Predigt vom 3.4.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
LAETARE

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
3.4. 2011
Text: Joh 6,51-58

 

Jesus sprach
zu ihnen: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist.
Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses
Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.“

Da stritten
die Juden untereinander und sagten: „Wie kann der uns sein Fleisch
zu essen geben?“ Jesus sprach zu ihnen: „Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und
sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch
isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde
ihn am Jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die wahre
Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. Wer mein Fleisch isst
und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich
der lebendige Vater gesandt hat und ich lebe um des Vaters willen,
so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen. Dies ist das
Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern,
die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot isst, der wird
leben in Ewigkeit.“

„Das ist eine
harte Rede; wer kann sie hören?“ So reagieren die Jünger auf diese
Worte Jesu. Und es kommt zu einer Spaltung unter ihnen: Viele verlassen
Jesus, nur wenige bleiben da.

Ich kann sie gut
verstehen. Denn auch mir gehen diese Verse ziemlich quer runter.
Jesu Fleisch essen (wörtlich heißt es sogar: „zerkauen“)? Sein Blut
trinken? Ja, sind wir denn Kannibalen oder Vampire? Bei solchen
Sprüchen ist es kein Wunder, dass sich bei Römern und Griechen bald
das Gerücht verbreitete, die Christen würden bei ihrem Abendmahl
kleine Kinder schlachten und verspeisen. Das war natürlich ein entsetzliches
Missverständnis, und selbstverständlich sind Jesu Worte nicht wörtlich
zu nehmen. Aber es gibt eben Bilder und Vergleiche, die sind einfach
daneben, weil sie Gedankenverbindungen auslösen, die an der Sache
vorbeigehen und zu Missverständnissen geradezu einladen. Dieser
Abschnitt aus dem Johannesevangelium ist in der Hinsicht mindestens
grenzwertig.

Manche Ausleger
haben deshalb versucht, ihn elegant loszuwerden. Als Aussage des
irdischen Jesus kann er ohnehin nicht gelten. Wie alle Jesus-Reden
bei Johannes ist auch die so genannte „Brotrede“ in Joh 6 vom Evangelisten
formuliert. Was er Jesus sagen lässt, das ist geprägt von dem, was
er und seine Gemeinde von Jesus glauben: dass er nämlich der Christus,
der Sohn des lebendigen Gottes ist. Und so ist es auch hier. Aber
die besagten Ausleger gehen noch darüber hinaus. Sie meinen, dass
dieser spezielle Abschnitt auch nicht vom Evangelisten stammt, sondern
erst später angefügt wurde. Eine so genannte „kirchliche Redaktion“
habe mit dieser und anderen Erweiterungen das recht eigensinnige
Evangelium an den kirchlichen „Mainstream“ anpassen wollen. An dieser
Stelle habe man zum Stichwort „Brot des Lebens“ vor allem Aussagen
über das Abendmahl vermisst und sie deshalb ergänzt. Und die Verfasser
dieser Ergänzung hätten in punkto Abendmahl ganz handfest-real gedacht:
Für sie verwandeln sich Brot und Wein beim Abendmahl tatsächlich
und leibhaftig in Fleisch und Blut Christi. So dienen sie dann allen,
die davon gläubig essen und trinken, als Heilmittel für die Seele,
das Unsterblichkeit verleiht. Dieses Abendmahlsverständnis, das
wir zuerst beim Kirchenvater Ignatius von Antiochien um 100 nach
Christus finden, ist für die katholische Kirche sehr prägend geworden.
Die Reformatoren dagegen haben es abgelehnt. Sollte es an dieser
Stelle nachträglich ins Johannesevangelium eingefügt sein, könnten
wir Evangelischen es also getrost ad acta legen.

Aber dass es sich
so verhält, ist keineswegs sicher. Gut möglich, dass die Zuspitzung
auf das Abendmahl vom Evangelisten selber stammt. Dann wollte er
uns sagen: Jesus ist das Brot des Lebens, das heißt, nur in ihm
können wir zu Gott und zum wahren, ewigen Leben finden, und konkret
erfahrbar wird das durch das Brot und den Wein des Abendmahls.

Wenn es so ist
– und ich glaube, es ist so –, dann müssen wir uns freilich noch
mal Gedanken machen: Wie ist das denn nun beim Abendmahl? Christus
lädt uns ein an seinen Tisch, sagen wir gern. Er ist mitten unter
uns, wenn wir Abendmahl feiern, sagen wir auch. Und irgendwas muss
das mit dem Brot und dem Wein zu tun haben. Denn sonst könnte Christus
ja auch so mitten unter uns sein. Schließlich hat er uns das schon
für den Fall versprochen, dass zwei oder drei sich in seinem Namen
versammeln. Aber was genau verbindet Brot und Wein mit Jesus? Was
haben sie mit seinem Leib oder gar Fleisch und seinem Blut zu tun?
Oder bleibt es jedem selber überlassen, sich da irgendetwas vorzustellen?

Bekanntlich haben
auch evangelische Christen sich darüber lange und heftig gestritten.
Brot und Wein sind beim Abendmahl wirklich Leib und Blut Christi,
hat Martin Luther gesagt. Schließlich hat Jesus doch gesagt: „Nehmt
und esst, das ist mein Leib.“ Brot und Wein sind nur Zeichen, hat
Ulrich Zwingli entgegnet. Sie bedeuten, dass Christus wirklich und
leibhaftig für uns gestorben ist. Aber jetzt sitzt er samt seinem
verklärten Leib zur Rechten Gottes – wie soll dieser Leib dann gleichzeitig
auf Erden in einem Stück Brot zu finden sein? Darüber haben sich
die beiden heftigst entzweit, anno 1529 in Marburg. Und so kam es,
dass die Reformation in ein lutherisches und ein reformiertes Lager
zerfiel. Zeitweise haben die sich gegenseitig heftiger bekriegt
als Protestanten und Katholiken.

Gott sei Dank
ist das vorbei. Denn im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich
herausgestellt, dass es im Neuen Testament diesen Gegensatz von
„ist“ und „bedeutet“ gar nicht gibt. Der kam eher dadurch zustande,
dass Luther und Zwingli aus verschiedenen Denktraditionen des Mittelalters
stammten. Also konnten sich die reformierten und lutherischen Kirchen
Europas 1973 auf dem Leuenberg bei Basel darauf einigen, dass ihr
unterschiedliches Abendmahlsverständnis sie nicht mehr trennt. Seitdem
können sie uneingeschränkt gemeinsam Abendmahl feiern. „Im Abendmahl
schenkt sich der auferstandene Christus in seinem für alle dahingegebenen
Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein.“ So
lautet die Formel auf die man sich verständigt hat. Wie Christus
nun genau „mit Brot und Wein“ gegenwärtig ist, das hat man damals
bewusst offen gelassen. Ja man hat sogar gesagt, dass die Gefahr
besteht, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln, wenn man es zu genau
wissen will.

Wenn wir in unseren
Predigttext schauen und vom „Fleisch essen“ und „Blut trinken“ lesen,
mag uns das zu schwammig vorkommen. Aber es ist natürlich richtig:
Immer wenn jemand festlegen wollte: „So ist es, und nicht anders“,
hat dies die Spaltung unter Christen vertieft. Und weil die katholische
Kirche da bis heute sehr festgelegt ist, gibt es ihrerseits eben
keine Abendmahlsgemeinschaft mit uns Evangelischen. Auch ich werde
mich also hüten, Sie heute morgen in dieser Hinsicht auf irgendetwas
festzulegen. Zwar klingt unser Predigttext da sehr genau und konkret,
aber er ist eben innerhalb des Neuen Testaments auch nur eine von
vielen Stimmen. Immerhin macht er mir Mut, Ihnen konkret zu sagen,
wie ich persönlich über die Art der Gegenwart Christi beim Abendmahl
denke. Und Sie mögen dann selber überlegen und beurteilen, was Sie
für sich damit anfangen können.

Ich glaube, dass
auch beim Abendmahl Brot und Wein nichts anderes sind als Brot und
Wein – oder Traubensaft. Deshalb ist es für mich kein Unglück, wenn
mal ein Stück Abendmahlsbrot versehentlich auf den Boden fällt oder
ein Schluck Wein verschüttet wird. Dem Leib Christi und dem neuen
Bund in seinem Blut fügt das keinerlei Schaden zu. Und wenn ich
verbliebene Reste hinterher nicht gern wegwerfe, dann deshalb, weil
ich das bei Lebensmitteln sowieso zu vermeiden versuche, nicht deshalb,
weil die Abendmahlsreste irgendwie besonders heilig wären. Für mich
sind Brot und Wein Symbole, aber solche, die wirklich etwas bedeuten
und die ich deshalb mit entsprechender Achtung behandle. Durch sie
erfahre ich, welchen Sinn das Leiden und Sterben Jesu für mich haben,
und das nicht nur mit dem Verstand, sondern mit allen Sinnen: ich
höre die Einsetzungsworte, ich sehe und berühre das Brot und den
Kelch, ich rieche und schmecke das Brot und den Wein. Und damit
„schmecke und sehe ich, wie freundlich der Herr ist“. Schade finde
ich es deshalb, dass bei unseren üblichen Abendmahlsfeiern die sinnlichen
Eindrücke auf ein Minimum reduziert sind. Hier im reformierten Siegerland
gibt es ja immerhin richtiges Brot und nicht nur Oblaten, die nach
nichts schmecken und einem auch nichts zu kauen geben. Aber satt
macht so ein kleines Stück Brot natürlich auch nicht. Und trotz
all der guten Gründe, die für Traubensaft statt Wein sprechen: ein
guter Schluck Wein ist einfach ein intensiveres Erlebnis als ein
Schluck Saft. Wenn’s also nur nach mir ginge und ich auf niemanden
Rücksicht nehmen müsste, gäbe es beim Abendmahl richtiges Brot und
richtigen Wein – noch besser eine richtige Mahlzeit. Deshalb lade
ich herzlich ein zum Gottesdienst am Gründonnerstag, weil wir das
Abendmahl wenigstens da mal so feiern.

Und was schmecke
und sehe ich nun genau in, mit und unter Brot und Wein? Ich drücke
es immer noch gern mit den Worten des Heidelberger Katechismus aus:
So gewiss, wie ich das Brot breche und zerbeiße, so gewiss wurde
Christi Leib für mich am Kreuz zerschunden und gebrochen. Und so
gewiss ich den Wein aus dem Kelch in meinen Mund rinnen lasse und
trinke, so gewiss wurde Christi Blut für mich vergossen. Er ist
gestorben, um damit Gottes Liebe zu mir und allen Menschen ans Ziel
zu bringen. Er hat damit alles überwunden, was mich von ihm trennt
– selbst den Tod. Deshalb ist er auferstanden und lebt. Deshalb
dürfen wir mit ihm leben und sein – hier auf Erden und bis in Ewigkeit.
Deshalb ist er da, wenn wir Abendmahl feiern, und wir nehmen ihn
bei uns und in uns auf, so gewiss wie das Brot und den Wein. Und
deshalb schließt er uns mit sich zu einer Gemeinschaft zusammen,
so gewiss, wie wir alle am Brot und am Wein teilhaben. Und auch,
was uns untereinander trennt, wird dadurch überwunden. Mögen wir
daran denken, wenn wir das nächste Mal zum Abendmahl zusammen sind.

 Amen.

 

Predigt vom 27.03.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
OKULI

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
27.3. 2011
Text: Mk 12,41-44

Und Jesus setzte
sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte
in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. Und es kam
eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen
einen Pfennig. Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen:
„Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten
gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle
etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut
ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.“

Wenn bei uns im
Gottesdienst der Klingelbeutel herumgeht oder am Ausgang die Kollekte
gesammelt wird, dann geht es dabei sehr diskret zu. Alle legen rein,
so viel oder so wenig sie wollen, und die Presbyter, die das Geld
sammeln, schauen den Leuten freundlich ins Gesicht, aber nicht auf
die Finger.  Es soll ja hinterher nicht heißen: „Die Frau X
war aber heute wieder knickerig!“ oder: „Dass der Herr Y mit solchen
Scheinen um sich schmeißen kann!“ Und über restliches Urlaubskleingeld
oder Einkaufschips, die man beim Zählen schon mal findet, wird großzügig
hinweggesehen.

Jesus war da weniger
zurückhaltend. Er schaute den Spendern im Tempel von Jerusalem einfach
über die Schultern und dachte sich anscheinend gar nichts dabei.
Und er gab dazu auch noch Kommentare ab!

Ort des Geschehens
ist die Schatzkammer am inneren Vorhof des Tempels. Dort wurde alles
Geld und Gut gesammelt, das Juden aus aller Welt zum Unterhalt des
Tempeldienstes spendeten. Zu diesem Zweck standen dort dreizehn
Opferstöcke. Zwölf davon waren für das Sammeln der festen Tempelsteuer
bestimmt: ein Schekel pro Jahr und Familie. Und der dreizehnte war
für freiwillige Spenden da. An diesem Opferstock saß nun offenbar
Jesus und schaute zu. Das Geld floss reichlich. Denn bei denen,
die was hatten, gehörte es zum guten Ton, großzügig für den Tempel
zu spenden – erst recht zum Passahfest, wo viele Pilger in der Stadt
waren. Mitten zwischen diesen reichen Leuten erschien nun aber auch
eine arme Witwe und warf zwei Lepta in den Opferstock. Ein Lepton
– Scherflein heißt es bei Luther –, das war die Kupfermünze mit
dem niedrigsten Geldwert. 128 Lepta ergaben einen Denar, den üblichen
Tageslohn für einen Landarbeiter. Das „Scherflein der Witwe“ war
also fast die kleinste Gabe, die man überhaupt geben konnte. Trotzdem
war es die einzige von den vielen Spenden, die Jesus besonders bemerkenswert
fand: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle,
die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss
eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt,
alles, was sie zum Leben hatte.

Und so war es
auch. Allein stehende Witwen hatten damals wirklich nichts – es
gab für sie weder Rente noch Sozialhilfe. Sie waren selber auf die
Wohltätigkeit anderer angewiesen. Wenn eine solche Witwe das bisschen
Geld, das sie sich absparen konnte, in den Tempel brachte, dann
musste ihr der Gottesdienst, der dort geschah, wirklich sehr viel
wert sein.

Das, was Jesus
sagt, leuchtet uns unmittelbar ein. Natürlich bedeuteten für die
arme Frau ein paar Kupfermünzen mehr als ein Sack Goldstücke für
die reichen Männer, und natürlich ist ihre Gabe deshalb mehr wert
als alle anderen. Das scheint selbstverständlich zu sein, und es
ist auch nicht besonders originell. Ein jüdischer Rabbi oder ein
indischer Buddhist hätten das auch sagen können und haben es in
ähnlichen Geschichten auch ähnlich gesagt. Aber ist es wirklich
so selbstverständlich wie es klingt? Dieser Frage möchte noch ein
wenig nachgehen und erzähle dazu zwei Beispiele aus unserer Zeit.

Beispiel eins:
Bill Gates und Warren Buffett waren bis vor kurzem die beiden reichsten
Männer der Welt. Zusammen besitzen sie ein geschätztes Privatvermögen:
von 106 Milliarden US-Dollar. Seit Jahren stecken die beiden riesige
Summen in wohltätige Stiftungen. Und im vergangenen Jahr haben sie
gemeinsam die Superreichen der Erde aufgefordert, einen Großteil
ihres Vermögens für gute Zwecke zu spenden. „The Giving Pledge“
haben sie ihre Kampagne genannt: „Das Versprechen zum Abgeben“.
Vierzig US-Milliardäre haben schon ihre Beteiligung zugesagt.

Beispiel zwei:
In meiner früheren Gemeinde in Dortmund, gab es eine Frau, mit der
ich zweimal im Jahr ein Krankenabendmahl gefeiert habe: um die sechzig,
geschieden, aufgrund eines Schlaganfalls halbseitig gelähmt und
deshalb seit vielen Jahren Frührentnerin, wahrlich nicht mit Reichtümern
gesegnet. Das Geld reichte gerade mal für die Miete, das Essen und
was man sonst noch so zum Leben braucht, aber z.B. kaum noch für
die Zuzahlungen bei Ärzten und Medikamenten. Trotzdem bekam ich
jedes Mal, wenn ich bei ihr war, einen Umschlag mit 25 € für „Brot
für die Welt“ zugesteckt.

Nehmen wir mal
an, Jesus hätte die beiden bei ihrem Tun beobachtet, so wie die
Spender damals im Tempel von Jerusalem: Bill Gates oder Warren Buffett
mit ihren Milliarden und die Dortmunder Frührentnerin mit ihren
25 Euro. Und nehmen wir mal an, er würde das, was er da sieht, auch
so ähnlich kommentieren: „Wahrlich, ich sage euch: Diese Rentnerin
aus Dortmund hat mehr gespendet als die Milliardäre aus Amerika.
Denn sie haben etwas von ihrem Überfluss gegeben; sie aber hat von
dem wenigen, das sie hat, alles gegeben, was sie entbehren konnte.“
Hätte er recht damit?

Wahrscheinlich
würden Sie, die hier heute morgen sitzen, sagen: Ja, er hat recht.
Denn vermutlich fühlen Sie sich von Ihrer Lebenssituation her der
armen Rentnerin näher als den reichen Männern, auch wenn es Ihnen
finanziell deutlich besser geht. Und ich bin geneigt, Ihnen recht
zu geben.

Aber ich könnte
auch verstehen, wenn Bill Gates und Warren Buffett oder andere Reiche,
die viel spenden, jetzt protestieren würden. „Okay“, könnten sie
sagen, „es tut uns nicht besonders weh, auf ein paar Tausender oder
auch ein paar Millionen oder Milliarden zu verzichten. Aber immerhin:
wir tun es. Wir fühlen uns durch unseren Reichtum dazu verpflichtet,
unseren Teil zum Gemeinwohl beizutragen – im Gegensatz zu vielen
anderen, die alles für sich behalten – sogar die Steuern, die sie
eigentlich zahlen müssten. Und als Dank dafür hören wir dann: Der
will ja nur sein Gewissen beruhigen! oder: Da will wieder einer
für seine Großzügigkeit gelobt werden! Das finden wir ausgesprochen
unfair.“ An diesem Protest ist was dran. Schließlich könnten wir
bei Kirchens den Laden dicht machen, wenn es nicht auch noch ein
paar Reiche gäbe, die Kirchensteuern zahlen, spenden oder einer
Gemeinde den Rest für eine neue Orgel dazu tun. Und Geiz ist ja
heutzutage „geil“ und keineswegs nur ein Laster der höheren Gehaltsstufen.

Deshalb denke
ich, wir haben Jesus noch nicht richtig verstanden, wenn wir nur
auf die Höhe der Spenden schauen. Jesus kommt es weder auf die absolute
Summe an, noch auf die Summe in Relation zum gesamten Besitz. Ihm
geht es um die Einstellung, mit der jemand gibt. Der armen Witwe
ist einfach der Gottesdienst im Tempel soviel wert, dass sie dafür
alles gibt, was sie geben kann. Und wenn ein Reicher mit der gleichen
Einstellung eine große Spende abgibt, dann ist sie genauso viel
wert – wegen der Einstellung, nicht wegen der Höhe der Summe. Wir
alle, ob reich oder arm, schulden Gott nicht etwas, sondern alles,
nämlich uns selbst. Alles, was wir sind und haben, hat Gott uns
gegeben. Es ist nicht unser Besitz, sondern er hat es uns geliehen,
und wir sollen damit verantwortlich umgehen. Wir können und sollen
unser Geld und Gut, unsere Gaben und Fähigkeiten einsetzen zur Ehre
Gottes und zum Nutzen der Menschen, die er geschaffen hat und liebt.
Darauf kommt es an, dass wir das erkennen und in die Tat umsetzen.

Ich für mein Teil
möchte mir das immer wieder neu zu Herzen nehmen. Und was speziell
meinen Umgang mit Geld angeht, möchte ich mir folgenden Rat geben
– wenn er Ihnen gut erscheint, mögen Sie ihn für sich übernehmen:
Bedenke, dass du für deinen ganzen Besitz vor Gott Verantwortung
trägst, und dann überleg, wie viel Geld du für deinen Lebensunterhalt
und für den deiner Familie benötigst. Wahrscheinlich bleibt dann
noch genug übrig, mit dem du anderen Menschen Gutes tun kannst.
Vielleicht muss es nicht der ganze Restbetrag sein, aber denk mal
darüber nach, ob es nicht mehr sein könnte, als du bisher dafür
einkalkuliert hast. Wenn du dann weißt, wie viel von deinem Geld
du abgeben kannst und willst, dann mach dir klar, welche so genannten
„guten Zwecke“ dir besonders am Herzen liegen – vielleicht weil
du einen persönlichen Bezug dazu hast oder weil du weißt, dass deine
Spende dort besonders sorgfältig verwendet wird und gut angelegt
ist. Und dann setz dein Geld gezielt für diese Dinge ein. Lass dir
kein schlechtes Gewissen machen, wenn du anderen Spendenaufrufen
nicht nachkommst, auch wenn sie noch so gut begründet sind. Du würdest
dich sonst nur verzetteln und könntest mit deinen paar Kröten sowieso
nicht die Not der ganzen Welt beheben. Bilde dir auf deine Spendierfreudigkeit
nichts ein, aber wenn du nur noch missmutig geben kannst, dann lass
es lieber. Denn „einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“, hat Paulus
gesagt. Und wenn dir doch einmal die Lust am Geben vergeht, dann
erinnere dich an folgenden Spruch Salomos: „Wer sich des Armen erbarmt,
der leiht dem HERRN, und der wird ihm vergelten, was er Gutes getan
hat.“

Amen.

