Predigt vom 26.6.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ERSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
26.6. 2011
Text: Joh 5,39-47

Das Christentum
ist eine Buchreligion. Mit dem, was wir glauben, berufen wir uns
auf die heilige Schrift, die wir „die Bibel“ – zu Deutsch schlicht:
„das Buch“ nennen. Mit diesem Bibelbuch umgehen zu lernen, ist allerdings
gar nicht so einfach: für alle Lesemuffel sowieso, aber auch für
die wachsende Zahl von Menschen, die nur noch elektronische Medien
gewohnt sind. Und selbst für gewiefte Leseratten hat die Bibel als
gedrucktes Buch so ihre Tücken. Ich merke das immer, wenn ich mit
Konfirmanden Bibelaufschlagen übe. Besonders ein Problem scheint
dabei schier unüberwindlich zu sein: Ich sage zum Beispiel: „Schlagt
mal das Matthäus-Evangelium auf, Kapitel 5, Vers 3!“ Irgendjemand,
der es schnell gefunden hat, ruft dann noch „Seite 7“ in die Runde.
Weil alle die gleiche Bibelausgabe haben, sollte es nun eigentlich
kein Problem mehr sein, die richtige Stelle zu finden. Trotzdem
kann ich sicher sein, dass etliche die Bibel keineswegs bei Matthäus
aufschlagen, sondern im ersten Buch Mose herumblättern. Gemeinerweise
gibt es dort nämlich schon einmal eine Seite 7. In fast allen Bibelausgaben
beginnt die Seitenzählung mit dem Matthäusevangelium noch einmal
von vorn. Das ist deshalb so, weil die Bibel eben nicht ein Buch
ist, sondern zwei: Altes Testament und Neues Testament. Und zwei
Bücher unter einem Buchdeckel, das sind halt auch lesefreudige Konfis
nicht gewohnt – und nicht nur sie.

Das gibt natürlich
Anlass zu der Frage, warum das eigentlich so ist. Warum besteht
die Bibel aus zwei Büchern mit doppelter Seitenzählung, und warum
druckt man sie dann trotzdem für gewöhnlich in einem Band und nicht
in zwei? Anders gesprochen: Warum gelten uns Altes und Neues Testament
zusammen und gleichermaßen als Heilige Schrift?

Für das Neue Testament
ist die Frage leicht zu beantworten: Als Christen glauben wir an
Jesus Christus, den Sohn Gottes, und das Neue Testament enthält
die ältesten und ursprünglichsten Zeugnisse über ihn und den Glauben
an ihn. Ohne dieses Buch wüssten wir nicht aus erster Hand, wer
Jesus ist und was er für uns bedeutet. Nirgendwo sonst kommen wir
ihm so nahe.

Aber warum dann
noch das Alte Testament? Wenn wir aus dem Neuen Testament alles
Notwendige über Jesus erfahren, wozu brauchen wir dann noch ein
Buch in unserer Bibel, in dem Jesus gar nicht vorkommt? Noch dazu
eines, an dem wir vieles befremdlich finden: Es ist ursprünglich
Hebräisch geschrieben und damit in einer Sprache – und einer Denke
–, die nicht unserem Kulturkreis angehört. Es enthält Gebote und
Lebensregeln, Speisegebote zum Beispiel, deren Einhaltung uns unsinnig
vorkäme. Es handelt von Gott, aber es schreibt ihm Eigenschaften
und Handlungsweisen zu, die uns nicht zu ihm zu passen scheinen:
Wut und Eifersucht, Vernichtung von Menschenleben, Bestrafung aller
für die Vergehen einzelner und Bevorzugung eines bestimmten Volkes,
des Volkes Israel, gegenüber allen anderen. Und schließlich ist
unser Altes Testament auch noch die Heilige Schrift einer anderen
Religion, nämlich des Judentums. Kein Wunder, dass es immer wieder
Christen gegeben hat, die gemeint haben: über das Alte Testament
sind wir als Christen längst hinaus. Wir glauben an einen Gott der
Liebe, nicht der Rache, haben sie gesagt. Wir handeln nicht nach
der Maxime „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sondern nach dem Gebot
der Feindesliebe. Und wir glauben, dass Gott nicht nur für ein Volk,
sondern für alle Menschen da ist. Deshalb stehen wir auf einer höheren
Stufe der religiösen Entwicklung. Wir sollten also das Alte Testament
aus unserer Bibel streichen und es getrost den Juden überlassen.

Trotzdem haben
sich die christlichen Kirchen immer wieder dafür entschieden, dass
das Alte Testament zu unserer Bibel gehört, zuletzt die Bekenntnissynode
von Barmen 1934 gegen die so genannten „Deutschen Christen“, die
als überzeugte Nazis alles „Jüdische“ aus der Bibel streichen wollten.
Warum war ihnen allen das Alte Testament so wichtig? Das steht zum
Beispiel im heutigen Predigttext aus dem Johannesevangelium, Kapitel
5. Es ist ein Teil aus einer längeren Rede, die Jesus an die Juden
seiner Zeit richtet. Dort heißt es:

 

Ihr sucht in
der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und
sie ist’s, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen,
dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber
ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin
gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn
ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr
annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander-der annehmt,
und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde;
es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr
Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.
Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen
Worten glauben?

 

Diese Rede hat
Jesus so nie gehalten. Der Evangelist hat sie ihm in den Mund gelegt.
Er wollte damit auszudrücken, wer Jesus für ihn und seine Gemeinde
ist und was das bedeutet für die Auseinandersetzung mit den Juden,
die nicht an Jesus glauben. Dabei geht es ganz entscheidend um die
Frage, wie die Heilige Schrift zu verstehen ist. Zur damaligen Zeit,
als es das Neue Testament noch nicht gab, war die Heilige Schrift
für Juden und Christen die gleiche. Sie bestand aus den fünf Büchern
Mose, den Propheten und den übrigen Schriften, die wir jetzt „Altes
Testament“ nennen. Allerdings wurde diese Heilige Schrift schon
damals von Juden und Christen unterschiedlich gedeutet.

Für die Juden
war und ist das Herzstück der Bibel die Tora, die gute Lebensordnung,
die Gott durch Mose seinem Volk Israel gegeben hat. Die Propheten
und die übrigen Schriften legen nach jüdischem Verständnis diese
Tora aus und wenden sie an. Und wer zu Gottes Volk gehört und sich
an die Tora hält, der gewinnt das Leben.

Die Juden dagegen,
die zum Glauben an Jesus Christus kamen, verstanden ihre Bibel plötzlich
ganz anders. Sie lasen sie von vorn bis hinten als Zeugnis für Jesus
Christus. Die Verheißungen der Propheten galten ihnen als durch
Jesus erfüllt. Die Erzählungen von Gottes Handeln an Israel verstanden
sie als Urbilder seines Handelns in Jesus Christus. Und die Befolgung
der Gebote war für sie im Glauben an Jesus Christus begründet. Deshalb
kann Johannes, der Evangelist, Jesus sagen lassen: Wenn ihr Mose
glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.

Wenn das stimmt,
dann muss das Alte Testament natürlich zur christlichen Bibel gehören.
Denn wenn es von Jesus handelt, dann lässt sich ohne das Alte Testament
auch nicht voll erfassen, wer Jesus ist und was er für uns bedeutet.

Aber stimmt das
denn? Im Alten Testament steht doch nichts über Jesus. Ja, es kann
auch gar nichts über ihn drinstehen. Schließlich ist es lange vor
Jesu Geburt entstanden. Sicher, an einigen Stellen im Alten Testament
wird das Kommen eines Retters und Heilbringers verheißen. Da kann
ich natürlich sagen: damit ist Jesus gemeint. Aber beweisen kann
ich das nicht. Und ein Jude, der seine Bibel ernst nimmt, wird mir
zu Recht vorhalten, dass vieles von diesen Verheißungen doch noch
gar nicht in Erfüllung gegangen ist. Das angekündigte Friedensreich
ist noch nicht verwirklicht, und die verheißene Gerechtigkeit für
alle Menschen auch nicht. Wäre ich da als Christ nicht ziemlich
dreist und überheblich, wenn ich behaupten würde: „Ich verstehe
das Alte Testament richtig, weil ich es als Zeugnis für Jesus lese,
ihr Juden dagegen versteht es falsch?“

Genau das tut
aber das Johannes-Evangelium. Ja, es geht sogar noch weiter: „Ihr
habt Gottes Liebe nicht in euch“, heißt es da über die Juden, „ihr
erkennt Gottes Ehre nicht an, sondern nur eure eigene“ und „Mose
klagt euch an, weil ihr nicht glaubt“.

