Predigt vom 18.9.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN DREIZEHNTEN
SONNTAG
NACH TRINITATIS

Pfr.
Dr. Martin Klein
Wenschtkirche, 18.9. 2011 (mit Taufe von Paul
Winkel)
Text: Mk 3,31-35

Wenn man den Umfragen
glauben darf, dann ist für uns Deutsche die Familie immer noch eins
der höchsten Güter. „Hauptsache, die Familie hält zusammen“, sagen
viele, wenn sie nicht gerade überzeugte Singles sind. Blut ist eben
dicker als Wasser, heißt es, und Familienbande sind stärker als
alle anderen. Vater, Mutter, Kind in fröhlicher Eintracht und immer
für einander da – das ist unser Ideal.

Dieses Ideal existiert
freilich nur in der Fernsehwerbung. Nicht nur, dass aus der Großfamilie
früherer Zeiten längst die Kleinfamilie geworden ist, die die Oma
nur noch ab und zu besuchen fährt. Heute werden immer mehr Kleinfamilien
zu Kleinstfamilien aus allein erziehender Mutter (oder Vater) und
Kind, zu so genannten Patchwork-Familien mit meinen Kindern, deinen
Kindern, unseren Kindern – oder zu mehr oder weniger fest liierten
Paaren, die gar keine Kinder haben. Aber auch in Familien, die äußerlich
im konservativen Sinne intakt sind, ist das Familienleben oft auf
Sparflamme reduziert. Tagsüber geht jeder für sich seiner Beschäftigung
nach – zur Arbeit, zur Schule oder zum Kindergarten, und abends
sitzt jeder vor seinem eigenen Fernseher oder Computer oder kümmert
sich um die eigenen Freunde und Hobbys. Und wenn man dann doch mal
längere Zeit miteinander verbringt – im Urlaub zum Beispiel -, dann
geht man sich entsetzlich auf die Nerven. Dabei habe ich die so
genannten „Problemfamilien“ mit ihren gewalttätigen Eltern und verwahrlosten
Kindern noch gar nicht mitgerechnet. Und obwohl sich auch in der
Politik alle immer gern familienfreundlich geben, ist die Gründung
einer Familie hierzulande eine der sichersten Methoden, um sich
finanziell zu ruinieren. Wer richtig Geld und Karriere machen will,
bleibt jedenfalls besser kinderlos. Also habe ich manchmal das Gefühl,
dass die gute, alte Vater-Mutter-Kind-Familie eine aussterbende
Lebensform ist – allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. In fünfzig
Jahren gibt’s so was vielleicht gar nicht mehr.

„Das geht doch
nicht!“ mögen Sie jetzt denken. Die Familie ist doch die Keimzelle
jeder funktionierenden Gesellschaft: Kinder brauchen ihre Eltern,
am besten beide, damit sie ihnen den Weg ins Leben zeigen; und Eltern
brauchen ihre Kinder, damit sie im Alter versorgt sind und jemand
für ihre Rente aufkommt!“ So steht es doch schon in den Zehn Geboten:
„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem
Land, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ Und in Psalm 127
heißt es: „Kinder sind eine Gabe des HERRN, und Leibesfrucht ist
ein Geschenk.“

Ich gebe Ihnen
ja Recht, wenn Sie so denken. Ich bin schließlich auch ein Familienmensch
und kann mich nur schwer damit abfinden, dass sich die Familienbande
immer mehr auflösen. Dem kleinen Paul wünsche ich, dass er das nie
erleben muss – seinen Eltern natürlich auch. Und ich bin auch immer
noch überzeugt, dass jeder Mensch eine Familie braucht. Aber so
wie die Dinge nun einmal stehen, sollten wir uns an die auch schon
biblische Erkenntnis erinnern, dass diese Familie nicht unbedingt
die leibliche Verwandtschaft sein muss. Dazu müssen wir nur den
heutigen Predigttext lesen. Er steht im Markusevangelium, in Kapitel
3:

Und es kamen
Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm
und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen
zu ihm: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern
draußen fragen nach dir.“ Und er antwortete ihnen und sprach: „Wer
ist meine Mutter und meine Brüder?“ Und er sah ringsum auf die,
die um ihn im Kreise saßen, und sprach: „Siehe, das ist meine Mutter
und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein
Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Eigentlich ist
das unerhört, was hier passiert. Da ist die Familie von Jesus den
ganzen weiten Weg von Nazareth nach Kapernaum gelaufen, über staubige
Straßen und durch Sonnenhitze, und dann lässt der sie eiskalt abblitzen.
Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren erwachsenen Sohn oder Tochter
besuchen und würden nicht einmal rein gelassen! Und als Begründung
bekämen Sie zu hören: „Meine Mutter? Mein Vater? Kenn ich nicht!
Meine Freunde hier, die sind meine Familie!“ Ich bin schon vielen
Eltern begegnet, denen es so ähnlich ergangen ist: Da hat man die
Kinder mit viel Mühe groß gezogen, und dann wollen sie plötzlich
nichts mehr von einem wissen. Ich kann sie verstehen, wenn sie darüber
verbittert sind. Aber hätten Sie so etwas von Jesus erwartet? Gilt
denn nicht auch für ihn das Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren“?