 

Predigt vom 20.03.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
REMINISZERE

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
20.3. 2011
Text: Mt 12,38-42

Vielleicht kennen
Sie die Geschichte: Ein großer Fluss tritt über die Ufer und überschwemmt
das flache Land ringsum. Ein frommer Mann, der dort wohnt, kann
sich auf das Dach seines Hauses retten, aber das Wasser steigt unaufhörlich.
Da richtet der Mann ein Stoßgebet gen Himmel: „Herr, ich habe dir
immer treu gedient. Ich bitte dich: Rette mich vor dem Ertrinken!“
Und sogleich überkommt ihn die Gewissheit: „Ja, mein Gebet ist erhört
– der Herr wird mich retten!“

Kurz darauf –
der Mann bekommt schon nasse Füße – treibt eine ausgehängte Tür
vorbei, auf der einer seiner Nachbarn sitzt. „Komm, spring rüber“,
ruft der ihm zu, „die Tür kann uns beide tragen!“ Aber der fromme
Mann winkt ab. „Nein, sie wird bestimmt mit uns beiden untergehen.
Ich bleibe lieber hier. Ich bin ganz sicher, dass der Herr mich
retten wird!“ Da ist die Tür auch schon vorbei getrieben.

Eine Weile später
– das Wasser reicht dem Mann schon bis an die Knie – kommt ein Rettungsboot
vorbei. „Kommen Sie, steigen Sie ein“, drängt der Bootsführer, „wir
haben noch einen Platz frei!“ Aber wieder schüttelt der Mann den
Kopf. „Nein, das ist mir viel zu wackelig. Ich bleibe lieber hier.
Der Herr wird mich ganz bestimmt retten!“ – „Dann eben nicht“, sagt
der Bootsführer und fährt weiter, denn er sieht von einem anderen
Haus schon jemand winken.

Schließlich, als
der Mann schon bis zum Bauch in den Fluten steht, kommt auch noch
ein Hubschrauber. Aber auch in den will der Mann nicht einsteigen.
„Nein, nein“, sagt er, „ich hab viel zu viel Angst vorm Fliegen
– aber ich weiß genau, dass der Herr mich retten wird!“

Als der gute Mann
schließlich ganz versinkt, verliert er das Bewusstsein und wacht
im Himmel wieder auf. „Nanu, denkt er, bin ich etwa gestorben?“
Und vorwurfsvoll fragt er Gott: „Ich hab so fest auf dich vertraut!
Warum hast du mich denn nicht gerettet?“ – „Was hast du denn erwartet?“
fragt der Herr zurück. „Ich hab dir den Nachbarn auf der Tür geschickt,
das Rettungsboot und schließlich sogar einen Hubschrauber. Was hätte
ich denn sonst noch tun sollen, um dich zu retten?“

Diese Geschichte
kam mir beim Nachdenken über den heutigen Predigttext in den Sinn.
Er steht beim Evangelisten Matthäus in Kapitel 12 und lautet folgendermaßen:

Da fingen einige
von den Schriftgelehrten und Pharisäern an und sprachen zu Jesus:
„Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen.“ Und er antwortete
und sprach zu ihnen: „Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert
ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden, es sei
denn das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und
drei Nächte im Bauch des Seeungeheuers war, so wird der Menschensohn
drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein. Die Leute von
Ninive werden auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht
und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des
Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona. Die Königin vom Süden wird
auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und wird es
verdammen; denn sie kam vom Ende der Erde, um Salomos Weisheit zu
hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo.“

Was die Schriftgelehrten
und Pharisäer hier machen, ist im Grunde das Gleiche wie bei dem
Mann aus der Geschichte. Auch sie können hören, was Jesus sagt,
sie können sehen, was er tut, und sie könnten erkennen, dass er
von Gott gesandt ist. Aber wie bei dem frommen Mann ist es gerade
ihr Glaube, der ihnen den Blick verstellt – ein fehlgeleiteter Glaube,
auch wenn er sich auf den Gott Israels beruft und sich damit an
die richtige Adresse richtet. Deshalb reicht es ihnen nicht, dass
Jesus in unerhörter Vollmacht von Gott redet. Es reicht ihnen nicht,
dass er Kranke heilt und Dämonen austreibt. All das ist ihnen zu
unsicher und zu zweideutig. Ein geschickter Verführer, der womöglich
mit dem Teufel im Bunde steht, könnte das in ihren Augen auch. Ihnen
fehlt eine unwiderlegbares Zeichen vom Himmel her. Denn hatte Gott
nicht solche Zeichen angekündigt für das Kommen des Messias und
das Ende der Welt? Hätte Jesus wie Mose die Fluten des Meeres geteilt
oder wie Elia Feuer vom Himmel herabfallen lassen, dann wären sie
zufrieden gewesen. Hätten sie alle die Stimme bei Jesu Taufe gehört:
„Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ – das hätte
sie überzeugt. Aber so? So passt Jesus einfach nicht mit dem zusammen,
was sie glauben. Und alles, was an ihm Eindruck macht, können sie
auch anders erklären.

Der Evangelist
ist natürlich überzeugt, dass es Jesus ein Leichtes gewesen wäre,
die Forderung der Schriftgelehrten und Pharisäer zu erfüllen. Aber
er tut es nicht. Was er dem Teufel verweigert hat – „Bist du Gottes
Sohn, dann mach aus diesen Steinen Brot!“ –, das verweigert er den
Pharisäern erst recht. Denn das einzige Zeichen, das er ihnen verspricht,
ist in Wahrheit auch keins. Jona, drei Tage und drei Nächte im Bauch
des Seeungeheuers, der Menschensohn, drei Tage und drei Nächte im
Schoß der Erde – das spielt für die Leser des Evangeliums deutlich
auf Tod und Auferstehung Jesu an. Aber die Auferstehung geschah
eben auch nicht vor den Augen der Gegner Jesu, und sein Verbrechertod
am Kreuz ist für sie ja gerade der Beweis, dass er auf gar keinen
Fall von Gott sein kann. Dass sein Grab leer war und die Jünger
behaupteten, Jesus sei auferstanden und ihnen erschienen, dafür
gab es wieder jede Menge andere Erklärungen. Es bleibt also für
Matthäus dabei: Wer glauben will, dass Jesus Gottes Sohn ist, der
muss sich an das halten, was er gesagt und getan hat. Er muss sich
daran orientieren, wie er gelebt hat und gestorben ist. Mehr gibt’s
nicht.

Aber hätten die
frommen Juden damals denn wirklich erkennen können, wer Jesus war
– auch ohne das geforderte Zeichen? Matthäus  ist überzeugt,
dass sie das gekonnt hätten und dass es deshalb ihre eigene Schuld
ist, wenn sie es nicht getan haben – so wie bei dem Mann in der
eingangs erzählten Geschichte. Schließlich hat den Leuten von Ninive
doch auch die schlichte Predigt Jonas gereicht, um Buße zu tun und
umzukehren. Und der Königin von Saba war das Hörensagen von Salomos
Weisheit auch genug, um die weite Reise nach Jerusalem zu anzutreten.
Zeichen vom Himmel waren in beiden Fällen nicht erforderlich. Also
werden sie im Weltgericht als Belastungszeugen gegen Jesu jüdische
Zeitgenossen auftreten. Denn die waren doch fromme Israeliten und
keine Heiden, und bei Jesus gab es doch viel mehr zu hören und zu
sehen als bei Jona oder Salomo, aber trotzdem haben sie nicht geglaubt.
Das Verdammungsurteil trifft sie also zu recht.

Dass Matthäus
und seine Gemeinde so gedacht haben, kann ich verstehen. Denn sie
waren ja selber geborene Juden. Deshalb schmerzte und verletzte
es sie ganz persönlich, dass die meisten ihrer jüdischen Landsleute
von Jesus nichts wissen wollten und dass die jüdischen Oberen sie
aus der Gemeinschaft der Juden ausgeschlossen hatten. Wir Heutigen
dagegen müssen mit den jüdischen Gegnern Jesu barmherziger sein.
Denn von ihren Denk- und Glaubensvoraussetzungen her konnten sie
gar nicht anders über Jesus urteilen, als sie es getan haben. Paulus
sieht es so, dass Gott ihnen den Zugang zum Glauben bewusst verschlossen
hat, damit das Evangelium erst einmal zu den Heiden gelangen konnte.
Er gibt ihnen also nicht die Schuld daran, und wir sollten es deshalb
erst recht nicht tun – nach allem, was Christen in der Zwischenzeit
den Juden angetan haben.

Stattdessen sollten
wir uns lieber an die eigene Nase packen: Wo machen wir denn unseren
Glauben von „Zeichen“ abhängig? Wo fordern wir von Gott Beweise
seiner Gegenwart? Über den Mann, der ertrinken musste, weil ihm
Gottes Rettungsmittel nicht wunderbar genug waren, können wir vielleicht
noch schmunzeln. So dämlich ist natürlich in Wirklichkeit keiner.
Aber trotzdem stehen wir alle in der Gefahr, unseren Glauben von
Dingen abhängig zu machen, die für unsere Sinne und unseren Verstand
wahrnehmbar sind. Und dann geraten wir ins Schwimmen, wenn diese
Dinge nicht da sind. Dann denken wir: Ich spüre gar nichts von Gottes
Nähe – dann gibt es ihn ja vielleicht doch nicht, oder mir fehlt
immer noch der echte Glaube. Oder wir schauen auf all die schrecklichen
Ereignisse um uns herum: Auf Menschen in einem reichen und hoch
technisierten Land, die den Naturgewalten hilflos ausgeliefert sind,
ja, die es gerade durch den so genannten technischen Fortschritt
noch viel schlimmer gemacht haben. Auf einen größenwahnsinnigen
und skrupellosen Diktator, der das eigene Volk zusammenschießen
lässt, um seine Macht zu retten. Auf Verantwortliche in Politik
und Wirtschaft, die nichts dagegen tun und nichts daraus lernen.
Und wir fragen uns: Warum greift Gott nicht ein? Warum lässt er
zu, was Menschen anderen Menschen antun oder fahrlässig in Kauf
nehmen?

Natürlich dürfen
wir so fragen. Und erst recht dürfen es die, die anders als wir
direkt betroffen sind. Aber wir müssen uns trotzdem damit abfinden,
dass uns Beweise für die Wahrheit unseres Glaubens nicht verheißen
sind. Auch wir haben nur das Zeichen das Jona: Dass Gott sich in
Jesus ganz tief nach unten begeben hat. Dass er sich von dem Ungeheuer
unserer Schuld und Gottesferne hat verschlingen lassen. Dass er
die Hölle des Leidens und des Todes durchschritten hat – nicht um
darin unterzugehen, sondern um sie zu besiegen. Und dass er deshalb
da ist, wenn wir uns fühlen wie Jona im Bauch des Fisches, wenn
uns das Chaos dieser Welt zu verschlingen droht, wenn wir orientierungslos
im Finstern sitzen, abgeschnitten vom Leben, fern von Gott. Wir
glauben, dass Gott uns liebt und es gut mit uns meint. Aber es gibt
nichts, was diesen Glauben zur Selbstverständlichkeit macht. Wir
müssen uns nicht darüber wundern, dass so viele Menschen das nicht
glauben können, sondern wir können das Wunder nicht hoch genug preisen,
wenn uns dieser Glaube geschenkt ist. Denn ein unverdientes Geschenk
ist und bleibt er. Deshalb preist Jesus diejenigen selig, die keinen
Anstoß an ihm nehmen. Denn an ihm Anstoß nehmen, das ist das Normale,
das kann jeder. An ihn glauben, ihm vertrauen, das kann nur der,
dem Gott Auge, Ohr und Herz öffnet. Das aber will er tun bei jedem,
der ihn darum bittet.

Also lasst uns
nicht auf Zeichen von oben warten. Denn sie werden nicht kommen.
Es wird uns keine Erleuchtung zuteil werden, die uns nie mehr an
Gott zweifeln lässt. Es wird weiter Erdbeben geben, und es werden
immer wieder Menschen dabei umkommen. Kein Gaddafi wird sich plötzlich
zum Guten bekehren. Und Friede und Gerechtigkeit werden nicht vom
Himmel fallen. Aber Gott wird bei uns sein, selbst im Bauch des
Fisches, selbst in der Hölle auf Erden. Und im Vertrauen darauf
lasst uns anpacken, was wir mit unseren Kräften tun können. Lasst
uns die ganz irdischen Gelegenheiten ergreifen, die Gott uns zufallen
lässt. Dann kann sich vieles ändern. Dann kann viel Leid verhindert
oder zumindest gelindert werden. Und dann kann aus dieser Welt ein
besserer Ort werden – bis eines Tages Gott selbst Himmel und Erde
neu macht. Vor seinem Urteil im Gericht muss uns dann nicht bange
sein.

Amen.

 

Predigt vom 6.3.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ESTOMIHI

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
6.3. 2011
Text: Lk 10,38-42

Wenn ich Geburtstagsbesuche
bei älteren Gemeindegliedern mache, komme ich meistens unangemeldet.
Ich mach das so, weil ich dann mit meiner Zeiteinteilung etwas flexibler
bin und weil ich nicht möchte, dass die Besuchten sich verpflichtet
fühlen, sich extra meinetwegen besondere Umstände zu machen. Ich
nehme dann eben ein Stückchen Kuchen, wenn sowieso welcher da ist,
und wenn nicht, ist auch gut (oder besser, jedenfalls für die schlanke
Linie). Meistens klappt das auch ganz gut. Aber manchmal passiert
auch noch, was mir früher öfter widerfahren ist, dass ich nämlich
durch mein Erscheinen genau die hektische Betriebsamkeit auslöse,
die ich eigentlich vermeiden wollte. „Ach du Schreck“, denkt dann
das – meist weibliche – Geburtstagskind, „der Pastor kommt, und
ich bin doch noch gar nicht fein gemacht und hab noch nichts vorbereitet!“
Und dann heißt es: „Ach, Herr Pastor, das ist aber eine Überraschung!
Legen Sie doch ab und setzen sich schon mal ins Wohnzimmer! Ich
mach nur schnell Kaffee und ein paar belegte Brötchen – oder möchten
Sie lieber Kuchen? Dann müsste ich aber noch mal schnell zum Bäcker.
Ich hab zwar schon Torte geholt, aber die sieht so zerdetscht aus,
die kann ich Ihnen nicht anbieten. Bitte, nehmen Sie doch Platz!
Darf ich Ihnen solange ein Gläschen Sekt anbieten oder ein Schnäpschen
vielleicht? Ach, Sie müssen ja noch fahren – na dann vielleicht
ein Glas Saft, oder lieber Tee? Ich kann Ihnen auch Tee machen!
Nehmen Sie doch den Sessel, der ist bequemer. Und entschuldigen
Sie, dass noch nicht alles aufgeräumt ist – ich dachte ja nicht
… – aber jedenfalls schön dass Sie da sind!“ Und dann sitze ich
erst mal ziemlich lange allein im Wohnzimmer herum, bis meine Gastgeberin
all ihren echten und vermeintlichen Pflichten Genüge getan hat.
Dabei hätte es mir doch völlig gereicht, mich in aller Ruhe mit
ihr zu unterhalten. Dazu bleibt dann womöglich gar keine Zeit mehr
– erst recht, wenn zwischendurch noch fünf Gratulanten am Telefon
sind.

Wahrscheinlich
haben Sie ähnliche Situationen auch schon erlebt, entweder als Gast
oder als Gastgeber. Jetzt stellen Sie sich vor, da käme jemand nicht
nur für ein halbes Stündchen am Vormittag, sondern als Übernachtungsbesuch,
und er käme nicht allein, sondern brächte noch ein rundes Dutzend
Freunde mit. Dann können Sie sich ungefähr vorstellen, wie es zuging,
als Jesus mit seinen Jüngern bei Maria und Marta einfiel. Bei Lukas,
in Kapitel 10, können wir es nachlesen:

Als sie aber
weiter zogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen
Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß
Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede
zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und
sie trat hinzu und sprach: „Herr, fragst du nicht danach, dass mich
meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir
helfen soll!“ Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: „Marta,
Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat
das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Nach dem, was
ich eben erzählt habe, kann ich Marta bestens verstehen, und Sie
wahrscheinlich auch. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten Besuch zu
Hause, und an mir bliebe die ganze Arbeit hängen, während meine
Frau gemütlich bei den Gästen sitzt, dann fände ich das auch nicht
so klasse. Aber auf der anderen Seite kann ich auch Maria verstehen:
Man hat ja schließlich nicht alle Tage Jesus zu Gast – da möchte
man natürlich auch hören, was er zu sagen hat! Und ich kann verstehen,
dass Jesus Maria gegenüber Marta in Schutz nimmt. Denn schließlich
hat er mal gesagt, dass er nicht gekommen ist, um sich bedienen
zu lassen, sondern um zu dienen. Und er möchte, dass möglichst viele
etwas von seiner Botschaft mitbekommen, und zwar nicht nur die Männer,
wie es damals üblich war, sondern auch die Frauen.

Jesus will allerdings
mit seiner Antwort nicht sagen: Das, was Marta tut, ist weniger
wertvoll. Er will auch nicht sagen, dass Maria die emanzipiertere
Frau ist, weil sie mit den Männern dem Rabbi Jesus zu Füßen sitzt.
Marta ist nämlich keineswegs nur das Heimchen am Herd, sondern sie
ist die Gastgeberin: ihr gehört offenbar das Haus, in das sie Jesus
aufnimmt. Und Gastgeberinnen und Hausbesitzerinnen
waren damals genauso ungewöhnlich wie Schülerinnen eines Rabbi.
Also: nicht, was Marta tut, ist falsch, sondern sie tut es zum falschen
Zeitpunkt. Vor lauter Geschäftigkeit verpasst sie das, was Jesus
auch ihr zu sagen hätte. Sie hat ihn zu Gast und hat doch nichts
davon.

Nun hätte uns
Lukas diese Geschichte wohl nicht überliefert, wenn es für ihn nur
eine nette Begebenheit aus dem Leben Jesu gewesen wäre. Ich denke,
dass er den christlichen Gemeinden seiner Zeit damit etwas sagen
wollte. Denn ein paar Stichworte weisen darauf hin, dass er das
Gemeindeleben seiner Gegenwart mit im Blick hat. Für das „Dienen“
der Marta verwendet Lukas das Wort diakoniva. Wenn Sie dabei
an unser Wort Diakonie denken, dann liegen Sie völlig richtig. diakoniva
war schon zu Lukas’ Zeiten der Fachausdruck für alles, was in den
christlichen Gemeinden an tätiger Nächstenliebe geschah: Arme speisen,
Kranke pflegen, Einsame besuchen, für das äußere Wohl der Gemeinde
sorgen und so weiter und so fort. Und für die „Rede“ Jesu, der Maria
zuhört, verwendet Lukas das Wort lovgoj, und das wird oft
für das Wort Gottes gebraucht. Maria hört also auf das Wort
Gottes, das Jesus verkündigt, während Marta mit vielfältigen diakonischen
Aufgaben beschäftigt ist.

So betrachtet,
gewinnen der Protest Martas und die Antwort Jesu noch eine ganz
neue Dimension. Dann geht es hier um die Frage: Was ist wichtiger
für die Kirche, dass sie Gottes Wort hört oder dass sie sich um
die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen? Eine Frage, die heute
genauso aktuell ist wie damals.

Für Marta und
für alle, die so denken wie sie, ist die Antwort klar: Sie sehen
die viele Arbeit, sie sehen die vielen Menschen mit ihren vielfältigen
Nöten, und sie denken nur noch: helfen! Helfen, so gut es geht und
so viel es geht. Nächstenliebe – das ist es doch, was das Christentum
ausmacht, und das ist es auch, was die Leute von uns Christen erwarten.
Wenn die Kirchen Gutes tun, genießen sie immer noch hohes Ansehen.
Und welcher Christenmensch könnte auch tatenlos zuschauen oder nicht
zumindest ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er all das menschliche
Elend sieht – hier bei uns und überall auf der Welt. Also: Diakonie,
Nächstenliebe, soziales Engagement – das muss sein. Stillsitzen
und Jesus zuhören, das können wir immer noch, wenn alles getan ist,
was in unserer Macht steht. Aber wann ist jemals alles getan?

Auch für Jesus
ist die Antwort klar. Doch er vertritt nicht einfach die entgegen
gesetzte Position. Er sagt nicht: „Es ist wichtig, dass ihr mir
zuhört, und alles andere ist unnötige Betriebsamkeit.“ Er stellt
nur einfach fest: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Das ist
so, und das ist auch nicht falsch. Schließlich hat Jesus selbst
betont: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und er hat nicht
hinzugefügt: „Aber nur, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht!“ Nein,
es darf uns ruhig etwas kosten, für unsere Mitmenschen da zu sein,
und zwar nicht nur Geld. Aber Sorge und Mühe ist nicht alles. Und
vor allem ist Diakonie nicht das entscheidende Kriterium,
das uns zu Nachfolgern Jesu macht. Sie ist nicht das Eine, das wirklich
not tut. Dieses Eine ist das, was Maria macht: Jesus zuhören und
durch ihn auf Gott hören.

Nun könnte man
natürlich fragen: Weshalb ist das so wichtig? Warum lange reden
und zuhören, wenn ich doch weiß, wo Not am Mann ist und was getan
werden muss? Vielleicht macht es ein schlichter Vergleich deutlich:
Wenn ich mein Auto anlasse, die Bremse löse und aufs Gas trete,
dann fährt es los. Und es fährt und fährt, fünf- sechshundert Kilometer
weit, wenn es sein muss, auch auf vollen Touren. Aber irgendwann
bleibt die Kiste stehen, und alles Gasgeben bringt sie nicht wieder
zum Laufen – es sei denn, ich hab rechtzeitig getankt.

So ähnlich ist
es auch mit unserem Christenleben: Unser Glaube, unser Vertrauen
auf Gott ist die Triebkraft für unser Handeln. Und diese Triebkraft
erneuert sich genauso wenig von selbst wie das Benzin im Tank. Glaube
kommt aus dem Hören auf Gott. Und wenn wir wirklich aus unserem
Glauben heraus handeln wollen, dann müssen wir uns von Gott immer
neu füllen lassen. Sonst laufen wir eines Tages leer. Wir funktionieren
dann vielleicht noch und machen uns immer noch viel Sorge und Mühe,
aber es kommt nichts mehr dabei heraus. Wir ziehen dann keinen Gewinn
mehr aus dem, was wir tun, und irgendwann brechen wir entweder zusammen
oder geben es auf.

Allmählich hat
sich das herum gesprochen in unserer betriebsamen, aber oft so lieb-
und lustlosen Kirche. Und deshalb fragen heute wieder mehr Christinnen
und Christen nach dem guten Teil, das Maria erwählt hat. Man nennt
es heute meistens nicht mehr Hören auf Gott oder auf Jesus sondern
„Spiritualität“ – klingt irgendwie moderner. Aber gemeint ist damit
im Grunde das Gleiche. Gemeint sind Möglichkeiten, wie man Gott
begegnen und sich bei ihm neue Kraft holen kann. Gelegenheiten,
bei denen man mal nicht für andere da sein muss, sondern einfach
sich selbst und dem eigenen Glauben etwas Gutes tun kann. Solche
Gelegenheiten gibt es öfter, als wir denken. Zum Beispiel jetzt,
wo wir gemeinsam Gottesdienst feiern. Der Gottesdienst bietet uns
eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, aufzuatmen und uns dafür offen
zu halten, dass Gott zu uns spricht – vielleicht durch die Predigt,
vielleicht durch das Abendmahl, vielleicht durch einen Moment der
Stille, vielleicht auch durch die Begegnung mit anderen Christinnen
und Christen. Aber es gibt auch andere Gelegenheiten, wo man Gott
begegnen kann – besondere und alltägliche. Gelegenheiten, bei denen
Gott uns ins Herz sieht und alles, was vor Augen ist, gleichgültig
wird, so wie es Sophias Taufspruch sagt. Ich denke, wir müssen jeder
selbst herausfinden, bei welchen Gelegenheiten wir Gottes
Nähe besonders spüren, was uns für unseren Glauben besonders gut
tut. Entscheidend ist nur, dass unser Glaube solche Möglichkeiten
zum Auftanken hat. Sonst geht er ein, oder er geht in hektischer
Aktivität unter. Wohl uns, wenn Gott es mit uns so weit nicht kommen
lässt. Wohl uns, wenn uns das „gute Teil“ niemand wegnimmt, auch
wir selber nicht.

Amen.

 

Predigt vom 27.2.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
SEXAGESIMAE

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
27.2. 2011
Text: Mk 4,26-29

Ab und zu werde
ich gefragt, warum ich eigentlich Pastor geworden bin. Ich erzähle
dann meistens von meinem Werdegang, meinen Gaben und Interessen
und den Entscheidungen und Wendepunkten, die mich schließlich in
diesen Beruf gebracht haben. Aber wenn es nach den Vorstellungen
ginge, die sich manche Leute vom Pastorenleben machen, könnte die
Antwort auch ganz kurz sein: Ich bin Pastor geworden, weil ich schon
immer gern einen bequemen und trotzdem leidlich gut bezahlten Job
haben wollte. Wie das kommt? Na, richtig arbeiten muss ich doch
nur sonntags vormittags. Ansonsten kann ich es mir in meinem Studierzimmer
gemütlich machen und tiefsinnigen theologischen Gedanken nachhängen.
Und wenn mir nach Gesellschaft ist, dann besuche ich eben ein paar
Gemeindeglieder zum Geburtstag – natürlich nur die, die ich besonders
mag – und lass mich zu Kaffee und Kuchen einladen. Wer wirklich
dringend meine Hilfe braucht, kann ja kommen oder anrufen.
Ansonsten lass ich den lieben Gott einen guten Mann sein und lass
ihn dafür sorgen, dass seine Kirche nicht untergeht.

Sie meinen, diese
Vorstellung sei vielleicht doch ein bisschen naiv? Da wären doch
noch die Konfirmandenarbeit, die Kindergärten, die Taufen, Trauungen,
Beerdigungen, die Frauenkreise und Seniorenclubs, die Glaubens-
und Bibelgespräche, die Seelsorge, nicht nur an Alten und Kranken,
die Sitzungen und Besprechungen, der Verwaltungskram und, und, und?
Sie haben ja recht. Und ich kann Sie beruhigen: Ich bin mir
völlig im Klaren darüber, dass ich keinen bequemen Job habe und
bin trotzdem gern Pastor. Nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung
kann man sich das Pastorendasein so gemütlich vorstellen, wie ich
es eben beschrieben habe.

Wenn ich es also
hätte bequem haben wollen, dann hätte ich einen anderen Beruf ergreifen
müssen. Bauer zum Beispiel. Die haben’s wirklich gut! Jedenfalls,
wenn es sich mit der Landwirtschaft so verhält wie in dem Gleichnis,
das heute Predigttext ist. Jesus hat es erzählt, und der Evangelist
Markus hat es aufgeschrieben. Es steht in Markus 4,26-29:

Und er sprach:
Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land
wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht
auf und wächst, ohne dass er’s weiß. Von selbst bringt die Erde
Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen
in der Ähre. Wenn aber die Frucht es gestattet, so schickt er alsbald
die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Das ist doch nun
wirklich ein beschauliches Leben, oder? Im Frühjahr wird gesät.
Dann überlässt man das Korn sich selbst und genießt den Sommer.
Im Herbst braucht man dann nur noch zu ernten. Und dann sagt Jesus
auch noch: so ist das Reich Gottes. So verwirklicht sich Gottes
neue Welt, seine Herrschaft über die Erde: ganz von selbst, ohne
viel Arbeit und Mühe. Da frage ich mich dann ja wieder, ob ich als
Pastor und „Reich-Gottes-Arbeiter“ nicht einfach doch eine ruhige
Kugel schieben könnte.

Nun sitzen hier
im Gottesdienst wahrscheinlich keine echten Landwirte. Aber viele
wissen noch von früher, wie es da so zugeht, und viele haben einen
Garten, ich ja auch. Deshalb wissen wir alle: So einfach, wie Jesus
sich das anscheinend vorstellt, geht es beim Getreideanbau auch
nicht zu. Da muss man erst mal pflügen und eggen und düngen, ehe
man säen kann. Und dann muss man womöglich noch Unkraut jäten oder
gar – „grüne Hähne“ bitte weghören! – Herbizide und Pestizide versprühen.
Das alles war sicher schon mal anstrengender, als es noch keine
Maschinen gab, aber viel Arbeit ist es immer noch, trotz technischem
Fortschritt. Erst wenn man das alles getan hat, und wenn es dann
noch genug Regen und Sonnenschein gibt und nicht hagelt, dann hat
man Chancen auf eine ordentliche Ernte. Von wegen beschauliches
Landleben!

Aber ich denke,
wir sollten bei dem Gleichnis noch etwas genauer hinschauen. Jesus
ist zwar kein Bauer, sondern Handwerker. Aber er ist auf dem Land
groß geworden, und er wird schon mitbekommen haben, was es da alles
zu tun gab. Trotzdem lässt er die menschliche Arbeit hier weitgehend
beiseite. Und das hat auch seinen Sinn. Denn so lenkt Jesus unser
Augenmerk auf den einen entscheidenden Vorgang, ohne den es kein
Getreide geben würde. Und für den sorgt nicht der Bauer, sondern
die Natur. Alles, was das Saatkorn braucht, um eine volle Getreideähre
hervorzubringen, alles das steckt schon in ihm drin. Es braucht
nur einen geeigneten Boden, dazu Wasser, Luft und Sonne, dann wird
es sich entfalten. Wir können ein wenig nachhelfen, damit das alles
in der richtigen Mischung zusammenkommt. Aber das Wachstum selbst,
das können wir nicht machen. Es geschieht von allein, sagt Jesus
– „automatisch“ steht da im griechischen Text.

