Predigt, St.-Marien Wenscht, Sonntag, 19. Mai 2024

Ökumenischer Pfingstgottesdienst

Thema: „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ (Joh 20,19-23)

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger ver­sammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Ju­den, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: „Friede sei mit euch!“ Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: „Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: „Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlas­sen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Sie haben sich eingeigelt, die Jünger. Sie sitzen hinter verschlosse­nen Tü­ren und haben Angst. „Furcht vor den Juden“, sagt der Evange­list und setzt dabei die Verhältnisse seiner eigenen Zeit vo­raus, als Juden und Christen schon klar voneinander getrennt waren und sich feind­selig gegenüberstan­den. Aber damals, kurz nach dem Tod Jesu, kann es höchstens die Angst vor bestimmten Juden gewis­sen sein: vor den Hohenpriestern und ihrer Tempelwache, die Jesus verhaftet haben – und natürlich Angst vor den Römern, die ihn als Aufrührer gekreu­zigt haben. Angst, dass man sie auch noch abholt. Angst, genauso am Kreuz zu enden wie ihr Herr und Meister. Dabei haben sie objektiv wohl gar nichts zu fürchten. Schließlich hat man sie laufen lassen, damals im Garten Getsemane. Man ging wohl da­von aus, dass die Jesus-Bewe­gung sich von selbst erledigt, sobald ihr charismati­scher Anführer unschädlich gemacht ist. Und danach sieht es ja auch aus: Dieses verschreckte und verzagte Häuflein ist keine Gefahr mehr für die Besatzungsmacht und ihre Kollaborateure. Trotz­dem: Subjektiv ist die Angst der Jünger echt. Sie drückt nieder und lähmt. Sie lässt schwarzsehen für die Zukunft.

Dabei haben sie die Botschaft von der Auferstehung schon gehört: Petrus und der namentlich unbekannte „Jünger, den Jesus lieb hatte,“ haben bestätigt gefunden, was Maria von Magdala ihnen berichtet hat: Das Grab war tatsächlich leer, und zumindest der Lieb­lingsjünger hat daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Und ge­rade eben ist Maria Magdalena noch einmal da gewesen und hat erzählt: „Ich habe den Herrn gesehen und mit ihm gespro­chen.“ Sie haben es zur Kenntnis genommen, die Jünger, aber die Angst ist geblieben. Die gefühlte Bedrohung erscheint viel realer als der tatsächli­che Grund zur Freude.

Sie erinnern mich sehr an die Christen unserer Tage, diese Jünger, und zwar gerade an die, denen ihr Glaube und ihre Kirche noch et­was bedeuten. Auch wir – ich bin ja auch so einer – verkriechen uns gern hinter verschlossene Türen, in unsere vertrau­ten Kreise, in die Geborgenheit von Gleichgesinnten, in un­sere gewohnten Glaubens- und Lebensbahnen. Und die Welt da draußen macht uns Angst mit ihren Krisen, Kriegen, Katastrophen, mit ihren ständigen und immer schnelleren Veränderun­gen, mit ihrer Unübersichtlichkeit, mit ihrer schwinden­den Rücksicht auf unsere Werte und Traditionen. Wie sollen wir da mit unserer Botschaft noch ankommen? Wie sollen wir noch Menschen für den Glauben an Jesus Christus gewinnen, wenn sie mit allem möglichen beschäf­tigt sind, nur nicht mit Gott? Wie sollen wir die Lücken in unseren Reihen noch füllen? Wie soll es un­ter Christen noch ver­bindliche Gemeinschaft geben, wenn alle nur machen, was sie wollen und wozu sie Lust haben?

Wahrscheinlich ist auch unsere Angst übertrieben. Wahrscheinlich stimmt unser Bild von der Welt gar nicht – oder jedenfalls nur zum Teil. Wahrschein­lich ist unter der ablenkenden Oberfläche die Sehn­sucht nach Gott und nach wirklich erfülltem Le­ben heute mindes­tens so groß wie eh und je – wenn nicht sogar größer. Und auch wir haben die Bot­schaft von der Auferstehung doch längst vernommen. Wir wissen doch eine Ant­wort auf die Fragen, die die Menschen umtreiben – wenn nicht sogar die Antwort überhaupt. Aber trotz­dem werden wir unsere Angst nicht los. Angst, dass uns keiner zu­hört. Angst, dass man uns auslacht. Angst, dass wir uns und unseren Glauben verlieren im rauen Wind der Wirklichkeit. Wie kommen wir da heraus?

Die Antwort lautet: Wir kommen gar nicht raus! Erst muss mal je­mand zu uns hineinkommen: „Als die Jünger versammelt und die Türen verschlos­sen waren, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!“ Jesus lässt sich von den verschlos­senen Türen nicht abhalten – Gott sei Dank! Er durchbricht den Panzer unserer Angst und spricht uns sein Heil, seinen Frieden zu. Er kommt selbst, und mit ihm kommt die große Freude, die Augen­schein und Hörensagen nicht bewirken konnten.

