Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 3. April 2022

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG JUDIKA

Text: Mk 10,35-45

Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden.“ Er sprach zu ihnen: „Was wollt ihr, dass ich für euch tue?“ Sie sprachen zu ihm: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herr­lichkeit!“ Jesus aber sprach zu ihnen: „Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?“ Sie sprachen zu ihm: „Ja, das können wir.“ Jesus aber sprach zu ihnen: „Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu mei­ner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.“

Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächti­gen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der wird euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der wird aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“

Ganz schön dreist, die beiden: wollen sich mal eben im Vorbeigehen die besten Plätze im Himmelreich sichern! Der Chefsessel ist besetzt, das akzeptieren sie immerhin. Aber die Stellvertreterposten, die hal­ten sie durchaus für angemessen. Wer wäre auch zum Vizechef bes­ser geeignet als die beiden Söhne des Zebedäus, die Jünger der ersten Stunde und engsten Vertrauten Jesu? Gut, Petrus viel­leicht, aber der ist hinter seiner großen Klappe doch ein eher schwa­cher Charakter. Der wird dem Druck nicht standhalten, wenn’s wirklich ans Ein­ge­machte geht. Aber Jakobus und Johannes trauen sich das zu. Sie sind bereit, den Kelch des Leidens zu leeren, bis zur bitteren Neige. Und wenn das Bekenntnis zu Jesus es erfordert, dann werden sie für ihn auch sterben und mit ihm untergetaucht werden in die Nacht des To­des. Für soviel Treue und Leidensbereitschaft wird man ja wohl mal nach den Ehrenplätzen fragen dürfen.

Geschickt wenden die beiden die gleiche Taktik an, die auch Kinder und Jugendliche gern benutzen: Du hast ein Anliegen, das bei deinen Eltern nicht unbedingt auf Begeisterung stoßen wird? Dann entlocke ihnen möglichst beiläufig eine allgemeine Zusage und rücke erst da­nach mit Einzelheiten heraus! Aber Jesus durchschaut die Taktik. Er verspricht nichts, ehe er genau weiß, worum es geht. Und nachdem er es weiß, lässt er sich auf den Handel nicht ein. Die Eignung für die angestrebten Posten spricht er den bei­den gar nicht mal ab. Sie mö­gen sich zwar über die Konsequenzen ihres Ehrgeizes noch nicht im Klaren sein. Aber Jesus traut ihnen durchaus zu, dass sie für ihn auch sterben würden. Zumindest bei Jakobus ist es ja später so gekommen, als er unter Herodes Agrippa zum Märtyrer wurde. Doch Jesus macht ihnen klar, dass im Reich Gottes andere Gesetze herrschen. Da zählt nicht der größte Glau­bensheld, sondern der treuste Diener am meis­ten. Und wer das ist, darüber entscheidet nicht die eigene Einschät­zung, noch nicht einmal das Urteil Jesu, sondern Gott allein.

Die anderen Jünger ärgern sich, als sie vom Vorpreschen der Zebe­däus-Söhne erfahren, und wahrscheinlich können wir sie gut verste­hen. Denn auch bei uns ist niemand gut gelitten, der allzu offen nach Höhe­rem strebt und allzu offen zeigt, wie gut er ist – oder zumindest, für wie gut er sich hält. „Streber“ nennen wir solche Leute in der Schule, „Karrieristen“ im Berufsleben, „Frömmler“ in der Kirche. Selbst wenn sie ihr Vorankommen in Schule, Beruf und Gesellschaft wirklich verdient haben, dürfen sie bei uns Normalmenschen viel­leicht mit Respekt, aber nicht mit Liebe rechnen. Denn wir mögen nun mal keine Leute, die allzu selbstbewusst aus der Masse heraus­ragen – und sei es nur, weil wir uns neben ihnen so klein vorkom­men.

Aber mit dieser Einstellung sind wir natürlich genauso den Gesetzen dieser Welt verfallen wie mit dem Strebertum und der Ellbogen­mentali­tät, die wir verurteilen. Eben weil wir wissen, wohin übertrie­bener Ehrgeiz führen kann und wie leicht Macht zu miss­brauchen ist, sorgen wir dafür, dass niemand zuviel Macht bekommt und verteilen sie möglichst gleichmäßig auf möglichst viele. Dass wir damit an Grenzen stoßen, weil Macht und Ge­genmacht sich gegenseitig aufhe­ben, das merken wir gelegentlich in der Politik. Da ist die Macht zwischen den Instanzen, den Parteien, den Interessengruppen so gut verteilt, dass es oft selbst da nicht mehr vorwärts geht, wo es drin­gend gehen müsste. Andererseits: Was passieren kann, wenn jemand die Macht mehr oder weniger allein in Händen hält, das demonstriert uns gerade Wladimir Putin. Da ertrage ich doch lieber den Vermitt­lungsaus­schuss und die Bund-Länder-Kommission. Und auch die ergebnislo­seste internationale Konferenz ist mir immer noch lieber als der Krieg, der gerade in der Ukraine tobt.