Wenn man im Markusevangelium
etwas zurückblättert, dann kann man allerdings auch Jesus verstehen.
Denn aus Mk 3,21 lässt sich entnehmen, dass die Mutter und die Geschwister
Jesus nicht nur einfach aus familiärer Verbundenheit besuchen. Dort
heißt es, dass sie sich auf den Weg machen, um Jesus nach Hause
zu holen, notfalls mit Gewalt. Denn sie glauben, dass Jesus plötzlich
völlig verrückt geworden ist und dass sie ihm erst einmal seine
Flausen austreiben müssen. Sie können es nicht fassen, dass ein
erwachsener Mann von dreißig Jahren plötzlich alles stehen und liegen
lässt, um mit zweifel-haften Freunden als Prediger durchs Land zu
ziehen. Müsste er sich als ältester Sohn nicht eigentlich um seine
Mutter kümmern, die wohl schon verwitwet ist? Auf solches Unverständnis
stoßen viele erwachsene Kinder, wenn sie einen anderen Lebensweg
einschlagen als die Familie erwartet hätte. Und auch sie kann ich
verstehen. Aber würden sie es übers Herz bringen, ihre arme, alte
Mutter einfach vor der Tür stehen zu lassen?

Jesus richtet
sich freilich nach ganz anderen Maßstäben. Familiäre Pflichten sind
ihm nicht mehr wichtig. Für ihn geht es allein darum, den Willen
Gottes zu tun. Der hat ihn ganz für sich in Anspruch genommen, als
er am Jordan getauft wurde: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich
Wohlgefallen habe.“ Und deshalb kann er jetzt nicht anders als durchs
Land zu ziehen und zu verkünden: „Kehrt um, denn das Reich Gottes
ist nahe herbeigekommen!“ Wenn die Familie das nicht akzeptieren
kann, dann muss er sich eben von ihr trennen. Aber Jesus ist dabei
nicht einsam geblieben. Viele hören ihm zu, viele lassen sich mitreißen
und spüren die Nähe Gottes, die von ihm ausgeht. Und etliche ziehen
auch mit ihm und teilen mit ihm das unstete Leben, das er führt.
Sie tun wie er den Willen Gottes, und deshalb sind sie seine wahre
Familie.

Seine Geschwister
haben das erst nach Ostern begriffen, als sie dem auferstandenen
Jesus begegneten. Bis dahin war er für sie immer nur der große Bruder,
mit dem sie aufgewachsen waren und den sie bestens zu kennen glaubten
– bis er dann plötzlich den Verstand verlor. Und auch Maria kannte
die ganzen Verheißungen noch nicht, die erst viel später mit der
Geburt Jesu verbunden wurden. Aber nach Ostern gehörten sie und
ihre Kinder auch mit zur neuen Familie Jesu – nicht der Blutsbande
wegen, sondern weil sie nun überzeugt waren, dass alles, was Jesus
tat und sagte, Gottes Wille war. Für diese Überzeugung gingen sie
nun gemeinsam durch dick und dünn, und mindestens einer seiner Brüder
ließ dafür später sogar sein Leben.

Es bleibt also
dabei: Eine Familie braucht der Mensch, aber es müssen nicht unbedingt
die leiblichen Verwandten sein. Und so hat sich die christliche
Kirche immer als „Familie Gottes“ verstanden. In der Gemeinschaft
von Christen zählt nur die Bindung an Gott durch Jesus Christus.
Alle anderen Bindungen müssen dahinter zurücktreten. Manchmal ist
Wasser also doch dicker als Blut, nämlich wenn es sich um das Wasser
der Taufe handelt. Paul ist heute in eine neue Familie aufgenommen
worden, in die große Gemeinschaft der Christen. Und auch wenn er
da nun erst noch hineinwachsen muss, kann ihn doch nichts mehr von
der Liebe Christi trennen, die diese Familie zusammenhält.

Das heißt natürlich
nicht, dass all die Winkels und Drucksens, die heute hier sind,
nun nicht mehr Pauls Familie sind. Und auch als erwachsener Christ
muss man nicht alle anderen Bindungen kappen, die einen sonst noch
mit Menschen verbinden. So läuft das in manchen Sekten, aber nicht
in der Gemeinde Jesu Christi. Doch es heißt, dass ich zu dieser
Gemeinschaft immer gehören kann, egal ob ich mit Familie oder als
Single lebe, egal, ob ich mich da, wo ich wohne, fremd oder zu Hause
fühle, egal, ob ich jung oder alt bin. Diese Gemeinschaft ist also
auch nicht abhängig davon, ob die Formen unseres Zusammenlebens
in Zukunft noch die gleichen sein werden, die wir gewohnt sind.

„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine
Mutter“, sagt Jesus. „Wer den Willen Gottes tut“ – das heißt
auch für uns als Familie Gottes in Klafeld und Umgebung, dass die
Gemeinschaft der Christen sich nicht für alle Zeiten auf die Menschen
beschränkt, die schon immer dabei waren. Eine Kirchengemeinde besteht
eben nicht nur aus denen, die irgendwo mitarbeiten, die regelmäßig
im Gottesdienst, in den Frauenkreisen oder in den Chören sitzen
und dabei immer wieder den gleichen Leuten begegnen. „Wer den Willen
Gottes tut“, das ist eine offene Größe. Als Jesus das sagte, waren
alle gemeint, die gerade zufällig um ihn herum saßen. Und heute
sind es mindestens alle, die getauft sind und einer christlichen
Gemeinde angehören. Oder sagen wir: sie könnten und sollten es zumindest
sein. Sie alle könnten zur Familie gehören. Eigentlich müsste uns
etwas fehlen, solange sie nicht dabei sind. Aber manchmal habe ich
den Eindruck, dass wir uns in unseren gewohnten Kreisen so wohl
fühlen, dass wir die anderen gar nicht so schrecklich vermissen.
Ich glaube, das ist gefährlich. Denn wir könnten dann eines Tages
feststellen, dass Jesus längst einen anderen Kreis um sich geschart
hat und wir plötzlich die Familie sind, die draußen steht und den
Anschluss verpasst hat. So weit sollten wir es nicht kommen lassen.
Und deshalb sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass die
Einladung Jesu allen Menschen gilt. Zu seiner Familie kann jeder
gehören. Und unsere Sache ist es, zu überlegen, wem wir diese Einladung
weitergeben könnten und wie wir das tun könnten. Dar-über wird in
unserer Gemeinde ja auch durchaus nachgedacht, und das ist gut so.
Ich wünsche uns dafür weiterhin Mut, Phantasie und gutes Gelingen
unter Gottes Segen. Und alle, die irgendwann mal getauft wurden,
aber sich bisher oder in letzter Zeit wenig aus ihren geistlichen
Familienbanden gemacht haben, die lade ich ein, zu entdecken, wie
Mut, Kraft und Trost sich daraus ziehen lässt, zur Familie Jesu
Christi zu gehören und seinen Willen zu tun.

Amen.

 

Predigt vom 28.8.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
und Wenschtkirche, 28.8. 2011
Text: Ex 19,1-8

Am ersten Tag
des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland,
genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren
ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten
sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf
zu Gott.
Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: „So
sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich
euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet
ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt
ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist
mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges
Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“

Mose kam und
berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor,
die ihm der HERR geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig
und sprach: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun.“ Und
Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder.

Wenn man nur den
historischen Kern betrachten würde von dem, was uns hier beschrieben
wird, dann wäre das Ganze bestenfalls eine Randnotiz der Religionsgeschichte:
Irgendwann im 13. Jahrhundert vor Christi Geburt entkam eine Gruppe
von Hebräern der Sklaverei in Ägypten. Ein-, zweitausend Menschen
maximal, vielleicht auch nur ein paar Hundert. Ihr Anführer, Mose,
war im Namen eines Gottes aufgetreten, der damals nur von ein paar
Volksstämmen in Nordwestarabien verehrt wurde und von dem man glaubte,
dass er auf einem Berg namens Sinai seinen Wohnsitz habe. Diesem
Gott schrieben nun die ehemaligen Sklaven ihre Befreiung zu. Nach
der wunderbaren Rettung vor ihren Verfolgern am Schilfmeer zogen
sie deshalb zum Berg Sinai, um dem Gott Jahwe – so die wahrscheinlichste
Aussprache seines Namens – zu huldigen, ihm zu danken und ihn als
ihren Gott anzunehmen. Den Glauben an ihn nahmen sie mit zu ihren
neuen Wohnsitzen im Lande Kanaan.

Das alles wäre
vermutlich längst vergessen, wenn das, was diese Menschen erlebt
hatten, nicht eine ungeheure Wirkung entfaltet hätte: wenn sich
nicht in der Folgezeit um die ehemaligen Sklaven herum die Stämme
des Volkes Israel gesammelt hätten, wenn nicht aus dem Berggott
Jahwe der Gott Israels geworden wäre und wenn Israel nicht – viel
später erst – zu der Überzeugung gekommen wäre, dass dieser Gott
kein anderer ist als der Schöpfer der Welt, der einzige Gott, dem
die ganze Erde gehört, während alle anderen Götter nur von Menschen
gemachte Götzen sind.

Unser Predigttext
stammt aus der Zeit, wo sich diese Überzeugung schon durchgesetzt
hatte. Und so ist hier aus dem Erlebnis einiger flüchtiger Sklaven
die entscheidende Begegnung geworden zwischen dem ganzen Volk Israel
und dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Eine Begegnung,
die bis zum heutigen Tag das Herzstück des jüdischen Glaubens geblieben
ist. Eine Begegnung, die auch unser christliches Gottesbild und
auch das des Islams entscheidend geprägt hat – haben wir doch beide
einen Glauben, der jüdische Wurzeln hat.

Es lohnt sich
also, wenn wir diese Begegnung einmal näher in Augenschein nehmen.
Und der Abschnitt, der heute Predigttext ist, eignet sich dafür
besonders gut, weil er alle Äußerlichkeiten und Einzelheiten außen
vor lässt und sich auf das Wesentliche beschränkt.

Kurz gesagt: Hier
wird ein Bund geschlossen. Das ist die entscheidende Deutung, die
man in Israel später den Ereignissen am Sinai gegeben hat. Und diese
Deutung hatte große Wirkung. Von ihr her sind wir Christen es gewohnt,
das Verhältnis zwischen Gott und Israel den „Alten Bund“ zu nennen.
Von ihr her nennen wir die heilige Schrift, die diesen Bund entfaltet,
„Altes Testament“, denn testamentum ist nichts anderes als die lateinische
Übersetzung des hebräischen Wortes für „Bund“. Und wenn wir demgegenüber
das Verhältnis zwischen Gott und allen, die an Jesus Christus glauben,
den „Neuen Bund“ nennen – und das davon handelnde Buch „Neues Testament“
–, dann heißt das eigentlich gerade nicht, dass dieser neue Bund
an die Stelle des alten tritt und etwas völlig anderes ist. Sondern
es heißt, dass Gott auch uns Christen, so wie Israel immer schon,
in der Form des Bundes begegnet – nur dass dieser Bund nun in Christus
nicht mehr nur dem Volk Israel, sondern allen Menschen gilt. Wenn
wir uns also anschauen, was das für ein Bund ist, den Gott mit Israel
schließt, dann erfahren wir auch Entscheidendes über unser Verhältnis
zu Gott.

Also: Was ist
das für ein Bund, der hier geschlossen wird? Ist er so etwas wie
ein Bündnis von Staaten, die als gleichberechtigte Partner einen
Vertrag miteinander aushandeln? Ist er so etwas wie die Aufnahme
in einen exklusiven Club, derer sich der Aufzunehmende erst mal
würdig erweisen muss? Ist er eine Art Vertrag zwischen Chef und
Untergebenem: „Ich erwarte von dir, dass du dich mit der Firma identifizierst
und deine Arbeitskraft zur Verfügung stellst, und dafür zahle ich
dir den und den Lohn“? Oder ist er so etwas wie der „Bund der Ehe“,
wo zwei Menschen, die sich lieben, eine Gemeinschaft fürs Leben
bilden?

Der letzte Vergleich
kommt der Sache am nächsten, trifft es aber auch nicht ganz. Das
liegt letztlich an den Partnern, die zu diesem ganz speziellen Bund
gehören: auf der einen Seite Gott, dem die ganze Erde gehört, auf
der anderen Seite Menschen, die Gott geschaffen hat, die ihm also
auch gehören. Von gleichberechtigten oder auch nur eigenständigen
Vertragspartnern kann im Verhältnis von uns Menschen zu Gott also
gar nicht die Rede sein. Wir gehören ihm ohnehin und verdanken ihm
schlechthin alles. Wir haben ihm nichts anzubieten, was er nicht
auch ohne uns schon hätte. Wir könnten ihn durch nichts dazu bewegen,
einen Bund mit uns zu schließen, wenn er es nicht so haben wollte.

Das ist nun aber
genau der springende Punkt: Gott schließt einen Bund mit Israel
einzig und allein, weil er es will. An anderen Stellen im Alten
Testament sagt Gott es ganz deutlich: „Ich habe euch nicht zu meinem
Volk gemacht, weil ihr so wichtig und bedeutend wärt – im Gegenteil:
ihr seid das kleinste und unbedeutendste aller Völker. Ich habe
euch auch nicht zu meinem Volk gemacht, weil ihr mir so treu ergeben
seid und immer tut, was ich sage – im Gegenteil: ihr seid der halsstarrigste
und undankbarste Haufen, den man sich nur vorstellen kann. Nein,
ihr habt es nicht verdient, dass ich euer Gott bin. Wenn ich es
trotzdem bin und immer bleiben werde, wenn ich trotzdem einen unverbrüchlichen
Bund mit euch schließe, dann einzig und allein, weil ich euch lieb
habe.“

Kleine, aber bedeutsame
Zwischenbemerkung: Jetzt wird uns hoffentlich auch klar, warum uns
alles daran gelegen sein muss, dass dieser alte Bund mit Israel
auch angesichts des neuen Bundes in Christus seine Gültigkeit behalten
hat. Denn wenn Gott sein Verhältnis zu Israel wegen Ungehorsams
aufgekündigt hätte, was hätten wir dann wohl angesichts unseres
Ungehorsams zu erwarten, der wahrlich nicht kleiner ist?

Aber zurück zum
Bund vom Sinai: Gott nennt ihn „meinen Bund“. Er schließt ihn nicht
ab mit einem eigenständigen Partner, sondern er gewährt ihn – absolut
freiwillig und ungezwungen. Unter diesem Vorzeichen steht alles,
was unser Text zu diesem Bund ausführt.

Schon am Anfang
wird deutlich, dass Gott von sich aus in Vorleistung getreten ist:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich
euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Die
Befreiung aus der Sklaverei, die Rettung am Schilfmeer, die Führung
und Bewahrung bis hierher zum Sinai – all das ist allein Gottes
Werk. So wie es später auch mit der Sendung Jesu der Fall war. Wenn
wir Gott also als freie Menschen gegenübertreten können, dann deshalb,
weil er uns frei gemacht hat.

Als freie Menschen
tragen wir nun aber auch eine Verantwortung, nämlich „Gottes Stimme
zu gehorchen und seinen Bund zu halten“, also so zu leben, wie es
dem Willen Gottes entspricht. Die Zehn Gebote im nächsten Kapitel
bilden dafür eine gute Grundlage. Wohlgemerkt: Das ist nicht die
Bedingung, damit Gott den Bund mit uns eingeht, sondern es ist die
Konsequenz aus dem Bund, den Gott schon gewährt hat. Denn Gott hat
ein Ziel damit. Er möchte, dass seine Menschen „ein Königreich von
Priestern und ein heiliges Volk“ sind. Das heißt nicht, dass alle
Israeliten Priester oder alle Christen Pfarrer werden müssten, sondern
dass alle Menschen, denen Gottes Bund gilt, ganz und gar sein Eigentum
sein sollen – so wie der Heidelberger Katechismus es für uns Christen
formuliert: „dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben
nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre
… – von Herzen willig und bereit, fortan ihm zu leben.“

Das klingt nach
einem hohen und weitgesteckten Ziel, und wir fragen uns vielleicht,
wie wir es je erreichen sollen. Aber wenn wir uns klar machen, dass
wir ja schon jetzt Gottes Eigentum sind, wo ihm doch die ganze Erde
gehört, dann müssen wir eigentlich nur noch werden, was wir schon
sind – und dafür reicht die Freiheit, die Gott uns schenkt allemal
aus.

Das macht der
Schluss des Textes noch einmal deutlich. Denn man könnte ja denken,
wenn der Bund allein Gottes Sache ist, dann ist es doch völlig gleichgültig,
ob ich dazu Ja oder Nein sage, ob ich sozusagen meine Unterschrift
unter die Bundesurkunde setze oder nicht. Aber wenn es so wäre,
dann wären wir ja doch immer noch Sklaven und nicht Menschen, denen
Gott die Freiheit geschenkt hat. Deshalb ist es wichtig, dass der
Text mit der Zustimmung des Volkes schließt: Alles Volk antwortete
einmütig und sprach: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir
tun.“ Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder. Als Sklaven
hat Gott Israel aus Ägypten geführt, aber als freie Menschen sagen
sie nun Ja zu ihm und seinen guten Lebensweisungen. Und auch das
gilt im neuen Bund nicht anders als im alten: Wir sind, wie Paulus
sagt, „Sklaven der Sünde“; wir haben nicht die Freiheit, aus eigenem
Willen und eigener Kraft unsere Gottesferne zu überwinden. Aber
als Gott selber Mensch wurde, da hat er uns aus dieser Sklaverei
herausgeführt, und als freie Menschen können wir nun Ja sagen zu
ihm, wo und wann immer er uns begegnet. Und dann können wir auch
tun, was ihm gefällt.

Amen.

 

Predigt vom 24.7.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN FÜNFTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Hamme,
Paul-Schneider-Haus, 4.7. 1999
Schüren, 19./26.6 2005
Tal-
und Wenschtkirche, 24.7. 2011

Text: Joh 1,35-42

Der Predigttext
veranlasst mich, heute mit folgender Frage zu beginnen: Wie wird,
wie bleibt man eigentlich eine einladende Gemeinde? Ich setze dabei
einfach mal voraus, dass die Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde
Klafeld eine einladende Gemeinde sein will – wie, na, sagen wir,
fast alle anderen Gemeinden auch. Und ich hebe auch gern hervor,
dass wir auf diesem Gebiet nicht die Schlechtesten sind. Viele empfinden
zum Beispiel die „Guten-Abend-Kirche“ als einladendes Angebot und
nehmen es auch wahr, andere kommen über die Kindergärten oder über
die Konfirmandenarbeit zu uns. Und ich könnte eine ganze Reihe Menschen
aufzählen, die gerade in den letzten Jahren näheren Kontakt zu unserer
Gemeinde gefunden haben, sich bei uns wohl fühlen und dann auch
an der einen oder anderen Stelle mitarbeiten – im Konfi-Team zum
Beispiel oder beim „Grünen Hahn“. Das ist gut so. Aber es funktioniert
nicht immer. Beim Ökumenischen Kinderfest zum Beispiel herrscht
immer wieder Hochbetrieb im und ums Gemeindezentrum Wenscht. Aber
nur ein Bruchteil der Leute kommt morgens schon zum Gottesdienst.
76 Konfis langweilen sich zurzeit mehr oder weniger regelmäßig in
unseren Gottesdiensten, und nach den Ferien kommen noch mal so viele
neue dazu. Aber wenn wir ihnen anbieten, einen Jugendgottesdienst
ganz nach ihren Wünschen vorzubereiten und zu feiern, findet sich
kaum einer, der mitmacht. Da ertappe ich mich schon mal bei dem
Gedanken, ob ich die Leute eigentlich immer erst mit irgendetwas
ködern muss – mit Spiel und Spaß, mit Kaffee und Kuchen oder auch
nur mit einer Unterschrift auf dem Konfi-Pass, damit sie dafür in
Kauf nehmen, mit der Bibel und den wesentlichen Inhalten unseres
Glaubens konfrontiert zu werden. Ich weiß, dass ich mit diesem Gedanken
wahrscheinlich vielen Leuten, auch vielen Jugendlichen Unrecht tue.
Und so ohne Weiteres lässt sich das „Eigentliche“ auch nicht vom
„Uneigentlichen“ trennen. Aber trotzdem: Die Frage ist da, und vielleicht
ja nicht nur bei mir. Deshalb möchte ich das mit der einladenden
Gemeinde noch etwas genauer klären und drei Fragen stellen:

  1. Wozu laden
    wir eigentlich ein?
  2. Wer lädt
    wen ein?
  3. Was haben
    wir den Eingeladenen zu bieten?

Wenn wir diese
Fragen beantworten können, sind wir, glaube ich, ein gutes Stück
weiter. Und der heutige Predigttext kann uns dabei einige Hilfestellung
bieten. Er steht in Johannes 1 und lautet folgendermaßen:

 

Am nächsten
Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er
Jesus vorübergehen sah, sprach er: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“
Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach.

Jesus aber
wandte sich um und sah sie nachfolgen, und sprach zu ihnen: „Was
sucht ihr?“ Sie aber sprachen zu ihm: „Rabbi, wo ist deine Herberge?“
Er sprach zu ihnen: „Kommt und seht!“ Sie kamen und sahen’s und
blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde.

Einer von den
zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nach-gefolgt waren,
war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen
Bruder Simon und spricht zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden.“
Und er führte ihn zu Jesus.

Als Jesus ihn
sah, sprach er: „Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst
Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.“

 

So weit der Text.
Und nun noch einmal die erste er drei Fragen: Wozu laden wir
eigentlich ein?

Ist doch klar,
könnte man denken. Wir wollen, dass mehr Menschen einen Platz in
unsere Gemeinde finden. Also sollten wir sie zu uns einladen: Zum
Gottesdienst zuallererst. Aber auch zur Frauenhilfe, zum Teen-Treff,
zum Kirchenchor, zu Gemeindefesten und so weiter. Das ist ja auch
alles richtig. Aber wir sollten dabei eins nicht vergessen: Für
den, der eingeladen wird, unterscheidet sich unsere Einladung erst
einmal nicht grundlegend von einer Einladung zum Seniorenclub der
AWO oder zum Grillfest des Kleingartenvereins. Ob er sie annimmt
oder nicht, ist für ihn letztlich egal. Echte Bedeutung bekommen
unsere Einladungen nur, wenn hinter ihnen die große Einladung steht,
die alle anderen umfasst und übertrifft: Die Einladung zu Jesus
Christus. Im Predigttext wird das ganz deutlich: Johannes der Täufer
zeigt auf Jesus und sagt zu seinen Jüngern: „Siehe, das ist Gottes
Lamm!“ Und Andreas sagt zu Simon: „Wir haben den Messias gefunden.“
Und dann bringt er ihn zu Jesus.

Mit dieser Einladung
tun wir uns heute oft schwer, sogar im frommen Siegerland, und das
obwohl wir uns doch in jedem Gottesdienst zum Glauben an Jesus Christus
bekennen. Und das Problem besteht nicht nur darin, dass wir ihn
nicht leibhaftig vor Augen haben wie die Menschen damals. Wir wissen
auch sonst wenig darüber, wo man denn die Gegenwart Jesu Christi
heute erfahren kann, wo etwas da-von zu spüren ist, dass Gott tatsächlich
Mensch geworden ist. Deshalb wäre es wirklich zu billig, wenn wir
einfach sagen würden: „Komm zu Jesus, und alles wird gut!“ Dann
müssten wir uns die Rückfrage gefallen lassen: „Wo ist er denn,
dieser Jesus? Und wenn du mir das nicht sagen kannst, wieso behauptest
du dann, dass bei ihm alles gut wird?“ So wie die Dinge stehen,
müssten wir also erst einmal selber das tun, was die beiden Johannes-Jünger
tun, als sie Jesus treffen. „Meister“, fragen sie ihn, „wo ist deine
Herberge?“ Ich übertrage das für uns einmal so: „Wo bist du zu Hause,
Jesus? Wo können wir dich finden? Wo können wir dir begegnen?“ Und
Jesus antwortet ihnen und uns: „Kommt und seht!“ Letztlich sind
es also gar nicht wir, die einladen. Jesus selbst lädt uns zu sich
ein. „Kommt und seht“ – für uns könnte diese Einladung vielleicht
so lauten: „Beschäftigt euch mit der Bibel. Da schreiben Menschen,
die meine Nähe erfahren haben, und durch ihre Worte hindurch will
ich euch begegnen.“ Oder: „Kommt zur Ruhe im Gebet. Werdet still
und lasst mich auf euch wirken, dann könnt ihr spüren, dass ich
da bin.“ Oder: „Kommt zum Abendmahl! Schmeckt und seht, wie freundlich
der Herr ist. So gewiss, wie ihr das Brot esst und den Wein trinkt,
so gewiss bin ich mit meiner Liebe für euch da.“ Erst wenn wir uns
so haben einladen lassen, erst wenn wir selber gekommen sind und
gesehen haben, können wir andere einladen.

Nun zur zweiten
Frage: Wer lädt wen ein?

Eigentlich ist
das nach dem Gesagten schon klar. Wenn es wichtig ist, dass wir
das weitergeben, was wir selber erfahren haben, dann reicht es nicht,
den Gemeindebrief zu verteilen oder für besondere Aktionen Plakate
aufzuhängen und Handzettel zu drucken. Und es würde auch nicht reichen,
wenn wir einen Marketing-Experten mit einer tollen (und teuren)
Werbekampagne beauftragen würden. Das alles hilft gar nichts, wenn
wir nicht persönlich für das einstehen, wovon wir überzeugt sind
– wir Pfarrerinnen und Pfarrer zuerst, aber alle anderen Christenmenschen
auch. Das Christentum wäre nie eine Weltreligion geworden, wenn
es nicht immer wieder Menschen gegeben hätte, die von Jesus und
seiner Sache begeistert waren und auch andere dafür begeistern konnten.
Diese Begeisterung kann man natürlich nicht hervorzaubern. Aber
ich vertraue darauf: Wenn Jesus Christus uns begegnet in der Bibel,
im Gebet, im Gottesdienst, dann springt der Funke des heiligen Geistes
auf uns über und begeistert uns im wörtlichen Sinne. Und auch ein
kleiner Funke kann helle Flammen entfachen.

Tja, und wen laden
wir ein? Die Menschen in unserem Predigttext wenden sich schlicht
an ihre nächste Umgebung: Johannes an seine engsten Anhänger, Andreas
an seinen Bruder Simon, die beiden später an Philippus, der aus
dem gleichen Dorf kommt wie sie, und Philippus schließlich an seinen
Freund Nathanael. Wir müssen also nicht gleich in ferne Länder ziehen,
um Menschen unseren Glauben weiterzugeben. Wir können in unseren
Familien anfangen: bei unseren Kindern und Enkeln, in unserem Freundeskreis
oder in unserer Nachbarschaft. Wenn auch nur einige von ihnen sich
einladen lassen, ist schon viel gewonnen.

Und schließlich
noch die dritte Frage: Was haben wir den Eingeladenen zu bieten?

