Predigt für die Seniorenfeier, Talkirche, 20. September 2023

Text: Joh 11,1-28* (Evangelium 16. S. n. Trinitatis)

Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. Da sandten die Schwestern zu Jesus und lie­ßen ihm sagen: „Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.“

Als Jesus das hörte, sprach er: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.“

Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. Danach spricht er zu seinen Jüngern: „Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, ihn aufzuwec­ken.“

Da sprachen seine Jünger: „Herr, wenn er schläft, wird’s bes­ser mit ihm.“

Jesus aber sprach von seinem Tode; sie meinten aber, er rede von der Ruhe des Schlafs. Da sagte ihnen Jesus frei heraus: „Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewe­sen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm ge­hen!“

Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trö­sten wegen ihres Bruders. Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen.

Da sprach Marta zu Jesus: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bru­der wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“

Jesus spricht zu ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“

Marta spricht zu ihm: „Ich weiß, dass er aufer­stehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.“

Jesus spricht zu ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“

Sie spricht zu ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Wenn er doch nur früher gekommen wäre! Er hatte so viele Kranke geheilt. Er hätte bestimmt auch Lazarus retten können. Aber nun war es zu spät. Volle ganze vier Tage zu spät. Die Beerdigung war längst vorüber, das Grab verschlossen und versiegelt. Zu Hause rüsteten die Trauergäste zum Aufbruch. Und schon war da die Angst vor der Leere, die sie hinterlassen würden – der äußeren und der inneren. Vier Tage! Hätte er sich nicht wenigs­tens ein bisschen mehr beeilen können? Es ging doch um Lazarus, seinen Freund, ihren Bruder! So weit war es doch gar nicht vom Ostjordan­land nach Betanien. Diese Gedanken schossen Marta durch den Kopf, während sie durch das Dorf lief, Jesus entgegen.

Aber nein, sagte sich Marta nach kurzer Pause, es war ungerecht, was sie da dachte. Eigentlich konnte Jesus ja gar nichts dafür. In Wirklichkeit war alles ihre Schuld! Maria hatte gleich gesagt: „Schick doch jemanden zu Jesus!“ Aber sie hatte nicht auf ihre Schwester gehört. „Bist du verrückt?“ hatte sie ge­sagt. „Weißt du nicht mehr, dass sie ihn fast gesteinigt hätten, als er zuletzt hier in Judäa war? Beim nächsten Mal bringen sie ihn um! Und außerdem: so ernst wird es schon nicht sein.“ Es war ernst. Aber Marta hatte es nicht wahrhaben wollen. Sie kannte sich aus, sie hatte schon viele Kranke gesund gepflegt – sie würde es auch bei Lazarus schaffen. Aber was sie auch tat und versuchte, es war trotzdem immer schlim­mer ge­worden. Erst als sie mit ihrer Heilkunst ganz am Ende war, hatte sie Maria nachgegeben und jemand zu Jesus geschickt. Aber da hatte Lazarus schon kaum noch atmen können. Ein paar Stunden später war er tot gewesen. Jesus hätte gar nicht mehr rechtzeitig da sein können. Und das war ganz allein ihre Schuld!

Wie Maria sie angesehen hatte mit ihren verweinten Augen – eben, als jemand die Nachricht brachte, dass Jesus vor dem Dorf sei. Ein einziger stum­mer Vorwurf: Siehst du, Jesus kommt. Trotz aller Ge­fahr. Er hätte längst hier sein können, aber du wusstest ja mal wieder alles besser! Bis du zugibst, dass du was nicht selber schaffst, ist alles zu spät! Aber Marta hatte gar keine vorwurfsvollen Blicke nö­tig. Sie machte sich diese Vorwürfe ja längst selber! Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Sie wusste nicht, wie ihr Le­ben wei­tergehen sollte – ohne Lazarus und dazu noch mit dem Ge­fühl, dass sie mit schuld war an seinem Tod. Als sie gehört hatte, dass Jesus kommt, hatte sie nichts mehr im Haus gehalten. Sie musste zuerst mit ihm sprechen, allein, ihr Herz vor ihm ausschütten. Er würde sie ver­stehen. Und er würde ihr helfen.

Vor dem Dorf traf sie Jesus. Sie umarmten sich stumm zur Begrü­ßung. Doch schon bald brach Marta das Schweigen: „Wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben.“ Das klang zwar wie ein Vorwurf. Aber in Wirklichkeit war es das Eingeständnis, dass sie versagt hatte. Und dann fügte sie noch hinzu: „Aber auch jetzt weiß ich: Was du Gott bittest, das wird er dir geben.“ Sie wusste selbst nicht so recht, was sie eigentlich von Jesus erwartete. Dass er Lazarus von den Toten auferwecken würde? Sie hatte davon gehört, dass er oben in Galiläa mal ein zwölfjähriges Mädchen wieder le­bendig ge­macht hatte. Aber das Mädchen war gerade erst gestorben gewesen. Lazarus war schon vier Tage tot. Er lag in seinem Grab, und sein Körper verfiel. Da konnte selbst Jesus nichts mehr machen, und Marta wagte es nicht, darauf zu hoffen. Aber vielleicht konnte er ihr zeigen, wie es weiter­gehen sollte. Vielleicht konnte er ihr die Schuldgefühle nehmen. Vielleicht konnte er dafür sorgen, dass sie ihrer Schwester Maria wie­der in die Augen sehen konnte. Sonst würde ihr Zusammenleben in Zukunft unerträglich sein.

