, die Atmosphäre hier in der Kirche. All das zieht offenbar im­mer noch viele Menschen an, auch wenn sie mit dem Glauben ihre Probleme haben und mit der Kirche erst recht. Und ich kann mir das nicht anders erklären als mit der vielleicht nur untergründigen Sehn­sucht, dass es wahr sein möge, was die Engel verkündet haben. Des­halb ist es für mich der Mühe wert, dass wir uns dieser Wahrheit immer wieder neu vergewis­sern – Sie mit mir und ich mit Ihnen.

Und es gibt noch einen zweiten Grund. Er besteht darin, dass der Friede Got­tes eben doch Zeichen setzt in unserer ganz realen Welt. Diese Zeichen mögen eher bescheiden sein. Sie gehören eher nicht in die Kategorie „singende Engel­chöre“. Besser passen sie zu den Windeln und dem Futtertrog. Aber ein wenig von der „Klar­heit des Herrn“ leuchtet auch aus ihnen her­vor. Von einem solchen Zeichen will ich Ihnen erzählen, weil es das „Brot-für-die-Welt“-Projekt ist, das wir in diesem Jahr besonders unterstützen. Es handelt sich um ein Friedens-Projekt in Armenien. Dieses uralte Land und Volk hat eine leidvolle Geschichte hinter sich. 1915 kostete eine brutale Zwangs­umsiedlung durch die türkische Regierung 1,5 Millionen Arme­nier das Leben. Kein Wunder also, dass abgrundtiefe Feind­schaft herrscht zwischen Armeniern und Türken bzw. Aserbeid­scha­nern, die mit den Türken verwandt sind. Sie entlädt sich immer wie­der im Konflikt um die umstrittene Provinz Berg-Karabach – zuletzt noch in diesem Jahr. Um den Hass zu überwinden, hat nun der Arme­nier Vardan Hambardzumyan das Projekt „Roots for Reconcilia­tion – Wurzeln der Versöhnung“ ins Leben gerufen. Es führt jedes Jahr Sommercamps für junge Leute aus Berg-Karabach durch, um ihnen Perspektiven für ein Leben in Frieden zu eröffnen. Und es beteiligt sich an Friedens-Workshops des YMCA, bei denen sich junge Men­schen aus ganz Europa treffen, wo Armenier und Aserbeidschaner sich begegnen, aber auch Russen und Ukrainer, um Feindschaften und Vorurteile zu überwinden und gemeinsam Wege für ein friedli­ches Zusammenleben zu finden. Das sind kleine An­fänge, gewiss, klein und leicht zu übersehen. Und doch: wo sich auch nur zwei oder drei Menschen miteinander versöhnen, da fin­det die wahre Zeitenwende statt, da ist der Mensch gewor­dene Gott am Werk, da wächst der „Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefal­lens.“ Und wenn wir deshalb Weihnachten feiern mit al­lem, was dazugehört, dann haben wir wirklich allen Grund dazu. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein