Predigt vom 24.7.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN FÜNFTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Hamme,
Paul-Schneider-Haus, 4.7. 1999
Schüren, 19./26.6 2005
Tal-
und Wenschtkirche, 24.7. 2011

Text: Joh 1,35-42

Der Predigttext
veranlasst mich, heute mit folgender Frage zu beginnen: Wie wird,
wie bleibt man eigentlich eine einladende Gemeinde? Ich setze dabei
einfach mal voraus, dass die Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde
Klafeld eine einladende Gemeinde sein will – wie, na, sagen wir,
fast alle anderen Gemeinden auch. Und ich hebe auch gern hervor,
dass wir auf diesem Gebiet nicht die Schlechtesten sind. Viele empfinden
zum Beispiel die „Guten-Abend-Kirche“ als einladendes Angebot und
nehmen es auch wahr, andere kommen über die Kindergärten oder über
die Konfirmandenarbeit zu uns. Und ich könnte eine ganze Reihe Menschen
aufzählen, die gerade in den letzten Jahren näheren Kontakt zu unserer
Gemeinde gefunden haben, sich bei uns wohl fühlen und dann auch
an der einen oder anderen Stelle mitarbeiten – im Konfi-Team zum
Beispiel oder beim „Grünen Hahn“. Das ist gut so. Aber es funktioniert
nicht immer. Beim Ökumenischen Kinderfest zum Beispiel herrscht
immer wieder Hochbetrieb im und ums Gemeindezentrum Wenscht. Aber
nur ein Bruchteil der Leute kommt morgens schon zum Gottesdienst.
76 Konfis langweilen sich zurzeit mehr oder weniger regelmäßig in
unseren Gottesdiensten, und nach den Ferien kommen noch mal so viele
neue dazu. Aber wenn wir ihnen anbieten, einen Jugendgottesdienst
ganz nach ihren Wünschen vorzubereiten und zu feiern, findet sich
kaum einer, der mitmacht. Da ertappe ich mich schon mal bei dem
Gedanken, ob ich die Leute eigentlich immer erst mit irgendetwas
ködern muss – mit Spiel und Spaß, mit Kaffee und Kuchen oder auch
nur mit einer Unterschrift auf dem Konfi-Pass, damit sie dafür in
Kauf nehmen, mit der Bibel und den wesentlichen Inhalten unseres
Glaubens konfrontiert zu werden. Ich weiß, dass ich mit diesem Gedanken
wahrscheinlich vielen Leuten, auch vielen Jugendlichen Unrecht tue.
Und so ohne Weiteres lässt sich das „Eigentliche“ auch nicht vom
„Uneigentlichen“ trennen. Aber trotzdem: Die Frage ist da, und vielleicht
ja nicht nur bei mir. Deshalb möchte ich das mit der einladenden
Gemeinde noch etwas genauer klären und drei Fragen stellen:

  1. Wozu laden
    wir eigentlich ein?
  2. Wer lädt
    wen ein?
  3. Was haben
    wir den Eingeladenen zu bieten?

Wenn wir diese
Fragen beantworten können, sind wir, glaube ich, ein gutes Stück
weiter. Und der heutige Predigttext kann uns dabei einige Hilfestellung
bieten. Er steht in Johannes 1 und lautet folgendermaßen:

 

Am nächsten
Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er
Jesus vorübergehen sah, sprach er: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“
Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach.

Jesus aber
wandte sich um und sah sie nachfolgen, und sprach zu ihnen: „Was
sucht ihr?“ Sie aber sprachen zu ihm: „Rabbi, wo ist deine Herberge?“
Er sprach zu ihnen: „Kommt und seht!“ Sie kamen und sahen’s und
blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.

Einer von den
zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nach-gefolgt waren,
war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen
Bruder Simon und spricht zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden.“
Und er führte ihn zu Jesus.

Als Jesus ihn
sah, sprach er: „Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst
Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.“

 

So weit der Text.
Und nun noch einmal die erste er drei Fragen: Wozu laden wir
eigentlich ein?

Ist doch klar,
könnte man denken. Wir wollen, dass mehr Menschen einen Platz in
unsere Gemeinde finden. Also sollten wir sie zu uns einladen: Zum
Gottesdienst zuallererst. Aber auch zur Frauenhilfe, zum Teen-Treff,
zum Kirchenchor, zu Gemeindefesten und so weiter. Das ist ja auch
alles richtig. Aber wir sollten dabei eins nicht vergessen: Für
den, der eingeladen wird, unterscheidet sich unsere Einladung erst
einmal nicht grundlegend von einer Einladung zum Seniorenclub der
AWO oder zum Grillfest des Kleingartenvereins. Ob er sie annimmt
oder nicht, ist für ihn letztlich egal. Echte Bedeutung bekommen
unsere Einladungen nur, wenn hinter ihnen die große Einladung steht,
die alle anderen umfasst und übertrifft: Die Einladung zu Jesus
Christus. Im Predigttext wird das ganz deutlich: Johannes der Täufer
zeigt auf Jesus und sagt zu seinen Jüngern: „Siehe, das ist Gottes
Lamm!“ Und Andreas sagt zu Simon: „Wir haben den Messias gefunden.“
Und dann bringt er ihn zu Jesus.

Mit dieser Einladung
tun wir uns heute oft schwer, sogar im frommen Siegerland, und das
obwohl wir uns doch in jedem Gottesdienst zum Glauben an Jesus Christus
bekennen. Und das Problem besteht nicht nur darin, dass wir ihn
nicht leibhaftig vor Augen haben wie die Menschen damals. Wir wissen
auch sonst wenig darüber, wo man denn die Gegenwart Jesu Christi
heute erfahren kann, wo etwas da-von zu spüren ist, dass Gott tatsächlich
Mensch geworden ist. Deshalb wäre es wirklich zu billig, wenn wir
einfach sagen würden: „Komm zu Jesus, und alles wird gut!“ Dann
müssten wir uns die Rückfrage gefallen lassen: „Wo ist er denn,
dieser Jesus? Und wenn du mir das nicht sagen kannst, wieso behauptest
du dann, dass bei ihm alles gut wird?“ So wie die Dinge stehen,
müssten wir also erst einmal selber das tun, was die beiden Johannes-Jünger
tun, als sie Jesus treffen. „Meister“, fragen sie ihn, „wo ist deine
Herberge?“ Ich übertrage das für uns einmal so: „Wo bist du zu Hause,
Jesus? Wo können wir dich finden? Wo können wir dir begegnen?“ Und
Jesus antwortet ihnen und uns: „Kommt und seht!“ Letztlich sind
es also gar nicht wir, die einladen. Jesus selbst lädt uns zu sich
ein. „Kommt und seht“ – für uns könnte diese Einladung vielleicht
so lauten: „Beschäftigt euch mit der Bibel. Da schreiben Menschen,
die meine Nähe erfahren haben, und durch ihre Worte hindurch will
ich euch begegnen.“ Oder: „Kommt zur Ruhe im Gebet. Werdet still
und lasst mich auf euch wirken, dann könnt ihr spüren, dass ich
da bin.“ Oder: „Kommt zum Abendmahl! Schmeckt und seht, wie freundlich
der Herr ist. So gewiss, wie ihr das Brot esst und den Wein trinkt,
so gewiss bin ich mit meiner Liebe für euch da.“ Erst wenn wir uns
so haben einladen lassen, erst wenn wir selber gekommen sind und
gesehen haben, können wir andere einladen.

Nun zur zweiten
Frage: Wer lädt wen ein?

Eigentlich ist
das nach dem Gesagten schon klar. Wenn es wichtig ist, dass wir
das weitergeben, was wir selber erfahren haben, dann reicht es nicht,
den Gemeindebrief zu verteilen oder für besondere Aktionen Plakate
aufzuhängen und Handzettel zu drucken. Und es würde auch nicht reichen,
wenn wir einen Marketing-Experten mit einer tollen (und teuren)
Werbekampagne beauftragen würden. Das alles hilft gar nichts, wenn
wir nicht persönlich für das einstehen, wovon wir überzeugt sind
– wir Pfarrerinnen und Pfarrer zuerst, aber alle anderen Christenmenschen
auch. Das Christentum wäre nie eine Weltreligion geworden, wenn
es nicht immer wieder Menschen gegeben hätte, die von Jesus und
seiner Sache begeistert waren und auch andere dafür begeistern konnten.
Diese Begeisterung kann man natürlich nicht hervorzaubern. Aber
ich vertraue darauf: Wenn Jesus Christus uns begegnet in der Bibel,
im Gebet, im Gottesdienst, dann springt der Funke des heiligen Geistes
auf uns über und begeistert uns im wörtlichen Sinne. Und auch ein
kleiner Funke kann helle Flammen entfachen.

Tja, und wen laden
wir ein? Die Menschen in unserem Predigttext wenden sich schlicht
an ihre nächste Umgebung: Johannes an seine engsten Anhänger, Andreas
an seinen Bruder Simon, die beiden später an Philippus, der aus
dem gleichen Dorf kommt wie sie, und Philippus schließlich an seinen
Freund Nathanael. Wir müssen also nicht gleich in ferne Länder ziehen,
um Menschen unseren Glauben weiterzugeben. Wir können in unseren
Familien anfangen: bei unseren Kindern und Enkeln, in unserem Freundeskreis
oder in unserer Nachbarschaft. Wenn auch nur einige von ihnen sich
einladen lassen, ist schon viel gewonnen.

Und schließlich
noch die dritte Frage: Was haben wir den Eingeladenen zu bieten?

An dieser Frage
könnte man verzweifeln. Denn verglichen mit den Dingen, die heutzutage
„in“ sind, haben wir anscheinend nicht viel zu bieten. Kirche ist
bei aller Liebe in der Regel weder so mitreißend wie ein Rock-Konzert
oder ein Bundesligaspiel, noch so entspannend wie ein Wellness-Wochenende,
noch so geheimnisvoll wie ein esoterischer Zirkel. Ausnahmen – wie
der Kirchentag alle zwei Jahre oder auch manche gelungene Aktion
in unserer Gemeinde – bestätigen die Regel. Natürlich sollten wir
uns fragen, ob das so sein muss. Ob bei uns nicht immer noch vieles
zu nüchtern und bürokratisch ist, zu trocken und kopflastig, zu
altbacken und langweilig, zu gut gemeint und schlecht gemacht. Und
es ist ja nicht so, als ob es nicht tausend Ideen gäbe, was man
anders und besser machen könnte. Trotzdem bleibt es dabei: in punkto
Unterhaltsamkeit und Erlebniswert werden wir in unserer schnelllebigen
Mediengesellschaft nie mithalten können. Das können Gottschalk,
Kerkeling und Co. einfach besser. Aber dafür werden wir auch nicht
gebraucht. Das, was wir zu bieten haben, ist etwas völlig anderes
und unendlich wertvolleres. Wir haben den zu bieten, den Johannes
„Gottes Lamm“ und Andreas „den Messias“ nennt. Wir haben den zu
bieten, der alles wegträgt, was uns von Gott trennt, den, der Gottes
neue Welt wirklich werden lässt. Bei ihm ist erfülltes Leben finden
statt einer Fülle von Erlebnissen. Ruhe statt Reizüberflutung. Fester
Halt statt ständig wechselnde Moden und Launen. Menschen, die füreinander
da sind, statt aneinander vorbei zu leben. Die Freude an diesem
Herrn ist unsere Kraft. Da liegen unsere Stärken. Da haben wir mehr
zu bieten als irgendjemand sonst – einschließlich der weltanschaulichen
Konkurrenz. Oder wo gibt es sonst noch einen Gott wie unseren Gott,
der sich nicht zu schade ist, sich selbst für seine Menschen aufzuopfern?
Wir haben also überhaupt keinen Grund, unser Licht unter den Scheffel
zu stellen. Und wir müssen mit unserer Einladung nicht hinterm Berg
halten: „Kommt und seht: Wir haben den gefunden, der uns das Leben
schenkt!“ Was für ein Angebot! Wenn diese Einladung ankommt, müsste
dann nicht eigentlich jede Kirche jeden Sonntag bis auf den letzten
Platz gefüllt sein? Man wird ja wohl noch fragen dürfen – und vielleicht
ein bisschen träumen.

Amen.

 

Predigt vom 17.7.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Talkirche, 17.7. 2011
Pfr.
Dr. Klein
Text: Gen 50,15-21

Die Beerdigung
des alten Herrn Jacobi war vorüber. Sie war das gewesen, was man
in Wien „a schöne Leich“ genannt hätte. Die große Backsteinkirche,
in der die Trauerfeier stattgefunden hatte, war bis auf den letzten
Platz gefüllt gewesen. Alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte,
ja sogar Polit-Prominenz aus Berlin war gekommen. Der Domchor hatte
gesungen, und der Bischof persönlich hatte die Predigt gehalten.
Und anschließend war eine lange Kolonne von schweren Limousinen
hinter dem Leichenwagen her zum Friedhof gefahren, wo der Patriarch
einer großen Familie in der Gruft seiner Ahnen zur letzten Ruhe
gebettet worden war, begleitet von Salutschüssen der örtlichen Schützenbrigade.

So ein Begräbnis
hatte die kleine Stadt in der ostdeutschen Provinz lange nicht erlebt.
Das lag weniger an der Person des Verstorbenen. Denn der hatte im
Ort zwar einiges Ansehen besessen, war aber nur ein einfacher Bauer
gewesen. Es lag auch nicht an seinen Söhnen aus erster Ehe, unauffälligen
Gestalten, schon mehr oder weniger grauhaarig, die mit ihren Frauen
und Kindern in schlichter schwarzer Kleidung dem Sarg folgten. Nein,
es lag an IHM, dem gut aussehen-den Mann im teuren Maßanzug, auffällig
– unauffällig eskortiert von breitschultrigen Gestalten mit Sonnenbrillen:
Prof. Dr. Dr. h. c. Johannes Jacobi, renommierter Wirtschaftswissenschaftler
und Staats-sekretär mit Sondervollmachten im Bundeskanzleramt. Sein
erfolgreiches Konzept zur Bewältigung der schwersten Wirtschaftskrise
der Nachkriegszeit hatte ihm sowohl die Bewunderung der Fachwelt
als auch das Vertrauen des deutschen Kleinsparers eingebracht und
ihn zur rechten Hand des Bundeskanzlers gemacht. Er hatte immer
als Sohn eines rheinischen Geschäftsmanns gegolten, der ihn adoptiert
und ihm sein Vermögen vermacht hatte. Erst vor wenigen Jahren war
bekannt geworden, dass er in Wirklichkeit aus einer ostdeutschen
Bauernfamilie stammte und in der DDR aufgewachsen war. Die Boulevardblätter
waren damals voll gewesen mit Bildern und Geschichten über das ergreifende
Wiedersehen mit seinem Vater und seinen Brüdern nach vielen Jahren
der Trennung. Und natürlich würden sie auch jetzt zu Tränen Rührendes
über die Beerdigung zu berichten haben.