„Dein Bruder wird auferstehen“, sagte Jesus. Marta war enttäuscht über diese Antwort. „Ja, ich weiß“, entgegnete sie. „Bei der Toten­auferstehung am Jüngsten Tag!“ Das hatte der Rabbi bei der Beerdi­gung auch gesagt. Und sie glaubte ja auch daran. Aber von Jesus hatte sie mehr erwartet. Keine Vertröstung auf später, sondern Trost und Hilfe hier und jetzt.

Jesus schien sie verstanden zu haben. Er sah sie fest an und sagte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit. Glaubst du das?“ Marta musste erst einmal kräftig schlucken. Das war allerdings eine ganz andere Antwort, als der Rabbi sie je hätte geben können. Aber es war auch eine ganz andere Antwort, als sie erwartet und erhofft hatte. Konnte denn irgendein Mensch so etwas behaupten? „Ich bin die Auferste­hung und das Leben“ – das konnte doch nur Gott von sich sagen! Nur Gott konnte Leben schaffen. Er hatte die Welt aus dem Nichts ins Dasein gerufen, er konnte auch Tote aus dem Nichts wie­der lebendig machen. Jesus, ihr Freund Jesus, den sie so gut zu ken­nen glaubte, erschien ihr plötzlich ganz fremd. Plötzlich verstand sie, warum die Priester und Ältesten in Jerusalem Jesus hassten. Wer so redete und auch so auftrat, der war entweder ein gefährlicher Irrer oder ein Got­teslästerer. Als fromme Juden konnten sie gar nicht an­ders urteilen. Und sie? Sie war doch auch eine fromme Jüdin. Trotz­dem konnte sie nicht glauben, dass Jesus verrückt oder ein Gottes­lästerer war. Dafür hatte sie zu viel mit ihm erlebt. Sie hatte gehört, wie er von Gott re­dete, sie hatte ge­spürt, wie Gott ihr nahe war, wenn er sprach, sie hatte gesehen, wie Menschen durch ihn gesund gewor­den waren, und nicht zuletzt hat­ten sie und ihre Geschwister ihn zum Freund gewon­nen – gerade sie, die unverheiratet war und keine Kin­der hatte und die deshalb von allen schief angesehen wurde. Nein, wer so redete und handelte wie Jesus, der konnte nicht gegen Gott stehen, der musste von Gott ge­sandt sein. Ja noch mehr: in dem musste Gott selbst gegenwärtig sein. Und deshalb sagte sie: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Gesalbte bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Jesus war nicht nur ein guter Mensch und ein guter Freund. Das war ihr jetzt aufgegangen. Bei Jesus war Gott zu finden. Und deshalb war bei ihm auch das Leben zu finden, das Gott schenkt. Das Leben, das sie brauchte. Leben trotz der Trauer um ihren Bruder. Leben trotz aller Schuldgefühle gegenüber ihrer Schwester. Leben trotz allem Versagen und Scheitern. Leben trotz der Grenzen, die der Tod zieht. Erfülltes, ewiges Leben – schon hier und jetzt, nicht erst am jüngsten Tag. Zum ersten Mal seit Tagen konnte sie befreit aufatmen. Allein ging sie zurück ins Dorf. Sie wollte Maria holen – auch sie sollte erfahren, was ihr da gerade aufgegangen war. Aber vielleicht würde es für sie gar nicht so neu sein. Marta hatte schon immer den Ein­druck gehabt, dass ihre Schwester Jesus mit anderen Augen sah als sie selber.

Was Jesus dann tat, war natürlich unglaublich. Er ging zum Grab, ließ es öffnen und holte tatsächlich den schon verwesenden Leich­nam des Lazarus ins Leben zurück. In ihren kühnsten Träumen hätte Marta sich das nicht ausmalen können. Ein gewaltiges Zeichen dafür, dass es stimmte, was er gesagt hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Alle, die es miterlebt hatten, waren mächtig beeindruckt. Aber Marta hätte diesen Be­weis nicht mehr gebraucht. Das Leben, das bei Jesus zu finden war und das er ihr zugesprochen hatte, das hätte ihr niemand mehr neh­men können, auch wenn Lazarus tot geblieben wäre. Jesu Wort hätte sie getragen und ihr geholfen, ihre Trauer und ihre Schuldgefühle zu überwinden. Lazarus würde wieder sterben, früher oder später, auch Maria und sie selbst würden sterben. Aber das Leben, das sie in ihrem Glauben an Jesus Christus gefun­den hatte, das würde bleiben – jetzt und in der Stunde ihres Todes.

Ihr Pastor Martin Klein