Dass der Evangelist
und seine Gemeinde so geredet haben, kann ich verstehen. Sie waren
schließlich geborene Juden. Sie mussten ihren Glauben an ihre Heilige
Schrift und den Glauben an Jesus Christus miteinander in Einklang
bringen. Deshalb mussten sie das Alte Testament auf Christus deuten.
Und dafür wurden sie von den anderen Juden verfolgt und verstoßen.
Denn die konnten diese Deutung nicht akzeptieren. Letztlich war
das Ganze damals noch kein Streit zwischen zwei verschiedenen Religionen,
sondern eine Auseinandersetzung innerhalb des Judentums, zwischen
christlichen und nichtchristlichen Juden.

Für mich heute
sieht die Sache anders aus. So wie Jesus bei Johannes kann ich nicht
mehr reden. Denn ich bin kein Judenchrist, der von seinen Landsleuten
für seinen Glauben verfolgt wird. Ich gehöre einer heidenchristlichen
Kirche an, die ihrerseits Jahrhunderte lang die Juden verfolgt und
verstoßen hat und die solche und ähnliche Sätze aus dem Neuen Testament
dazu missbraucht hat, um die Judenverfolgung zu rechtfertigen. Damit
stehe ich mit in der Geschichte der Schuld, die Generationen von
Christen den Juden gegenüber auf sich geladen haben. Erst der grauenvolle
Tiefpunkt dieser Geschichte im 20. Jahrhundert hat uns im Nachhinein
sensibel gemacht für die Gefährlichkeit solcher Aussagen.

Sollten wir dann
nicht doch darauf verzichten, das Alte Testament von Jesus Christus
her zu lesen? Jetzt nicht mehr aus Überheblichkeit gegenüber einer
angeblich überholten Religion, sondern aus Respekt vor den Juden
und ihrem Glauben? Ich denke, das können wir nicht, trotz allem.
Denn solange wir glauben, dass der Gott Israels und der Vater Jesu
Christi ein und derselbe sind, muss das Alte Testament Teil der
christlichen Bibel bleiben und deshalb auch aus christlicher Sicht
gelesen werden. Gerade wenn wir das tun, werden unsere Vorurteile
gegenüber dem Alten Testament verschwinden. Denn nicht erst Jesus
hat von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes gesprochen. Davon reden
auch schon die Tora, die Propheten oder die Psalmen. Und andererseits
redet auch das Neue Testament von Gottes Zorn und seiner Gerechtigkeit.
Nicht erst in Jesus ist Gott den Menschen nahe gekommen, sondern
er hat schon Abraham begleitet, Israel durch die Wüste geführt und
in Salomos Tempel seine Wohnung aufgeschlagen. Das Gebot der Nächstenliebe
hat nicht Jesus formuliert, sondern es steht in 3. Mose 19,18. Unverdiente
Gnade ist nicht erst Gottes Handeln in Jesus Christus, sondern schon
die Erwählung Israels. Und vom Heil für alle Völker spricht nicht
erst Paulus, sondern auch schon der zweite Jesaja. Diese Liste könnte
ich noch lange fortsetzen. Auf Schritt und Tritt begegnet uns im
Alten Testament der Vater Jesu Christi. Und deshalb legt es Zeugnis
ab für Jesus Christus: So wie Jesus uns Gott offenbart hat, so ist
er wirklich und so war er schon immer.

Ein jüdischer
Gesprächspartner würde jetzt natürlich sagen: Um das alles zu wissen,
brauche ich Jesus nicht. Das kann ich auch ohne ihn in meiner Bibel
lesen. Oder wie es ein bekannter jüdischer Philosoph formuliert
hat: „Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber
sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt
niemand zum Vater – anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater
zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der
Fall des Volkes Israel.“

An diesem Punkt
muss ich allerdings vom Neuen Testament her widersprechen. Für alle,
die dort reden und schreiben, ist klar, dass auch die Juden nur
durch Christus zum Vater kommen. Sie waren ja selber Juden und haben
es so erlebt. Und das wird auch dadurch nicht falsch, dass es heute
kaum noch Judenchristen gibt (einige aber sehr wohl!). So wünschenswert
es ist, dass Juden und Christen miteinander-der im Gespräch bleiben
und dass vor allem wir Christen die Juden besser verstehen lernen:
an diesem Punkt werden wir uns niemals einigen können, ohne zum
Glauben des jeweils anderen überzutreten. Wir müssen es aber auch
nicht. Denn wir warten ja von der Bibel her beide darauf, dass Gott
eines Tages die ganze Wahrheit allen sichtbar offenbaren wird. Dann
wird sich erweisen, ob es stimmt, dass Jesus Christus der Weg, die
Wahrheit und das Leben ist, und ich vertraue darauf, dass es auch
dann noch möglich ist, dass Juden und Nichtjuden dieser Wahrheit
Glauben schenken.

Amen.