An dieser Frage
könnte man verzweifeln. Denn verglichen mit den Dingen, die heutzutage
„in“ sind, haben wir anscheinend nicht viel zu bieten. Kirche ist
bei aller Liebe in der Regel weder so mitreißend wie ein Rock-Konzert
oder ein Bundesligaspiel, noch so entspannend wie ein Wellness-Wochenende,
noch so geheimnisvoll wie ein esoterischer Zirkel. Ausnahmen – wie
der Kirchentag alle zwei Jahre oder auch manche gelungene Aktion
in unserer Gemeinde – bestätigen die Regel. Natürlich sollten wir
uns fragen, ob das so sein muss. Ob bei uns nicht immer noch vieles
zu nüchtern und bürokratisch ist, zu trocken und kopflastig, zu
altbacken und langweilig, zu gut gemeint und schlecht gemacht. Und
es ist ja nicht so, als ob es nicht tausend Ideen gäbe, was man
anders und besser machen könnte. Trotzdem bleibt es dabei: in punkto
Unterhaltsamkeit und Erlebniswert werden wir in unserer schnelllebigen
Mediengesellschaft nie mithalten können. Das können Gottschalk,
Kerkeling und Co. einfach besser. Aber dafür werden wir auch nicht
gebraucht. Das, was wir zu bieten haben, ist etwas völlig anderes
und unendlich wertvolleres. Wir haben den zu bieten, den Johannes
„Gottes Lamm“ und Andreas „den Messias“ nennt. Wir haben den zu
bieten, der alles wegträgt, was uns von Gott trennt, den, der Gottes
neue Welt wirklich werden lässt. Bei ihm ist erfülltes Leben finden
statt einer Fülle von Erlebnissen. Ruhe statt Reizüberflutung. Fester
Halt statt ständig wechselnde Moden und Launen. Menschen, die füreinander
da sind, statt aneinander vorbei zu leben. Die Freude an diesem
Herrn ist unsere Kraft. Da liegen unsere Stärken. Da haben wir mehr
zu bieten als irgendjemand sonst – einschließlich der weltanschaulichen
Konkurrenz. Oder wo gibt es sonst noch einen Gott wie unseren Gott,
der sich nicht zu schade ist, sich selbst für seine Menschen aufzuopfern?
Wir haben also überhaupt keinen Grund, unser Licht unter den Scheffel
zu stellen. Und wir müssen mit unserer Einladung nicht hinterm Berg
halten: „Kommt und seht: Wir haben den gefunden, der uns das Leben
schenkt!“ Was für ein Angebot! Wenn diese Einladung ankommt, müsste
dann nicht eigentlich jede Kirche jeden Sonntag bis auf den letzten
Platz gefüllt sein? Man wird ja wohl noch fragen dürfen – und vielleicht
ein bisschen träumen.

Amen.

 

Predigt vom 17.7.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Talkirche, 17.7. 2011
Pfr.
Dr. Klein
Text: Gen 50,15-21

Die Beerdigung
des alten Herrn Jacobi war vorüber. Sie war das gewesen, was man
in Wien „a schöne Leich“ genannt hätte. Die große Backsteinkirche,
in der die Trauerfeier stattgefunden hatte, war bis auf den letzten
Platz gefüllt gewesen. Alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte,
ja sogar Polit-Prominenz aus Berlin war gekommen. Der Domchor hatte
gesungen, und der Bischof persönlich hatte die Predigt gehalten.
Und anschließend war eine lange Kolonne von schweren Limousinen
hinter dem Leichenwagen her zum Friedhof gefahren, wo der Patriarch
einer großen Familie in der Gruft seiner Ahnen zur letzten Ruhe
gebettet worden war, begleitet von Salutschüssen der örtlichen Schützenbrigade.

So ein Begräbnis
hatte die kleine Stadt in der ostdeutschen Provinz lange nicht erlebt.
Das lag weniger an der Person des Verstorbenen. Denn der hatte im
Ort zwar einiges Ansehen besessen, war aber nur ein einfacher Bauer
gewesen. Es lag auch nicht an seinen Söhnen aus erster Ehe, unauffälligen
Gestalten, schon mehr oder weniger grauhaarig, die mit ihren Frauen
und Kindern in schlichter schwarzer Kleidung dem Sarg folgten. Nein,
es lag an IHM, dem gut aussehen-den Mann im teuren Maßanzug, auffällig
– unauffällig eskortiert von breitschultrigen Gestalten mit Sonnenbrillen:
Prof. Dr. Dr. h. c. Johannes Jacobi, renommierter Wirtschaftswissenschaftler
und Staats-sekretär mit Sondervollmachten im Bundeskanzleramt. Sein
erfolgreiches Konzept zur Bewältigung der schwersten Wirtschaftskrise
der Nachkriegszeit hatte ihm sowohl die Bewunderung der Fachwelt
als auch das Vertrauen des deutschen Kleinsparers eingebracht und
ihn zur rechten Hand des Bundeskanzlers gemacht. Er hatte immer
als Sohn eines rheinischen Geschäftsmanns gegolten, der ihn adoptiert
und ihm sein Vermögen vermacht hatte. Erst vor wenigen Jahren war
bekannt geworden, dass er in Wirklichkeit aus einer ostdeutschen
Bauernfamilie stammte und in der DDR aufgewachsen war. Die Boulevardblätter
waren damals voll gewesen mit Bildern und Geschichten über das ergreifende
Wiedersehen mit seinem Vater und seinen Brüdern nach vielen Jahren
der Trennung. Und natürlich würden sie auch jetzt zu Tränen Rührendes
über die Beerdigung zu berichten haben.

Den Brüdern des
Herrn Prof. Jacobi ging dagegen ganz anderes durch den Kopf, als
sie mit finsteren Mienen vom Friedhof nach Hause gingen. Rudolf,
der Älteste, sprach schließlich aus, was sie alle dachten: „Jetzt
ist es so weit. Jetzt, wo unser Vater unter der Erde ist, wird er
uns alles heimzahlen!“

