Predigt vom 19.6.2011

 

 

 

GOTTESDIENST ZUR GOLDENEN
KONFIRMATION

Talkirche, 19.6. 2011
Pfr. Dr. Martin Klein
Text: Lk 17,5-6

Nun sind also fünfzig Jahre vergangen, seit Sie
hier in der Talkirche oder im Wenscht konfirmiert wurden. Im
Rückblick kommt es einem ja immer viel kürzer vor, aber trotzdem
sind fünfzig Jahre eine lange Zeit. Die Welt sah noch sehr anders
aus, als Sie damals von Pastor Biederbeck, Fricke, Flick oder
Schmidt mit Gottes Segen ins mündige Christenleben geschickt wurden.
Sie gehörten zu den ersten Jahrgängen, die nach dem Krieg geboren
wurden und aufwuchsen und von friedlichen Verhältnissen und
wachsendem Wohlstand profitieren konnten. Und sie durften damit
rechnen, dass es nach der Schule für Sie einen Ausbildungsplatz oder
zumindest Arbeit geben würde, von der man später mal eine Familie
ernähren konnte. Aber 1961, das war auch die Hochzeit des „Kalten
Krieges“: Im Frühjahr schossen die Russen den ersten Menschen in die
Erdumlaufbahn, was die Amis mächtig wurmte. Im August wurde in
Berlin die Mauer gebaut. Und im Jahr darauf hätte die Kuba-Krise
fast den dritten Weltkrieg ausgelöst. Wahrscheinlich haben diese
Dinge Sie damals noch nicht so sehr beschäftigt. Aber eine diffuse
Angst vor „den Russen“ oder „der Bombe“, die war wohl auch bei
Kindern und Jugendlichen verbreitet.
In diesen Zeiten also haben Ihre Pastoren damals zu vermitteln
versucht, was für Christen Glauben heißt und was dieser Glaube für
Sie persönlich bedeuten könnte. Sie haben dafür gern die Worte des
Heidelberger Katechismus benutzt: „Wahrer Glaube ist nicht allein
die sichere Erkenntnis, in der ich alles für wahr halte, was uns
Gott in seinem Wort offenbart hat, sondern auch ein herzliches
Vertrauen, welches der Heilige Geist durchs Evangelium in mir wirkt,
dass nicht allein andern, sondern auch mir Vergebung der Sünden,
ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt ist aus lauter
Gnade, allein um des Verdienstes Christi willen.“ Wie ich aus den
Unterlagen weiß, die Pastor Fricke mir freundlicherweise zur
Verfügung gestellt hat, haben jedenfalls seine Konfirmanden diese
Worte damals im Konfirmationsgottesdienst gemeinsam gesprochen, und
auswendig lernen mussten Sie die „Frage 21“ sicher alle. Aber ob Sie
auch verstanden haben, worum es geht in diesem komplizierten Satz
mit seinen vielen gewichtigen Wörtern? Ob Sie mit dem Glauben, wie
er dort beschrieben wird, etwas anfangen konnten? Ob er Ihnen ein
Halt war beim Erwachseneren und in all der Zeit, die seitdem
vergangen ist? Das können Sie nur selber wissen und beurteilen. Aber
ich denke, schon damals war es für Vierzehnjährige schwer, eine so
dicht gedrängte Definition des Glaubens zu erfassen. Und heute
versuchen wir erst gar nicht mehr, unsere Konfis einen solchen Satz
auswendig lernen zu lassen. Denn was hülfe es einem Menschen, wenn
er den ganzen Katechismus und das halbe Gesangbuch auswendig wüsste
und könnte kein Wort davon wirklich mit Leben füllen? Er würde ja
doch alles wieder vergessen und wäre dem Glauben keinen Schritt
näher gekommen.
Wenn ich also heute noch einmal nach dem Glauben frage und gemeinsam
mit Ihnen darüber nachdenken will, welchen Platz er in Ihrem Leben
einnimmt, dann knüpfe ich lieber an die schlichten und doch nicht
weniger gehaltvollen Worte Jesu an, über die Pastor Fricke damals
gepredigt hat. Sie stehen in Lukas 17, Verse 5 und 6:

Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: „Stärke uns den Glauben!“
Der Herr aber sprach: „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein
Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich
aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.“