Den Brüdern des
Herrn Prof. Jacobi ging dagegen ganz anderes durch den Kopf, als
sie mit finsteren Mienen vom Friedhof nach Hause gingen. Rudolf,
der Älteste, sprach schließlich aus, was sie alle dachten: „Jetzt
ist es so weit. Jetzt, wo unser Vater unter der Erde ist, wird er
uns alles heimzahlen!“

Die anderen nickten
nur. Sie wussten genau, was er meinte. Schließlich waren sie alle
dabei gewesen, damals, vor vielen Jahren. Und sie hatten alle mitgemacht.
Hatten ihn verprügelt, den Schönling, den Angeber, ihn getreten,
auf ihm herumgetrampelt in blinder Wut, hatten ihm die teuren Westklamotten
vom Leib gerissen, die der Vater für ihn, und nur für ihn, gekauft
hatte. Immer hatte er Johannes allen seinen Brüdern vorgezogen.
Denn er war das einzige Kind seiner zweiten Frau, die seine große
Liebe gewesen war. Sie war bei Johannes’ Geburt gestorben, und so
war ihr Kind das einzige, was ihm von ihr geblieben war. Also wurde
Johannes mit Geschenken überhäuft, und die Brüder gingen leer aus.
Johannes durfte die Oberschule besuchen, während die Brüder sich
auf den Feldern abrackern mussten. Johannes konnte sich alles erlauben,
und wenn er was ausgefressen hatte, bekamen die Brüder die Schläge
dafür. Kein Wunder, dass ihm das zu Kopf gestiegen war. Er hielt
sich für was Besseres, prahlte mit seinen Einser-Zeugnissen, schwelgte
in den tollsten Karriereträumen – und merkte nicht wie Wut und Neid
in seinen Brüdern langsam überkochten.

Eines Tages hatten
sie ihm dann aufgelauert, auf dem Heimweg von der Schule. Sie hatten
ihn ins Gebüsch unten am Fluss gezerrt. Und nachdem sie einmal angefangen
hatten, auf ihn einzuprügeln, hatten sie nicht mehr aufhören können.
Schließlich war Johannes bewusstlos geworden, und sie hatten geglaubt,
sie hätten ihn totgeschlagen. Voller Angst, dass alles rauskommen
würde, hatten sie ihn ins Wasser geworfen. Dem Vater hatten sie
nur erzählt, sie hätten seine Sachen am Fluss gefunden. Die Polizei
war zu dem Schluss gekommen, dass Johannes einem Verbrechen zum
Opfer gefallen sei – Täter unbekannt. Sein Leichnam wurde nie gefunden.

Den hatte es freilich
auch nie gegeben. Johannes war im kalten Wasser wieder zu Bewusstsein
gekommen und hatte sich trotz einiger gebrochener Rippen ans Ufer
retten können. Aus Angst vor seinen Brüdern hatte er sich nicht
mehr nach Hause getraut. Bei Nacht hatte er sich über die Landstraße
davon geschleppt. Ein LKW-Fahrer hatte ihn schließlich mitgenommen
und nach West-Berlin geschmuggelt. Dort hatte er eine Zeitlang in
übelsten Verhältnissen gelebt, bis ihn jener Geschäftsmann aus dem
Rheinland aufgegabelt hatte. Der erkannte, wie talentiert Johannes
war, gab ihm einen Ausbildungsplatz in seiner Firma, ließ ihn dann
das Abitur nachholen, finanzierte ihm sein Studium und adoptierte
ihn schließlich, weil er keine eigenen Kinder hatte. Und so machte
Johannes tatsächlich die Karriere, von der er immer geträumt hatte.

Die Brüder dagegen
wurden ihres Lebens nicht mehr froh. Äußerlich wahrten sie zwar
die Fassade, aber in ihnen nagten die Schuldgefühle. Und wenn sie
gehofft hatten, dass Johannes nun nicht mehr zwischen ihnen und
ihrem Vater stehen würde, so hatten sie sich getäuscht. Der alte
Jacobi blieb untröstlich in der Trauer um seinen Lieblingssohn,
und so bestimmte der als vermeintlich Toter ihr Verhältnis zu einander
noch stärker als zuvor.

So waren die Jahre
verstrichen. Die DDR war untergegangen, und die Brüder hatten den
väterlichen Hof wieder aus der LPG lösen können. Aber als dann die
schlimme Wirtschaftskrise gekommen war, hatten sie wie viele Bauern
vor dem Aus gestanden. Da hatte es sich begeben, dass der neue starke
Mann der Regierung, jener Prof. Dr. Jacobi, ihre Gegend bereiste.
Die Brüder hatten Unterschriften gesammelt, mit der sie um staatliche
Hilfsgelder baten. Und als sie die dem Herrn Staatssekretär überreichen
wollten, da hatte der sofort erkannt, wen er vor sich hatte. Unter
Tränen hatte er sich seinen Brüdern zu erkennen gegeben und Wiedersehen
mit seinem Vater gefeiert, der dieses Wunder kaum fassen konnte.
Und nicht aus Staatsgeldern, sondern aus seinem Privatvermögen hatte
er den väterlichen Hof saniert und Brüdern mit ihren Familien ihr
Auskommen gesichert. Über die Geschichte von damals hatte er kein
Wort verloren.

Aber jetzt war
der Vater tot. Und die alte Angst kroch den Brüdern wieder ins Genick.
Ihre Tat war zwar verjährt, aber wirtschaftlich und gesellschaftlich
konnte Prof. Jacobi sie immer noch ruinieren. „Wir müssen mit
ihm reden“, sagte Rudolf schließlich, „am besten sofort.“

Sie fragten im
Hotel nach ihm, aber dort hieß es, er habe eine Weile allein sein
wollen und sei spazieren gegangen. Doch wenn seine Brüder nach ihm
fragen würden: er sei unten am Fluss zu finden – sie wüssten dann
schon Bescheid!

Er hatte also
geahnt, dass sie kommen würden. Und der Ort, zu dem er sie bestellt
hatte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Mit klopfendem
Herzen und weichen Knien gingen sie zu der Stelle am Fluss, die
sie alle bestens kannten, auch wenn sie sich bis heute nie wieder
dorthin getraut hatten.

Johannes Jacobi
stand dort und schaute gedankenverloren aufs Wasser hinaus. Die
Brüder trauten sich zuerst nicht an ihn ran. Dann schickten sie
wie immer Rudolf vor – er hatte schon damals dem Vater die schlimme
Nachricht bringen müssen. Rudolf trat einen Schritt näher und räusperte
sich. „Johannes, wir müssen dir etwas sagen!“

Johannes drehte
sich um und schaute Rudolf an. „Das hab ich mir gedacht“,
sagte er, „also schießt schon los!“

„Nun“,
begann Rudolf und schlug verlegen die Augen nieder, „wir haben’s
ja hier im Osten nicht so mit der Kirche, aber unser Vater, der
war noch ein richtig frommer Mann. Wenn er gewusst hätte, was damals
wirklich passiert ist – hier an dieser Stelle – ich weiß nicht,
was er dann mit uns gemacht hätte. Aber jetzt, nach so langer Zeit
– da hätte er sicher gehofft, dass du uns vergibst.“

„Und ihr
glaubt, dass ich das nicht tue, nicht wahr?“ sagte Josef, und
seine Brüder merkten, dass er ganz rote Augen hatte. „Ihr glaubt,
dass ich jetzt wie Ben Hur oder der Graf von Monte Christo über
euch komme und Rache nehme!“

Die Brüder sagten
nichts, sondern nickten nur stumm.

Da erschien ein
trauriges Lächeln auf Josefs Gesicht. „Aber warum sollte ich
das tun?“ fragte er. „Glaubt ihr denn, ich hätte meine
Freude über unser Wiedersehen die ganze Zeit nur gespielt? Ja, es
stimmt, es war schlimm, was ihr mir angetan habt. Ich hab damals
wirklich gedacht, ich muss sterben, und ich habe danach üble Zeiten
durchgemacht. Aber ich habe auch erkannt, was für ein eingebildeter
Angeber ich war und wie sehr euch das gewurmt haben muss. Trotzdem
ist alles wahr geworden, wovon ich geträumt habe: Ich habe Karriere
gemacht, ich bin reich und ich habe Einfluss. Doch mir ist deutlich
geworden, dass ich das alles weder verdient habe noch für mich behalten
kann. Ich muss es mit anderen teilen, und das zuerst mit euch.

Ja, ihr habt Recht,
unser Vater war ein frommer Mann. Er hat immer geglaubt, dass unser
ganzes Leben in Gottes Hand liegt. „Denen, die Gott lieben,
müssen alle Dinge zum Besten dienen“, hat er immer gesagt.
Ich habe oft darüber nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen,
dass es tatsächlich so etwas wie Fügung gibt. Ihr hattet Böses im
Sinn, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen – für mich, für
unser Land und nicht zuletzt auch für euch. Gott hat euch – und
auch mir – längst vergeben, denn im Unterschied zu unserem Vater
liebt er uns alle gleich. Wer wäre ich denn, wenn ich nun nicht
tun würde, was Gott schon lange getan hat?“

Dann konnte er
nicht länger an sich halten und fiel Rudolf um den Hals. Und der
erwiderte seine Umarmung nach kurzem Zögern. So feierten sie endlich
Versöhnung – an der gleichen Stelle, wo sie sich vor so langer Zeit
entzweit hatten. Und wir dürfen uns vorstellen, dass Gott ihnen
dabei zufrieden zuschaute.

 

Die Brüder
Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen:
„Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten,
die wir an ihm getan haben.“ Darum ließen sie ihm sagen: „Dein
Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen:
Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie
so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns,
den Dienern des Gottes deines Vaters!“ Aber Josef weinte, als
sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen
vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte.“
Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich
denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber
Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist,
nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun
nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.“ Und er tröstete
sie und redete freundlich mit ihnen.

Amen

 

Predigt vom 3.7.2011

 

GOTTESDIENST ZUR 550-JAHRFEIER
SOHLBACH-BUCHEN

Ortsmitte Sohlbach, 3.7. 2011
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Lk 14,16-24

Es war ein
Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein.
Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen
zu sagen: „Kommt, denn es ist alles bereit!“ Und sie fingen an alle
nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: „Ich
habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich
bitte dich, entschuldige mich.“ Und der zweite sprach: „Ich habe
fünf Gespanne Ochsen gekauft und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen;
ich bitte dich, entschuldige mich.“ Und der dritte sprach: „Ich
habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen.“ Und der Knecht
kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig
und sprach zu seinem Knecht: „Geh schnell hinaus auf die Straßen
und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden
und Lahmen herein.“ Und der Knecht sprach: „Herr, es ist geschehen,
was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da.“ Und der Herr sprach
zu dem Knecht: „Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune
und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde. Denn ich
sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl
schmecken wird.“

Wir feiern heute
ein Fest: 550 Jahre Sohlbach und Buchen. Immerhin knapp anderthalb
dieser 550 Jahre haben wir gebraucht, um dieses Fest vorzubereiten.
Wir haben lange hin und her überlegt, ob und wie und wann wir am
besten feiern. Und als das endlich feststand, haben wir geplant
und organisiert, Mitwirkende gesucht, Briefe geschrieben und Genehmigungen
eingeholt, ein Programm auf die Beine gestellt, für die nötige Infrastruktur
gesorgt, geprobt, eingekauft, Kuchen gebacken, aufgebaut und manches
mehr. Und wir haben eingeladen: Plakate aufgehängt, Handzettel verteilt,
die Presse informiert. Ganz schön viel Arbeit. Aber wie es aussieht,
hat die Mühe sich gelohnt: Viele Menschen sind gekommen – trotz
zahlreicher Konkurrenzveranstaltungen, trotz unsicheren Wetters.
Und im Lauf des Tages kommen hoffentlich noch mehr.

Doch stellen Sie
sich vor, die Pessimisten hätten Recht behalten und es wäre anders.
Stellen Sie sich vor, es ginge uns so, wie dem Hausherrn in dem
Gleichnis Jesu, das die Kindergartenkinder uns vorgespielt haben:
Alles ist bereit – und keiner kommt! Selbst die, die fest zugesagt
hatten, haben plötzlich was Besseres vor. Der Gottesdienst findet
vor leeren Bänken statt. Die Grillwürstchen verbrutzeln und die
Kuchen vertrocknen, weil sie keine Abnehmer finden. Die Verkaufsstände
werden ihre Waren nicht los, und die ausgestellten alten Schätzchen
will keiner sehen. Katastrophe!

Aber dann stellen
Sie sich bitte auch noch vor, kurz bevor das Fest abgeblasen wird,
kämen plötzlich doch noch Gäste. Gäste, mit denen keiner gerechnet
hat. Die Sohlbach-Buchener Neubürger, die hier schon wohnen, aber
noch nicht leben, und die man sonst nie sieht. Die Unbeliebten,
die es sich wegen irgendwas mit der Dorfgemeinschaft verdorben haben.
Die verlorenen Söhne und Töchter, die irgendwann im Zorn aus dem
Sohlbachtal weggegangen sind und nie mehr wiederkommen wollten.
Die Türken aus Geisweid oder Buschhütten. Wie würden wir sie empfangen?
Begeistert und mit offenen Armen? Mit verhaltener Freude – „Na ja,
nicht das, was wir erwartet hatten, aber Hauptsache das Fest ist
gerettet“? Oder mit Ablehnung – „Was wollen die denn hier? Das die
sich hierher trauen!“?

Klar, das ist
alles etwas konstruiert. Aber es macht vielleicht etwas deutlich.
Es zeigt vielleicht, wie ungewöhnlich, ja unerhört das ist, was
der Hausherr im Gleichnis tut. Oder würden Sie wildfremde Menschen
zu sich einladen? Menschen, die Ihnen womöglich die gute Polstergarnitur
ruinieren oder hinterher das Tafelsilber mitgehen lassen? Nein,
kein Gastgeber, der noch alle Tassen im Schrank hat (und sie dort
auch behalten will), würde solche Leute zu sich einladen. Der Hausherr,
von dem Jesus erzählt, muss also komplett verrückt sein.

Stimmt, das ist
er, und genau deshalb erzählt Jesus von ihm. Denn er liebt solche
verrückten Typen. Den Kaufmann, der seinen ganzen Besitz für eine
einzige Perle hergibt. Den Hirten, der 99 Schafe ohne Aufsicht lässt,
um ein einziges wieder zu finden. Den Vater, der seinem Sohn ohne
jeden Tadel um den Hals fällt, obwohl der gerade sein halbes Vermögen
verprasst hat. Mit solchen Typen, solchen Geschichten will Jesus
unsere Maßstäbe verrücken und damit zurechtrücken. Denn Gott, will
er uns mit der Geschichte vom Gastmahl sagen, ist genauso verrückt
wie der Gastgeber. Er lädt schlicht und einfach alle ein: die Frommen
und die Gottlosen, die anständigen Bürger und die zwielichtigen
Gestalten, die Erfolgreichen und die Gescheiterten, die Stadtneurotiker
und die Landeier, die Alteingesessenen und die Zugereisten. Und
Jesus hat nicht nur so von Gott geredet, sondern er hat es uns allen
vorgelebt. Kein Naserümpfen und keine Feindseligkeit konnte ihn
davon abhalten.

Was heißt das
nun für uns? Erstens heißt es: auch wir alle sind eingeladen – nicht
nur zum Ortsjubiläum, sondern zu Gottes großem Fest. Er will uns
dabei haben, wenn er seine Herrschaft aufrichtet, wenn endlich Frieden
und Gerechtigkeit auf Erden einkehren. Er will mit uns zusammen
sein, denn dazu hat er uns geschaffen. Und bis es soweit ist, will
er das Fest mit uns gemeinsam vorbereiten. Dazu ruft er uns in die
Gemeinschaft mit ihm, in seine Kirche – und es ist völlig egal,
zu welcher Unterabteilung wir dabei gehören – evangelisch oder katholisch,
landes- oder freikirchlich, Klafeld oder Buschhütten. Überall hat
er seine Leute. Wir können uns daran freuen und vor allem können
wir dazu gehören und mitmachen. So wie heute bei diesem Fest, so
wünschen wir es uns auch für unsere Gemeinden: dass viele, am besten
alle, mit anpacken, jeder nach seinen Fähigkeiten und Interessen.
Zu tun gibt es immer genug!

Und das zweite:
Wenn alle zu Gott eingeladen sind, dann nicht nur ich oder wir,
sondern die anderen auch. Klingt selbstverständlich und gerät doch
leicht in Vergessenheit. Denn viel zu oft geben wir uns mit denen
zufrieden, die schon dazu gehören und die uns vertraut sind, und
lassen die anderen links liegen. Das gilt sowohl für Dorfgemeinschaften
als auch für christliche Gemeinden. Also sollten wir uns erinnern
lassen: Denke bei jedem Menschen, dem du begegnest daran, dass auch
er oder sie zu Gottes großem Fest eingeladen ist. Das kann heißen,
dass ich sie oder ihn auf diese Einladung erst einmal aufmerksam
machen muss: „Stell dir vor, Gott lädt dich ein!“ Es heißt aber
vor allem, dass ich alle Menschen, die mir begegnen, als geladene
Gäste ernst und wichtig nehme. Auch die, die mir fremd sind. Auch
die, über die man so wunderbar herziehen und lästern kann. Auch
die, um die ich sonst einen Bogen mache. Denn stellen Sie sich vor,
Sie sitzen eines Tages an Gottes Festtafel, und neben Ihnen sitzt
der Nachbar, mit dem Sie wegen irgendeiner Streitigkeit jahrzehntelang
kein Wort geredet haben. Oder jemand, von dem Sie gedacht haben,
dass der wegen seines falschen Glaubens oder falschen Verhaltens
bestimmt nicht in den Himmel kommt, und den Sie entsprechend behandelt
haben. Das wäre doch peinlich, oder?

Aber soweit muss
es ja nicht kommen. Noch sind wir alle unterwegs zum Fest und können
uns auf dem Weg zusammen tun, damit wir gemeinsam und sicher dorthin
gelangen. Und so rufe ich im Namen Gottes uns allen noch einmal
die Einladung zu: „Kommt, denn es ist alles bereit! Schmeckt und
seht, wie freundlich der HERR ist!“

Amen.

 

Predigt vom 26.6.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ERSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
26.6. 2011
Text: Joh 5,39-47

Das Christentum
ist eine Buchreligion. Mit dem, was wir glauben, berufen wir uns
auf die heilige Schrift, die wir „die Bibel“ – zu Deutsch schlicht:
„das Buch“ nennen. Mit diesem Bibelbuch umgehen zu lernen, ist allerdings
gar nicht so einfach: für alle Lesemuffel sowieso, aber auch für
die wachsende Zahl von Menschen, die nur noch elektronische Medien
gewohnt sind. Und selbst für gewiefte Leseratten hat die Bibel als
gedrucktes Buch so ihre Tücken. Ich merke das immer, wenn ich mit
Konfirmanden Bibelaufschlagen übe. Besonders ein Problem scheint
dabei schier unüberwindlich zu sein: Ich sage zum Beispiel: „Schlagt
mal das Matthäus-Evangelium auf, Kapitel 5, Vers 3!“ Irgendjemand,
der es schnell gefunden hat, ruft dann noch „Seite 7“ in die Runde.
Weil alle die gleiche Bibelausgabe haben, sollte es nun eigentlich
kein Problem mehr sein, die richtige Stelle zu finden. Trotzdem
kann ich sicher sein, dass etliche die Bibel keineswegs bei Matthäus
aufschlagen, sondern im ersten Buch Mose herumblättern. Gemeinerweise
gibt es dort nämlich schon einmal eine Seite 7. In fast allen Bibelausgaben
beginnt die Seitenzählung mit dem Matthäusevangelium noch einmal
von vorn. Das ist deshalb so, weil die Bibel eben nicht ein Buch
ist, sondern zwei: Altes Testament und Neues Testament. Und zwei
Bücher unter einem Buchdeckel, das sind halt auch lesefreudige Konfis
nicht gewohnt – und nicht nur sie.

Das gibt natürlich
Anlass zu der Frage, warum das eigentlich so ist. Warum besteht
die Bibel aus zwei Büchern mit doppelter Seitenzählung, und warum
druckt man sie dann trotzdem für gewöhnlich in einem Band und nicht
in zwei? Anders gesprochen: Warum gelten uns Altes und Neues Testament
zusammen und gleichermaßen als Heilige Schrift?

Für das Neue Testament
ist die Frage leicht zu beantworten: Als Christen glauben wir an
Jesus Christus, den Sohn Gottes, und das Neue Testament enthält
die ältesten und ursprünglichsten Zeugnisse über ihn und den Glauben
an ihn. Ohne dieses Buch wüssten wir nicht aus erster Hand, wer
Jesus ist und was er für uns bedeutet. Nirgendwo sonst kommen wir
ihm so nahe.

Aber warum dann
noch das Alte Testament? Wenn wir aus dem Neuen Testament alles
Notwendige über Jesus erfahren, wozu brauchen wir dann noch ein
Buch in unserer Bibel, in dem Jesus gar nicht vorkommt? Noch dazu
eines, an dem wir vieles befremdlich finden: Es ist ursprünglich
Hebräisch geschrieben und damit in einer Sprache – und einer Denke
–, die nicht unserem Kulturkreis angehört. Es enthält Gebote und
Lebensregeln, Speisegebote zum Beispiel, deren Einhaltung uns unsinnig
vorkäme. Es handelt von Gott, aber es schreibt ihm Eigenschaften
und Handlungsweisen zu, die uns nicht zu ihm zu passen scheinen:
Wut und Eifersucht, Vernichtung von Menschenleben, Bestrafung aller
für die Vergehen einzelner und Bevorzugung eines bestimmten Volkes,
des Volkes Israel, gegenüber allen anderen. Und schließlich ist
unser Altes Testament auch noch die Heilige Schrift einer anderen
Religion, nämlich des Judentums. Kein Wunder, dass es immer wieder
Christen gegeben hat, die gemeint haben: über das Alte Testament
sind wir als Christen längst hinaus. Wir glauben an einen Gott der
Liebe, nicht der Rache, haben sie gesagt. Wir handeln nicht nach
der Maxime „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sondern nach dem Gebot
der Feindesliebe. Und wir glauben, dass Gott nicht nur für ein Volk,
sondern für alle Menschen da ist. Deshalb stehen wir auf einer höheren
Stufe der religiösen Entwicklung. Wir sollten also das Alte Testament
aus unserer Bibel streichen und es getrost den Juden überlassen.

Trotzdem haben
sich die christlichen Kirchen immer wieder dafür entschieden, dass
das Alte Testament zu unserer Bibel gehört, zuletzt die Bekenntnissynode
von Barmen 1934 gegen die so genannten „Deutschen Christen“, die
als überzeugte Nazis alles „Jüdische“ aus der Bibel streichen wollten.
Warum war ihnen allen das Alte Testament so wichtig? Das steht zum
Beispiel im heutigen Predigttext aus dem Johannesevangelium, Kapitel
5. Es ist ein Teil aus einer längeren Rede, die Jesus an die Juden
seiner Zeit richtet. Dort heißt es:

 

Ihr sucht in
der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und
sie ist’s, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen,
dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber
ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin
gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn
ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr
annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander-der annehmt,
und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde;
es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr
Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.
Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen
Worten glauben?

 

Diese Rede hat
Jesus so nie gehalten. Der Evangelist hat sie ihm in den Mund gelegt.
Er wollte damit auszudrücken, wer Jesus für ihn und seine Gemeinde
ist und was das bedeutet für die Auseinandersetzung mit den Juden,
die nicht an Jesus glauben. Dabei geht es ganz entscheidend um die
Frage, wie die Heilige Schrift zu verstehen ist. Zur damaligen Zeit,
als es das Neue Testament noch nicht gab, war die Heilige Schrift
für Juden und Christen die gleiche. Sie bestand aus den fünf Büchern
Mose, den Propheten und den übrigen Schriften, die wir jetzt „Altes
Testament“ nennen. Allerdings wurde diese Heilige Schrift schon
damals von Juden und Christen unterschiedlich gedeutet.

Für die Juden
war und ist das Herzstück der Bibel die Tora, die gute Lebensordnung,
die Gott durch Mose seinem Volk Israel gegeben hat. Die Propheten
und die übrigen Schriften legen nach jüdischem Verständnis diese
Tora aus und wenden sie an. Und wer zu Gottes Volk gehört und sich
an die Tora hält, der gewinnt das Leben.

Die Juden dagegen,
die zum Glauben an Jesus Christus kamen, verstanden ihre Bibel plötzlich
ganz anders. Sie lasen sie von vorn bis hinten als Zeugnis für Jesus
Christus. Die Verheißungen der Propheten galten ihnen als durch
Jesus erfüllt. Die Erzählungen von Gottes Handeln an Israel verstanden
sie als Urbilder seines Handelns in Jesus Christus. Und die Befolgung
der Gebote war für sie im Glauben an Jesus Christus begründet. Deshalb
kann Johannes, der Evangelist, Jesus sagen lassen: Wenn ihr Mose
glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.

Wenn das stimmt,
dann muss das Alte Testament natürlich zur christlichen Bibel gehören.
Denn wenn es von Jesus handelt, dann lässt sich ohne das Alte Testament
auch nicht voll erfassen, wer Jesus ist und was er für uns bedeutet.

Aber stimmt das
denn? Im Alten Testament steht doch nichts über Jesus. Ja, es kann
auch gar nichts über ihn drinstehen. Schließlich ist es lange vor
Jesu Geburt entstanden. Sicher, an einigen Stellen im Alten Testament
wird das Kommen eines Retters und Heilbringers verheißen. Da kann
ich natürlich sagen: damit ist Jesus gemeint. Aber beweisen kann
ich das nicht. Und ein Jude, der seine Bibel ernst nimmt, wird mir
zu Recht vorhalten, dass vieles von diesen Verheißungen doch noch
gar nicht in Erfüllung gegangen ist. Das angekündigte Friedensreich
ist noch nicht verwirklicht, und die verheißene Gerechtigkeit für
alle Menschen auch nicht. Wäre ich da als Christ nicht ziemlich
dreist und überheblich, wenn ich behaupten würde: „Ich verstehe
das Alte Testament richtig, weil ich es als Zeugnis für Jesus lese,
ihr Juden dagegen versteht es falsch?“

Genau das tut
aber das Johannes-Evangelium. Ja, es geht sogar noch weiter: „Ihr
habt Gottes Liebe nicht in euch“, heißt es da über die Juden, „ihr
erkennt Gottes Ehre nicht an, sondern nur eure eigene“ und „Mose
klagt euch an, weil ihr nicht glaubt“.

Dass der Evangelist
und seine Gemeinde so geredet haben, kann ich verstehen. Sie waren
schließlich geborene Juden. Sie mussten ihren Glauben an ihre Heilige
Schrift und den Glauben an Jesus Christus miteinander in Einklang
bringen. Deshalb mussten sie das Alte Testament auf Christus deuten.
Und dafür wurden sie von den anderen Juden verfolgt und verstoßen.
Denn die konnten diese Deutung nicht akzeptieren. Letztlich war
das Ganze damals noch kein Streit zwischen zwei verschiedenen Religionen,
sondern eine Auseinandersetzung innerhalb des Judentums, zwischen
christlichen und nichtchristlichen Juden.

Für mich heute
sieht die Sache anders aus. So wie Jesus bei Johannes kann ich nicht
mehr reden. Denn ich bin kein Judenchrist, der von seinen Landsleuten
für seinen Glauben verfolgt wird. Ich gehöre einer heidenchristlichen
Kirche an, die ihrerseits Jahrhunderte lang die Juden verfolgt und
verstoßen hat und die solche und ähnliche Sätze aus dem Neuen Testament
dazu missbraucht hat, um die Judenverfolgung zu rechtfertigen. Damit
stehe ich mit in der Geschichte der Schuld, die Generationen von
Christen den Juden gegenüber auf sich geladen haben. Erst der grauenvolle
Tiefpunkt dieser Geschichte im 20. Jahrhundert hat uns im Nachhinein
sensibel gemacht für die Gefährlichkeit solcher Aussagen.

Sollten wir dann
nicht doch darauf verzichten, das Alte Testament von Jesus Christus
her zu lesen? Jetzt nicht mehr aus Überheblichkeit gegenüber einer
angeblich überholten Religion, sondern aus Respekt vor den Juden
und ihrem Glauben? Ich denke, das können wir nicht, trotz allem.
Denn solange wir glauben, dass der Gott Israels und der Vater Jesu
Christi ein und derselbe sind, muss das Alte Testament Teil der
christlichen Bibel bleiben und deshalb auch aus christlicher Sicht
gelesen werden. Gerade wenn wir das tun, werden unsere Vorurteile
gegenüber dem Alten Testament verschwinden. Denn nicht erst Jesus
hat von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes gesprochen. Davon reden
auch schon die Tora, die Propheten oder die Psalmen. Und andererseits
redet auch das Neue Testament von Gottes Zorn und seiner Gerechtigkeit.
Nicht erst in Jesus ist Gott den Menschen nahe gekommen, sondern
er hat schon Abraham begleitet, Israel durch die Wüste geführt und
in Salomos Tempel seine Wohnung aufgeschlagen. Das Gebot der Nächstenliebe
hat nicht Jesus formuliert, sondern es steht in 3. Mose 19,18. Unverdiente
Gnade ist nicht erst Gottes Handeln in Jesus Christus, sondern schon
die Erwählung Israels. Und vom Heil für alle Völker spricht nicht
erst Paulus, sondern auch schon der zweite Jesaja. Diese Liste könnte
ich noch lange fortsetzen. Auf Schritt und Tritt begegnet uns im
Alten Testament der Vater Jesu Christi. Und deshalb legt es Zeugnis
ab für Jesus Christus: So wie Jesus uns Gott offenbart hat, so ist
er wirklich und so war er schon immer.

Ein jüdischer
Gesprächspartner würde jetzt natürlich sagen: Um das alles zu wissen,
brauche ich Jesus nicht. Das kann ich auch ohne ihn in meiner Bibel
lesen. Oder wie es ein bekannter jüdischer Philosoph formuliert
hat: „Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber
sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt
niemand zum Vater – anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater
zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der
Fall des Volkes Israel.“

An diesem Punkt
muss ich allerdings vom Neuen Testament her widersprechen. Für alle,
die dort reden und schreiben, ist klar, dass auch die Juden nur
durch Christus zum Vater kommen. Sie waren ja selber Juden und haben
es so erlebt. Und das wird auch dadurch nicht falsch, dass es heute
kaum noch Judenchristen gibt (einige aber sehr wohl!). So wünschenswert
es ist, dass Juden und Christen miteinander-der im Gespräch bleiben
und dass vor allem wir Christen die Juden besser verstehen lernen:
an diesem Punkt werden wir uns niemals einigen können, ohne zum
Glauben des jeweils anderen überzutreten. Wir müssen es aber auch
nicht. Denn wir warten ja von der Bibel her beide darauf, dass Gott
eines Tages die ganze Wahrheit allen sichtbar offenbaren wird. Dann
wird sich erweisen, ob es stimmt, dass Jesus Christus der Weg, die
Wahrheit und das Leben ist, und ich vertraue darauf, dass es auch
dann noch möglich ist, dass Juden und Nichtjuden dieser Wahrheit
Glauben schenken.

Amen.

 

Predigt vom 19.6.2011

 

 

 

GOTTESDIENST ZUR GOLDENEN
KONFIRMATION

Talkirche, 19.6. 2011
Pfr. Dr. Martin Klein
Text: Lk 17,5-6

Nun sind also fünfzig Jahre vergangen, seit Sie
hier in der Talkirche oder im Wenscht konfirmiert wurden. Im
Rückblick kommt es einem ja immer viel kürzer vor, aber trotzdem
sind fünfzig Jahre eine lange Zeit. Die Welt sah noch sehr anders
aus, als Sie damals von Pastor Biederbeck, Fricke, Flick oder
Schmidt mit Gottes Segen ins mündige Christenleben geschickt wurden.
Sie gehörten zu den ersten Jahrgängen, die nach dem Krieg geboren
wurden und aufwuchsen und von friedlichen Verhältnissen und
wachsendem Wohlstand profitieren konnten. Und sie durften damit
rechnen, dass es nach der Schule für Sie einen Ausbildungsplatz oder
zumindest Arbeit geben würde, von der man später mal eine Familie
ernähren konnte. Aber 1961, das war auch die Hochzeit des „Kalten
Krieges“: Im Frühjahr schossen die Russen den ersten Menschen in die
Erdumlaufbahn, was die Amis mächtig wurmte. Im August wurde in
Berlin die Mauer gebaut. Und im Jahr darauf hätte die Kuba-Krise
fast den dritten Weltkrieg ausgelöst. Wahrscheinlich haben diese
Dinge Sie damals noch nicht so sehr beschäftigt. Aber eine diffuse
Angst vor „den Russen“ oder „der Bombe“, die war wohl auch bei
Kindern und Jugendlichen verbreitet.
In diesen Zeiten also haben Ihre Pastoren damals zu vermitteln
versucht, was für Christen Glauben heißt und was dieser Glaube für
Sie persönlich bedeuten könnte. Sie haben dafür gern die Worte des
Heidelberger Katechismus benutzt: „Wahrer Glaube ist nicht allein
die sichere Erkenntnis, in der ich alles für wahr halte, was uns
Gott in seinem Wort offenbart hat, sondern auch ein herzliches
Vertrauen, welches der Heilige Geist durchs Evangelium in mir wirkt,
dass nicht allein andern, sondern auch mir Vergebung der Sünden,
ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt ist aus lauter
Gnade, allein um des Verdienstes Christi willen.“ Wie ich aus den
Unterlagen weiß, die Pastor Fricke mir freundlicherweise zur
Verfügung gestellt hat, haben jedenfalls seine Konfirmanden diese
Worte damals im Konfirmationsgottesdienst gemeinsam gesprochen, und
auswendig lernen mussten Sie die „Frage 21“ sicher alle. Aber ob Sie
auch verstanden haben, worum es geht in diesem komplizierten Satz
mit seinen vielen gewichtigen Wörtern? Ob Sie mit dem Glauben, wie
er dort beschrieben wird, etwas anfangen konnten? Ob er Ihnen ein
Halt war beim Erwachseneren und in all der Zeit, die seitdem
vergangen ist? Das können Sie nur selber wissen und beurteilen. Aber
ich denke, schon damals war es für Vierzehnjährige schwer, eine so
dicht gedrängte Definition des Glaubens zu erfassen. Und heute
versuchen wir erst gar nicht mehr, unsere Konfis einen solchen Satz
auswendig lernen zu lassen. Denn was hülfe es einem Menschen, wenn
er den ganzen Katechismus und das halbe Gesangbuch auswendig wüsste
und könnte kein Wort davon wirklich mit Leben füllen? Er würde ja
doch alles wieder vergessen und wäre dem Glauben keinen Schritt
näher gekommen.
Wenn ich also heute noch einmal nach dem Glauben frage und gemeinsam
mit Ihnen darüber nachdenken will, welchen Platz er in Ihrem Leben
einnimmt, dann knüpfe ich lieber an die schlichten und doch nicht
weniger gehaltvollen Worte Jesu an, über die Pastor Fricke damals
gepredigt hat. Sie stehen in Lukas 17, Verse 5 und 6:

Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: „Stärke uns den Glauben!“
Der Herr aber sprach: „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein
Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich
aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.“