Aber zurück zu Jesus: Wenn ich ihn recht verstehe, dann zeigt er uns aus den Machtkämpfen dieser Welt noch einen anderen Ausweg: nicht die Neutralisierung der Macht durch Gegenmacht, sondern den Machtverzicht: „Wer groß sein will unter euch, der wird euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der wird aller Knecht sein“. Dagegen könnten wir natürlich sagen: Wenn das alle machen würden, dann könnte ja niemand mehr sagen, wo’s lang geht, und das muss doch irgendjemand tun! Aber muss das wirklich so sein? Ist es nicht viel besser, wenn uns jemand vorlebt, wo’s lang geht, statt es uns nur zu sagen?

Genau das hat Jesus getan. Er hat auf Macht verzichtet und stattdes­sen für andere gelebt: für die Leute, die ihm zuhörten, für die Kran­ken, die durch ihn geheilt wurden, für die Ausgegrenzten, denen er sich zugewendet hat. Und in letzter Konsequenz ist er für andere auch gestorben, hat sein Leben hingegeben als „Lösegeld für viele“, hat uns freigekauft aus der Sklaverei der Sünde, aus dem ausweglo­sen Kreisen um uns selbst. Seltsamerweise hat er damit mehr bewirkt als all die vielen Machtmenschen der Vergangenheit und Gegenwart. Was verbindet uns schon heute noch mit Julius Caesar oder mit Au­gustus? Und irgendwann – hoffentlich bald – wird man sich auch zu fragen beginnen, wer eigentlich dieser Putin war – oder Donald Trump. Aber Jesus Christus war und ist für viele Millionen Men­schen der Inhalt ihres Glaubens und Lebens. Und „viele“ ist dabei nie eine abgeschlossene Größe. Alle können und dürfen das „Löse­geld“ für sich in Anspruch nehmen, alle dürfen und sollen dazu ge­hören, und deshalb werden die „Vielen“ immer noch mehr werden. Auch schrumpfende Mitgliedszahlen und Traditionsabbrüche in un­serem Teil der Welt können das nicht verhindern. Und auch aller Missbrauch des Namens Jesu in Vergangenheit und Gegenwart hebt die Nachwir­kung der Menschen nicht auf, die seinem Vorbild wirk­lich gefolgt sind.

Wenn wir also wahre Nachfolger Jesu sein wollen, dann sollten wir es genauso halten. Wir sollten die Machtspielchen anderen über­las­sen und einfach anfangen, im Namen Jesu zu tun, was recht ist. Er selbst gebraucht das Wort „dienen“ dafür – ein Wort, das bei uns ziemlich aus der Mode gekommen ist. Bei uns wird nicht mehr ge­dient, sondern es werden höchstens Dienstleistungen erbracht und abgerechnet – nach Tarif, gern auch unter der Hand. Staunend und ein bisschen befremdet schauen wir deshalb auf die Ukraine, wo so viele gerade ernsthaft bereit sind, ihrem Land zu dienen, und das unter Lebensgefahr. Ob wir das auch täten in ähnlicher Lage? Da hab ich meine Zweifel. Denn wir sind ja lieber unser eigener Herr als jedermanns Diener sind und unterstellen das auch unseren Mitmen­schen. Da steht jemand, der sich selber eine dienende Rolle zu­schreibt, schnell unter Heuchelei-Verdacht. Und außer­dem wollen wir nicht gern die Dummen sein, die allen zu Diensten sind, während andere das ausnutzen und sich immer nur bedienen lassen.

Wenn es unter Christen anders sein soll, müssen wir also auf die Ge­genseitigkeit achten. „Dient einander“, schreibt deshalb Paulus als Fortsetzung der Worte Jesu. Und ich füge hinzu: Nicht jeder kann mit allem dienen, aber es gibt auch keinen, der seinen Mitchristen nicht mit irgendetwas dienen könnte. Die Möglichkeiten reichen von der aktiven Mitarbeit in der Gemeinde bis zur Nachbarschaftshilfe, von der Fürbitte bis zum Dauerauftrag. Und ich wage zu behaupten: Je mehr Menschen sich den Ruck geben, selber zu dienen statt sich bedienen zu lassen, desto eher bekommen sie auch etwas zurück für ihren Einsatz. Ich muss halt nur selber irgendwann mal anfangen und darf nicht immer nur auf die anderen warten. Und das Schönste ist: der Platz im Reich Gottes, in der Herrlichkeit Christi, der ist uns da­für schon sicher, weil unser Lösegeld schon bezahlt ist. Selbst wenn es nicht gerade die Plätze zur Rechten und zur Linken unseres Herrn werden, auch im Reich Gottes gilt: dabei sein ist alles – und dort ist das nicht nur ein Trostwort für Verlierer! Amen.

Ihr Pastor Martin Klein