Ich denke, wir stehen nicht in der Gefahr, Jesus allzu wörtlich zu
nehmen. Wozu sollte man auch einen Maulbeerbaum ins Meer versetzen –
oder einen Berg, wie es bei Matthäus heißt? Im übertragenen Sinne
allerdings trauen auch wir einem starken Glauben viel zu. „Glaube
versetzt Berge“ – in dieser Form haben wir das Jesus-Wort zum
Sprichwort gemacht. Und Menschen, die mit ihrem Glauben viel bewegen
oder um ihres Glaubens willen vieles auf sich nehmen, die haben
unsere Bewunderung sicher. Martin Luther, Albert Schweitzer,
Dietrich Bonhoeffer, Mutter Teresa – sie alle sind dafür bekannt,
dass sie ihre christliche Überzeugung mit aller Konsequenz in die
Tat umgesetzt zu haben, dass sie bereit waren, für ihren Glauben
auch Nachteile in Kauf zu nehmen, bis hin zum Verlust des eigenen
Lebens.
Aber wenn wir sie bewundern und verehren, dann ist das wohl auch
immer mit dem Eingeständnis verbunden: Solch einen Glauben habe ich
nicht! Ich könnte das nicht, allein vor Kaiser und Fürsten hintreten
und sagen: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Ich brächte es
nicht über mich, Heimat und Besitz aufzugeben, um irgendwo in Afrika
ein Krankenhaus aufzumachen oder mich in Kalkutta um die Ärmsten der
Armen zu kümmern. Ich würde den Mut nicht aufbringen, im Namen Jesu
Widerstand zu leisten gegen Diktatur und Gewaltherrschaft. Wohl aber
würde ich das alles gern können, wenn’s drauf ankommt. Und deshalb
ist es wohl unser aller Wunsch, den die Apostel dem Herrn vortragen:
„Stärke unseren Glauben!“ Verleih uns solchen Glauben, der wirklich
etwas bewegt in dieser Welt und der jedem Druck standhält!
Ich wiederhole noch mal Jesu Erwiderung auf die Bitte der Apostel:
„Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr
zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins
Meer!, und er würde euch gehorchen.“ Ist das überhaupt eine Antwort?
Und wenn ja, was will Jesus damit eigentlich sagen? Das winzige
Senfkorn war damals sprichwörtlich für die kleinstmögliche Menge –
soviel ist klar. Also besagen Jesu Worte, positiv formuliert: Schon
das kleinste bisschen Glauben reicht aus, um damit schlicht-weg
alles zu bewegen. Aber Jesus formuliert es ja anders: „Wenn ihr
Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn …“ So steht es in der
Lutherbibel, und so wird es auch meistens verstanden. Das wäre dann
aber eine komplette Abfuhr: „Ihr wollt, dass ich euren Glauben
stärke? Völlig falsche Frage! Denn wenn ihr auch nur die winzigste
Kleinigkeit an Glauben hättet, dann hätte er gar keine Stärkung
nötig. Da ihr aber keinen habt, gibt’s da auch nichts zu stärken!“
Also: Glaube versetzt entweder Berge oder er ist gar nicht da. Das
wären dann allerdings finstere Aussichten für uns
Otto-Normalchristen in Geisweid und anderswo.
Zum Glück muss man den Satz aber wohl anders lesen. Denn wörtlich
steht da: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, dann hättet ihr
zu diesem Maulbeerbaum sagen können: Entwurzele dich und pflanz dich
ins Meer, und er hätte euch gehorcht.“ So klingt das schon anders.
Denn so ist das mit dem Baum zwar ein irreales Bei-spiel – macht ja,
wie gesagt, auch keinen Sinn –, aber der Senfkorn-Glaube ist eine
reale Möglichkeit. So einen Glauben kann jeder haben, und mehr
Glauben braucht keiner, denn diesem Glauben sind alle Dinge möglich.
Die Frage ist nur: Wie komme ich zu solchem Glauben? Reicht es
dafür, wenn ich christlich erzogen, getauft und konfirmiert bin und
das ganz okay finde? Kann ich mir einfach vornehmen: „So, ab jetzt
glaube ich“? Muss ich eine persönliche Entscheidung für Jesus
Christus treffen, um zum Glauben zu kommen? Ist der Glaube ein
Gefühl, das mal da und mal weg ist, das man aber auch durch
bestimmte Reize hervorrufen kann? Muss ich alle Zweifel verbannen?
Muss ich ein religiöser Typ sein, um glauben zu können? Braucht man
dazu ein bestimmtes Gen, das der eine hat und die andere nicht?
Nein, ich glaube, das alles kratzt höchstens ein bisschen an der
Außenseite. Es trifft nicht das, was christlicher Glaube wirklich
ist. Glaube ist – und jetzt bemühe ich doch noch mal den
Heidelberger Katechismus – ein herzliches Vertrauensverhältnis
zwischen mir und Gott. Glaube, das ist meine Antwort darauf, dass
Gott mich bei der Hand nimmt, mich beim Namen ruft und mir zusagt:
Du gehörst zu mir, weil ich dich lieb habe. Glaube ist, wenn mir
aufgeht, dass Gott da ist und mir seine Liebe schenkt, und mein Ja
dazu ist dann eine Selbstverständlichkeit. So wie bei einem Kind,
für das es überhaupt nicht in Frage käme, das Päckchen, das man ihm
in die Hand drückt, nicht auszupacken. Ich sage Ja zu Gott, weil er
Ja zu mir sagt. Das ist das Senfkorn. Alles andere kann und wird
daraus wachsen.
Mehr als dieses Senfkorn hat übrigens keiner, auch kein Pastor,
sei’s von heute, sei’s von damals, auch all die großen Gestalten
nicht, die ich vorhin erwähnt habe. Im Gegenteil: Je intensiver sie
ihren Glauben lebten, desto mehr wurde ihnen seine Winzigkeit
bewusst, desto stärker waren sie von Zweifeln und Anfechtungen
geplagt, desto mehr zerrann ihnen alle Gewissheit zwischen den
Fingern. Für Martin Luther blieb als letzter Nothaken oft nur noch
die Tatsache, dass er getauft war und damit zu Gott gehörte. „Dein
bin ich, o Gott!“ – mit diesen Worten schrieb auch Dietrich
Bonhoeffer gegen die Angst und die innere Leere im Tegeler Gefängnis
an. Und aus Mutter Teresas Tagebüchern weiß man inzwischen, dass sie
über die längste Zeit ihres Wirkens keinen Glauben und keine Liebe
in sich spürte. „Wofür arbeite ich?“ schrieb sie. „Wenn es keinen
Gott gibt – kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele
gibt, dann, Jesus – bist auch Du nicht wahr.“ Sie kam sich wie eine
Lügnerin vor, die der Welt etwas vorspielt. Aber Gott blieb doch für
sie Wirklichkeit, auch wenn sie ihn als abwesend erlebte. Christus
blieb ihr Auftraggeber, obwohl sie sich von ihm verlassen fühlte.
Das war ihr Senfkorn, ihr Strohhalm, an dem sie sich festhielt und
der sie nicht aufgeben ließ. Und wer wollte bezweifeln, dass dieses
Senfkorn unheimlich viel bewegt hat?
Ob sie es damit verdient hat, heilig gesprochen zu werden, das ist
ein Problem der katholischen Kirche. Aus evangelischer Sicht kann
man nur sagen: Sie ist heilig, weil sie zu Gott gehört – so wie
alle, denen das Senfkorn des Glaubens zu teil wird. Die Zweifel, das
Gefühl, von Gott verlassen zu sein, die können daran nichts ändern –
so wenig wie bei Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer, so wenig
wie bei uns kleinen Glaubenslichtern hier und heute. Schließlich
starb auch Jesus mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen?“ – und ließ mit seinem Tod den Berg unserer
Schuld und Gottverlassenheit im Meer versinken! Sollte er da mit
unserem kleinen Glauben nicht große Dinge tun können?
Wenn ich Ihnen also heute etwas wünschen soll zu Ihrer Goldenen
Konfirmation, dann ist es dieses kleine Senfkorn Glaube. Vielleicht
tragen Sie es längst in sich, schon seit damals vor fünfzig Jahren
oder noch länger. Vielleicht haben Sie irgendwann später Ihr kleines
Ja zu Gottes großem Ja gesprochen. Dann freuen Sie sich weiter daran
und halten Sie Ihr Glaubenssenfkorn fest als das kostbarste
Geschenk, das Sie je bekommen haben. Haben Sie keine Angst, dass Ihr
Glaube zu schwach sein könnte für das, was das Alter an Lasten für
Leib und Seele mit sich bringen mag. Gott, der Ihnen dieses Geschenk
gemacht hat, der wird es Ihnen auch erhalten bis an Ihr Lebensende –
auch wenn Sie vielleicht zuzeiten das Gefühl beschleicht, dass sie
es verloren haben.
Vielleicht gehören Sie aber auch zu denen, die zwar manches vom
Glauben gehört und mitbekommen haben, aber doch immer auf Distanz
geblieben sind. Dann bitte ich Sie, doch einmal zu prüfen, ob sich
diese Distanz nicht an den falschen Dingen festmacht. Vielleicht
sind es schlechte Erfahrungen mit Eltern, Pastoren und anderen
Gläubigen, die Sie vom Glauben abhalten. Vielleicht sind es die
hohen Glaubenshürden, die irgendjemand vor Ihnen aufgebaut hat: „Als
Christ musst du aber dieses und jenes glauben, du musst und so und
so handeln und darfst dies und das nicht tun“. Oder es ist der
gerade im Siegerland verbreitete Irrtum, dass es letztlich an mir
hängt, ob ich glaube oder nicht – an meiner Entscheidung, an meiner
inneren Gewissheit, an meinem glaubensgemäßen Handeln. Dann lassen
Sie es sich noch mal gesagt sein: Es kommt beim Glauben auf nichts
anderes an als auf das „herzliche Vertrauen“ zwischen Gott und mir.
Da gehört nichts dazwischen, keine schlechte Erfahrung, keine
Vorschrift und keine Eigenleistung meinerseits. Und es ist niemand
anderes als Gott, der dieses Vertrauensverhältnis stiftet. Von
seiner Seite aus ist das Vertrauen längst hergestellt: begründet in
Tod und Auferstehung Jesu Christi, Ihnen persönlich zugesagt mit der
Taufe und noch mal bestätigt mit der Konfirmation. Und Sie können
jederzeit schlicht und einfach Ja dazu sagen, wann auch immer Ihnen
aufgeht, dass das wahr ist. Möge aus dem Samenkorn, das Gott dabei
in Sie hineinpflanzt, ein guter Baum, eine schöne Blume in Gottes
Garten werden, so wie wir es eben mit den Worten Paul Gerhardts
gesungen haben. Und möge der Friede Gottes, der höher ist als alle
Vernunft, unser aller Herzen und Sinne bewahren in Jesus Christus.“

Amen.