Ich denke, wir stehen nicht in der Gefahr, Jesus allzu wörtlich zu
nehmen. Wozu sollte man auch einen Maulbeerbaum ins Meer versetzen –
oder einen Berg, wie es bei Matthäus heißt? Im übertragenen Sinne
allerdings trauen auch wir einem starken Glauben viel zu. „Glaube
versetzt Berge“ – in dieser Form haben wir das Jesus-Wort zum
Sprichwort gemacht. Und Menschen, die mit ihrem Glauben viel bewegen
oder um ihres Glaubens willen vieles auf sich nehmen, die haben
unsere Bewunderung sicher. Martin Luther, Albert Schweitzer,
Dietrich Bonhoeffer, Mutter Teresa – sie alle sind dafür bekannt,
dass sie ihre christliche Überzeugung mit aller Konsequenz in die
Tat umgesetzt zu haben, dass sie bereit waren, für ihren Glauben
auch Nachteile in Kauf zu nehmen, bis hin zum Verlust des eigenen
Lebens.
Aber wenn wir sie bewundern und verehren, dann ist das wohl auch
immer mit dem Eingeständnis verbunden: Solch einen Glauben habe ich
nicht! Ich könnte das nicht, allein vor Kaiser und Fürsten hintreten
und sagen: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Ich brächte es
nicht über mich, Heimat und Besitz aufzugeben, um irgendwo in Afrika
ein Krankenhaus aufzumachen oder mich in Kalkutta um die Ärmsten der
Armen zu kümmern. Ich würde den Mut nicht aufbringen, im Namen Jesu
Widerstand zu leisten gegen Diktatur und Gewaltherrschaft. Wohl aber
würde ich das alles gern können, wenn’s drauf ankommt. Und deshalb
ist es wohl unser aller Wunsch, den die Apostel dem Herrn vortragen:
„Stärke unseren Glauben!“ Verleih uns solchen Glauben, der wirklich
etwas bewegt in dieser Welt und der jedem Druck standhält!
Ich wiederhole noch mal Jesu Erwiderung auf die Bitte der Apostel:
„Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr
zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins
Meer!, und er würde euch gehorchen.“ Ist das überhaupt eine Antwort?
Und wenn ja, was will Jesus damit eigentlich sagen? Das winzige
Senfkorn war damals sprichwörtlich für die kleinstmögliche Menge –
soviel ist klar. Also besagen Jesu Worte, positiv formuliert: Schon
das kleinste bisschen Glauben reicht aus, um damit schlicht-weg
alles zu bewegen. Aber Jesus formuliert es ja anders: „Wenn ihr
Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn …“ So steht es in der
Lutherbibel, und so wird es auch meistens verstanden. Das wäre dann
aber eine komplette Abfuhr: „Ihr wollt, dass ich euren Glauben
stärke? Völlig falsche Frage! Denn wenn ihr auch nur die winzigste
Kleinigkeit an Glauben hättet, dann hätte er gar keine Stärkung
nötig. Da ihr aber keinen habt, gibt’s da auch nichts zu stärken!“
Also: Glaube versetzt entweder Berge oder er ist gar nicht da. Das
wären dann allerdings finstere Aussichten für uns
Otto-Normalchristen in Geisweid und anderswo.
Zum Glück muss man den Satz aber wohl anders lesen. Denn wörtlich
steht da: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, dann hättet ihr
zu diesem Maulbeerbaum sagen können: Entwurzele dich und pflanz dich
ins Meer, und er hätte euch gehorcht.“ So klingt das schon anders.
Denn so ist das mit dem Baum zwar ein irreales Bei-spiel – macht ja,
wie gesagt, auch keinen Sinn –, aber der Senfkorn-Glaube ist eine
reale Möglichkeit. So einen Glauben kann jeder haben, und mehr
Glauben braucht keiner, denn diesem Glauben sind alle Dinge möglich.
Die Frage ist nur: Wie komme ich zu solchem Glauben? Reicht es
dafür, wenn ich christlich erzogen, getauft und konfirmiert bin und
das ganz okay finde? Kann ich mir einfach vornehmen: „So, ab jetzt
glaube ich“? Muss ich eine persönliche Entscheidung für Jesus
Christus treffen, um zum Glauben zu kommen? Ist der Glaube ein
Gefühl, das mal da und mal weg ist, das man aber auch durch
bestimmte Reize hervorrufen kann? Muss ich alle Zweifel verbannen?
Muss ich ein religiöser Typ sein, um glauben zu können? Braucht man
dazu ein bestimmtes Gen, das der eine hat und die andere nicht?
Nein, ich glaube, das alles kratzt höchstens ein bisschen an der
Außenseite. Es trifft nicht das, was christlicher Glaube wirklich
ist. Glaube ist – und jetzt bemühe ich doch noch mal den
Heidelberger Katechismus – ein herzliches Vertrauensverhältnis
zwischen mir und Gott. Glaube, das ist meine Antwort darauf, dass
Gott mich bei der Hand nimmt, mich beim Namen ruft und mir zusagt:
Du gehörst zu mir, weil ich dich lieb habe. Glaube ist, wenn mir
aufgeht, dass Gott da ist und mir seine Liebe schenkt, und mein Ja
dazu ist dann eine Selbstverständlichkeit. So wie bei einem Kind,
für das es überhaupt nicht in Frage käme, das Päckchen, das man ihm
in die Hand drückt, nicht auszupacken. Ich sage Ja zu Gott, weil er
Ja zu mir sagt. Das ist das Senfkorn. Alles andere kann und wird
daraus wachsen.
Mehr als dieses Senfkorn hat übrigens keiner, auch kein Pastor,
sei’s von heute, sei’s von damals, auch all die großen Gestalten
nicht, die ich vorhin erwähnt habe. Im Gegenteil: Je intensiver sie
ihren Glauben lebten, desto mehr wurde ihnen seine Winzigkeit
bewusst, desto stärker waren sie von Zweifeln und Anfechtungen
geplagt, desto mehr zerrann ihnen alle Gewissheit zwischen den
Fingern. Für Martin Luther blieb als letzter Nothaken oft nur noch
die Tatsache, dass er getauft war und damit zu Gott gehörte. „Dein
bin ich, o Gott!“ – mit diesen Worten schrieb auch Dietrich
Bonhoeffer gegen die Angst und die innere Leere im Tegeler Gefängnis
an. Und aus Mutter Teresas Tagebüchern weiß man inzwischen, dass sie
über die längste Zeit ihres Wirkens keinen Glauben und keine Liebe
in sich spürte. „Wofür arbeite ich?“ schrieb sie. „Wenn es keinen
Gott gibt – kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele
gibt, dann, Jesus – bist auch Du nicht wahr.“ Sie kam sich wie eine
Lügnerin vor, die der Welt etwas vorspielt. Aber Gott blieb doch für
sie Wirklichkeit, auch wenn sie ihn als abwesend erlebte. Christus
blieb ihr Auftraggeber, obwohl sie sich von ihm verlassen fühlte.
Das war ihr Senfkorn, ihr Strohhalm, an dem sie sich festhielt und
der sie nicht aufgeben ließ. Und wer wollte bezweifeln, dass dieses
Senfkorn unheimlich viel bewegt hat?
Ob sie es damit verdient hat, heilig gesprochen zu werden, das ist
ein Problem der katholischen Kirche. Aus evangelischer Sicht kann
man nur sagen: Sie ist heilig, weil sie zu Gott gehört – so wie
alle, denen das Senfkorn des Glaubens zu teil wird. Die Zweifel, das
Gefühl, von Gott verlassen zu sein, die können daran nichts ändern –
so wenig wie bei Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer, so wenig
wie bei uns kleinen Glaubenslichtern hier und heute. Schließlich
starb auch Jesus mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen?“ – und ließ mit seinem Tod den Berg unserer
Schuld und Gottverlassenheit im Meer versinken! Sollte er da mit
unserem kleinen Glauben nicht große Dinge tun können?
Wenn ich Ihnen also heute etwas wünschen soll zu Ihrer Goldenen
Konfirmation, dann ist es dieses kleine Senfkorn Glaube. Vielleicht
tragen Sie es längst in sich, schon seit damals vor fünfzig Jahren
oder noch länger. Vielleicht haben Sie irgendwann später Ihr kleines
Ja zu Gottes großem Ja gesprochen. Dann freuen Sie sich weiter daran
und halten Sie Ihr Glaubenssenfkorn fest als das kostbarste
Geschenk, das Sie je bekommen haben. Haben Sie keine Angst, dass Ihr
Glaube zu schwach sein könnte für das, was das Alter an Lasten für
Leib und Seele mit sich bringen mag. Gott, der Ihnen dieses Geschenk
gemacht hat, der wird es Ihnen auch erhalten bis an Ihr Lebensende –
auch wenn Sie vielleicht zuzeiten das Gefühl beschleicht, dass sie
es verloren haben.
Vielleicht gehören Sie aber auch zu denen, die zwar manches vom
Glauben gehört und mitbekommen haben, aber doch immer auf Distanz
geblieben sind. Dann bitte ich Sie, doch einmal zu prüfen, ob sich
diese Distanz nicht an den falschen Dingen festmacht. Vielleicht
sind es schlechte Erfahrungen mit Eltern, Pastoren und anderen
Gläubigen, die Sie vom Glauben abhalten. Vielleicht sind es die
hohen Glaubenshürden, die irgendjemand vor Ihnen aufgebaut hat: „Als
Christ musst du aber dieses und jenes glauben, du musst und so und
so handeln und darfst dies und das nicht tun“. Oder es ist der
gerade im Siegerland verbreitete Irrtum, dass es letztlich an mir
hängt, ob ich glaube oder nicht – an meiner Entscheidung, an meiner
inneren Gewissheit, an meinem glaubensgemäßen Handeln. Dann lassen
Sie es sich noch mal gesagt sein: Es kommt beim Glauben auf nichts
anderes an als auf das „herzliche Vertrauen“ zwischen Gott und mir.
Da gehört nichts dazwischen, keine schlechte Erfahrung, keine
Vorschrift und keine Eigenleistung meinerseits. Und es ist niemand
anderes als Gott, der dieses Vertrauensverhältnis stiftet. Von
seiner Seite aus ist das Vertrauen längst hergestellt: begründet in
Tod und Auferstehung Jesu Christi, Ihnen persönlich zugesagt mit der
Taufe und noch mal bestätigt mit der Konfirmation. Und Sie können
jederzeit schlicht und einfach Ja dazu sagen, wann auch immer Ihnen
aufgeht, dass das wahr ist. Möge aus dem Samenkorn, das Gott dabei
in Sie hineinpflanzt, ein guter Baum, eine schöne Blume in Gottes
Garten werden, so wie wir es eben mit den Worten Paul Gerhardts
gesungen haben. Und möge der Friede Gottes, der höher ist als alle
Vernunft, unser aller Herzen und Sinne bewahren in Jesus Christus.“

Amen.