Es tröstet mich, das zu wissen: Wir können uns verkriechen und ab­schotten, wie wir wollen, aber wir können nicht verhindern, dass Jesus trotzdem zu uns kommt. Er kommt zu uns im Wort der Bibel. Er kommt zu uns im Was­ser der Taufe. Er kommt zu uns in Brot und Wein. Er ist mitten unter uns, wenn wir uns in sei­nem Namen versam­meln. An jenem Sonntagabend in Jerusalem ge­schah das zum ersten Mal – sozusagen der erste christliche Gottes­dienst. Und seitdem geschieht es immer wieder, nicht nur sonntags, sondern auch werktags, und auch an diesem Pfingstsonntag in St. Marien. Jesus Christus ist hier! Er will unsere Angst in Mut und Zuversicht verwandeln, unsere Trauer in Freude, unsere Trägheit und Müdig­keit in Begeisterung. Und dann schließt er unsere ver­schlossenen Türen von innen auf. Er öffnet sie weit. Er lässt seinen guten heiligen Geist wehen. Er sorgt dafür, dass er uns ordentlich durchpustet und wachrüttelt, so dass wir tief durchatmen und uns auf den Weg ma­chen können: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“

Johannes, der Evangelist, lässt hier Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen. Er zeigt damit, wie eng beides zusammengehört. Jesus lebt, in ihm hat Gott den Tod besiegt, und das verwandelt die Welt. Zuerst verwandelt es seine Jünger, macht aus verzagten Angsthasen mutige Bekenner. Dann verwandelt es die Menschen, denen sie be­gegnen und sie mit ihrer Begeiste­rung anstecken. Und schließlich verwandelt sich alles, wenn Men­schen, vom Geist Gottes befreit, zu leben beginnen.

Möge das auch bei uns geschehen. Möge Gott auch die Türen unse­rer Kirchen und Gemeindehäuser weit öffnen – gar nicht mal in ers­ter Linie, damit Men­schen von draußen hineinkommen, sondern damit wir zu ihnen hinausge­hen. Damit wir merken: Die sind ja gar nicht so, wie wir hinter unseren Türen immer dachten. Die wollen uns gar nichts, und wir sind ihnen auch nicht egal, sondern sie war­ten – nein, nicht auf uns, da würden wir uns was vormachen. Aber sie warten bewusst oder unbewusst auf das, was wir ihnen weiterge­ben und vorleben können: auf den Glauben, den wir ihnen nahe bringen, auf die Liebe, die wir ihnen erweisen, auf die Hoff­nung, die wir in ihnen wecken. Wir müssen sie nicht vor dem Verder­ben retten – dafür hat Gott längst alles getan. Aber an uns liegt es, ob das bei ihnen ankommt, ob es auch ihre Lebensangst überwin­det, sie verwandelt und froh macht.

Denn was Jesus in unserem Text sagt und tut, das ist nicht nur für die paar Jünger von damals bestimmt. Es ist auch unser Auftrag. Es ist die Verantwortung jedes Christen, jeder Christin bis zum heuti­gen Tag. Und das gilt auch für den etwas schwierigen letzten Satz des Textes: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlas­sen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ Ich ver­stehe das nicht so, als ob wir es in der Hand hätten, einem Men­schen Vergebung und Rettung zu- oder abzuerkennen. So hat die katholische Kirche ihr Buß­sakrament zuzeiten missverstanden, so ging und geht es aber auch in manchen evangelischen Kreisen zu. Doch so ist es nicht gemeint. Wir können das Heil Gottes nieman­dem geben. Wir können es auch keinem Menschen vorenthalten. Wohl aber liegt es in unserer Hand, Gott den Weg zu bereiten oder ihm im Weg zu stehen, wenn er bei einem Menschen ankommen will. Hier ist unser Reden und unser Handeln gefragt: ein Reden und Handeln, das geprägt ist vom Geist der Liebe, mit dem Gott bei uns einzieht; ein Reden und Handeln, das in Wort und Tat den Gruß Jesu aufnimmt und weiterträgt: „Friede sei mit dir!“ Wo das nicht ge­schieht, wo wir nur noch schweigen und die Hände in den Schoß legen, wo wir im Reden und Tun nur an uns selber denken, wo wir mit unserem Handeln in Widerspruch geraten zu dem, was wir verkün­digen, da haben wir Jesu Auftrag verfehlt. Aber wir müssen nicht die Angst haben, dass Menschen durch unsere Fehler verloren gehen. Denn Gott hat zum Glück noch andere Hände als die unse­ren.

Also lasst uns „Menschen des Friedens“ sein, wie es das Motto des diesjährigen Katholikentages ausdrückt. Lasst uns den Friedensgruß Jesu weitertragen zu allen, die ihn nötig haben. Wir haben ja bei der kleinen Umfrage eben gemerkt, dass es schon etwas mit uns macht, wenn wir nur mit diesen Worten angesprochen werden: „Friede sei mit dir!“ Und erst recht verändert es Menschen und die Welt, wenn wir die „Friedenstäter“ werden, die Jesus seligpreist. Natürlich kön­nen wir nicht allein die großen Konflikte der Erde lösen, aber wir können um uns herum schon mal anfangen und darauf vertrauen, dass Frieden ansteckend ist. Dafür sorgt der Heilige Geist, den Jesus seinen Jüngern ins Gesicht bläst, und zu denen gehören auch wir. Amen.