Genauso, sagt
Jesus, ist es auch mit dem Reich Gottes, das er verkündigt. Auch
das Reich Gottes wächst von selbst, ohne menschliches Zutun. Das
heißt allerdings nicht, dass Jesus uns ein Vorbild der Bequemlichkeit
liefert. Im Gegenteil: auch er hat alle Hände voll zu tun. Er ist
ständig unterwegs, predigt, lehrt, redet mit den Menschen, heilt
ihre Krankheiten, segnet ihre Kinder. So wie der Bauer seinen Samen,
so streut er in Wort und Tat die Botschaft aus, dass Gott nahe ist
– mit seiner Liebe und seinem Heil, mit seiner Gerechtigkeit und
seinem Gericht. Mehr kann Jesus nicht tun. Er kann das Reich Gottes
nicht herbeizwingen, nicht mit Geld und guten Worten, und erst recht
nicht mit Gewalt. Er kann nur warten, dass seine Saat aufgeht und
Frucht bringt. Aber er ist voller Zuversicht, dass sie das tun wird.
Denn er weiß, was in ihr steckt. Er weiß, welche Energien seine
Botschaft freisetzt, wenn sie in einem Menschen auf fruchtbaren
Boden fällt. Erst verändert sie ihn selbst, dann seine Umgebung,
und schließlich die ganze Welt. Und dann ist die Ernte da, dann
ist das Reich Gottes Wirklichkeit.

Das Vertrauen,
das Jesus in seine Botschaft setzt, beeindruckt mich immer wieder.
Aber ich frage mich unwillkürlich, woher er eigentlich diese Zuversicht
nimmt. Denn wenn Gottes neue Welt ganz von selbst wächst und gedeiht,
wieso ist sie dann immer noch nicht da? Wieso kommt die Botschaft
Jesu nur bei so wenigen an? Und warum geht dann so viel schief,
auch bei denen, die sich auf die Botschaft Jesu einlassen? Anscheinend
haben schon die Evangelisten Matthäus und Lukas so gedacht. Sie
haben sonst fast das ganze Markts-Evangelium übernommen, aber dieses
Gleichnis haben sie weggelassen. Matthäus hat es bezeichnender Weise
durch das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen ersetzt.

Schon Matthäus
und Lukas hatten also Grund, das Gleichnis zu optimistisch zu finden.
Wir Heutigen natürlich erst recht. Wir haben ja oft das Gefühl,
dass wir säen und säen, aber die Saat einfach nicht aufgehen will.
7500 Gemeindeglieder haben wir immer noch – 200 davon kommen im
Schnitt sonntags zum Gottesdienst – Heiligabend und Ähnliches mitgerechnet.
70 Konfis werden wir dieses Jahr konfirmieren, aber wenn 10 davon
nach der Konfirmation noch irgendwo mitmachen, ist das viel. Ein
paar hundert Handzettel wurden verteilt, um Außenstehende und Randsiedler
der Gemeinde zum Glaubenskurs einzuladen – gekommen sind etwa 12,
und die gehören doch eher zu den Insidern. Im Vergleich mit anderen
sind diese Zahlen gar nicht schlecht, aber als Verhältnis von Saat
und Ernte sind sie doch eher deprimierend. Dabei hat sich in letzter
Zeit eine Menge getan bei Kirchens. Vielerorts geht es längst nicht
mehr so verstaubt und fantasielos zu wie vielleicht noch vor zwanzig
Jahren. Trotz Finanzkrise war das kirchliche Angebot wahrscheinlich
noch nie so bunt, so vielfältig und so einladend wie heute. Aber
die Zahl der Christen, die sich ihres Glaubens bewusst sind und
danach leben, wird scheinbar unaufhaltsam kleiner. Und von so hehren
Zielen wie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, die
ja auch zur Vision vom Reich Gottes gehören, habe ich jetzt noch
gar nicht geredet.

Wie kommt das?
Weshalb sieht es so aus, als seien wir von Gottes neuer Welt weiter
entfernt als je zuvor? Die Antworten darauf sind verschieden. Die
einen sagen: Wir arbeiten immer noch zu wenig. Wir müssten uns noch
mehr für dies oder jenes engagieren, wir müssten mehr auf diese
oder jene Menschen zugehen. Andere sagen, wir machen zuviel unnötige
Arbeit. Wir sollten uns auf das Wesentliche besinnen, mehr Wert
auf klare Verkündigung legen als auf Offenheit und Vielfalt. Wieder
andere sagen, das Saatgut ist schlecht: zu alt, zu trocken, zu schwer
verdaulich. Passt nicht zu der fröhlich-bunten Fassade, die wir
so gern davor aufbauen. Und noch andere sagen, der Boden ist ausgelaugt:
Materialismus und Egoismus prägen unsere Gesellschaft, und daraus
kann eben keine Gottes- und Nächstenliebe wachsen.

Ich glaube, dass
diese Antworten drei Dinge gemeinsam haben. Erstens ist an allen
etwas dran. Zweitens werden sie alle falsch, wenn man eine davon
für die einzig richtige hält. Und drittens treffen sie alle nicht
den Kern. Denn sie reden alle davon, was wir tun oder lassen müssen.
Wenn aber Jesus Recht hat, dann sorgen ja nicht wir sondern Gott
dafür, dass seine Botschaft Erfolg hat. An ihn müssen wir also unsere
Fragen richten, und von ihm müssen wir die Antwort erwarten. Und
das Gleichnis will uns die Gewissheit geben, dass wir die auch bekommen
werden.

Vielleicht könnte
sie ungefähr so lauten: Auch die Bauern machen sich seit Jahrtausenden
Gedanken, wie sie ihre Arbeit optimieren können. Aber trotzdem bleiben
sie darauf angewiesen, dass der eine entscheidende Vorgang funktioniert,
den sie nicht machen können: dass aus einem Saatkorn ein Getreidehalm
mit voller Ähre wird. Und so ist es auch mit uns und dem Reich Gottes:
Wir können uns noch so abstrampeln, wir können noch so klar und
deutlich und zeitgemäß von Gott reden und Zeichen seiner Gegenwart
setzen: wir werden es nie in der Hand haben, dass das bei den Menschen
auch ankommt und sie verändert. Denn das ist der eine, entscheidende
Vorgang, der nicht in unserer Macht steht. Dafür sorgt Gott selbst,
niemand sonst. In diesem Sinne können wir tatsächlich gelassen bleiben
und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Diese gelassene
Zuversicht, die will uns Jesus mit seinem Gleichnis vermitteln.

Gut, dass uns
wenigstens ein Evangelist dieses Gleichnis überliefert hat. Denn
es bedeutet eine ungeheure Entlastung für alle, die ihren christlichen
Glauben in Wort und Tat umsetzen wollen – sei es im privaten, im
öffentlichen oder im Gemeindeleben, sei es haupt-, neben- oder ehrenamtlich.
Denn Jesus spricht uns damit zu: Das, was ihr als Christen sagt
oder tut, das hat Wirkung. Es kommt bei anderen an, und es
setzt etwas in Bewegung. Oft geschieht es im Verborgenen, ohne dass
ihr es wisst. Aber früher oder später kommt es zum Vorschein. Vielleicht
muss zum Beispiel ein Kind erst erwachsen werden, ehe es die christliche
Erziehung seiner Eltern zu schätzen lernt. Vielleicht müssen wir
noch lange Zeichen setzen für Frieden und Gerechtigkeit, bis die
Früchte endlich sichtbar werden. Vielleicht müssen wir noch lange
Wissen über das Christentum vermitteln, bis aus diesem Wissen lebendiger
Glaube wird. Und vielleicht müssen wir auch in unserer persönlichen
Beziehung zu Gott lange Durststrecken überwinden. Aber dass diese
Mühen nicht vergeblich sind, darauf können wir uns verlassen. Spätestens,
wenn Gott die Ernte einfährt, werden wir wissen – und staunen -,
was aus unserer Saat geworden ist.

Amen.