Die anderen nickten
nur. Sie wussten genau, was er meinte. Schließlich waren sie alle
dabei gewesen, damals, vor vielen Jahren. Und sie hatten alle mitgemacht.
Hatten ihn verprügelt, den Schönling, den Angeber, ihn getreten,
auf ihm herumgetrampelt in blinder Wut, hatten ihm die teuren Westklamotten
vom Leib gerissen, die der Vater für ihn, und nur für ihn, gekauft
hatte. Immer hatte er Johannes allen seinen Brüdern vorgezogen.
Denn er war das einzige Kind seiner zweiten Frau, die seine große
Liebe gewesen war. Sie war bei Johannes’ Geburt gestorben, und so
war ihr Kind das einzige, was ihm von ihr geblieben war. Also wurde
Johannes mit Geschenken überhäuft, und die Brüder gingen leer aus.
Johannes durfte die Oberschule besuchen, während die Brüder sich
auf den Feldern abrackern mussten. Johannes konnte sich alles erlauben,
und wenn er was ausgefressen hatte, bekamen die Brüder die Schläge
dafür. Kein Wunder, dass ihm das zu Kopf gestiegen war. Er hielt
sich für was Besseres, prahlte mit seinen Einser-Zeugnissen, schwelgte
in den tollsten Karriereträumen – und merkte nicht wie Wut und Neid
in seinen Brüdern langsam überkochten.

Eines Tages hatten
sie ihm dann aufgelauert, auf dem Heimweg von der Schule. Sie hatten
ihn ins Gebüsch unten am Fluss gezerrt. Und nachdem sie einmal angefangen
hatten, auf ihn einzuprügeln, hatten sie nicht mehr aufhören können.
Schließlich war Johannes bewusstlos geworden, und sie hatten geglaubt,
sie hätten ihn totgeschlagen. Voller Angst, dass alles rauskommen
würde, hatten sie ihn ins Wasser geworfen. Dem Vater hatten sie
nur erzählt, sie hätten seine Sachen am Fluss gefunden. Die Polizei
war zu dem Schluss gekommen, dass Johannes einem Verbrechen zum
Opfer gefallen sei – Täter unbekannt. Sein Leichnam wurde nie gefunden.

Den hatte es freilich
auch nie gegeben. Johannes war im kalten Wasser wieder zu Bewusstsein
gekommen und hatte sich trotz einiger gebrochener Rippen ans Ufer
retten können. Aus Angst vor seinen Brüdern hatte er sich nicht
mehr nach Hause getraut. Bei Nacht hatte er sich über die Landstraße
davon geschleppt. Ein LKW-Fahrer hatte ihn schließlich mitgenommen
und nach West-Berlin geschmuggelt. Dort hatte er eine Zeitlang in
übelsten Verhältnissen gelebt, bis ihn jener Geschäftsmann aus dem
Rheinland aufgegabelt hatte. Der erkannte, wie talentiert Johannes
war, gab ihm einen Ausbildungsplatz in seiner Firma, ließ ihn dann
das Abitur nachholen, finanzierte ihm sein Studium und adoptierte
ihn schließlich, weil er keine eigenen Kinder hatte. Und so machte
Johannes tatsächlich die Karriere, von der er immer geträumt hatte.

Die Brüder dagegen
wurden ihres Lebens nicht mehr froh. Äußerlich wahrten sie zwar
die Fassade, aber in ihnen nagten die Schuldgefühle. Und wenn sie
gehofft hatten, dass Johannes nun nicht mehr zwischen ihnen und
ihrem Vater stehen würde, so hatten sie sich getäuscht. Der alte
Jacobi blieb untröstlich in der Trauer um seinen Lieblingssohn,
und so bestimmte der als vermeintlich Toter ihr Verhältnis zu einander
noch stärker als zuvor.

So waren die Jahre
verstrichen. Die DDR war untergegangen, und die Brüder hatten den
väterlichen Hof wieder aus der LPG lösen können. Aber als dann die
schlimme Wirtschaftskrise gekommen war, hatten sie wie viele Bauern
vor dem Aus gestanden. Da hatte es sich begeben, dass der neue starke
Mann der Regierung, jener Prof. Dr. Jacobi, ihre Gegend bereiste.
Die Brüder hatten Unterschriften gesammelt, mit der sie um staatliche
Hilfsgelder baten. Und als sie die dem Herrn Staatssekretär überreichen
wollten, da hatte der sofort erkannt, wen er vor sich hatte. Unter
Tränen hatte er sich seinen Brüdern zu erkennen gegeben und Wiedersehen
mit seinem Vater gefeiert, der dieses Wunder kaum fassen konnte.
Und nicht aus Staatsgeldern, sondern aus seinem Privatvermögen hatte
er den väterlichen Hof saniert und Brüdern mit ihren Familien ihr
Auskommen gesichert. Über die Geschichte von damals hatte er kein
Wort verloren.

Aber jetzt war
der Vater tot. Und die alte Angst kroch den Brüdern wieder ins Genick.
Ihre Tat war zwar verjährt, aber wirtschaftlich und gesellschaftlich
konnte Prof. Jacobi sie immer noch ruinieren. „Wir müssen mit
ihm reden“, sagte Rudolf schließlich, „am besten sofort.“

Sie fragten im
Hotel nach ihm, aber dort hieß es, er habe eine Weile allein sein
wollen und sei spazieren gegangen. Doch wenn seine Brüder nach ihm
fragen würden: er sei unten am Fluss zu finden – sie wüssten dann
schon Bescheid!

Er hatte also
geahnt, dass sie kommen würden. Und der Ort, zu dem er sie bestellt
hatte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Mit klopfendem
Herzen und weichen Knien gingen sie zu der Stelle am Fluss, die
sie alle bestens kannten, auch wenn sie sich bis heute nie wieder
dorthin getraut hatten.

Johannes Jacobi
stand dort und schaute gedankenverloren aufs Wasser hinaus. Die
Brüder trauten sich zuerst nicht an ihn ran. Dann schickten sie
wie immer Rudolf vor – er hatte schon damals dem Vater die schlimme
Nachricht bringen müssen. Rudolf trat einen Schritt näher und räusperte
sich. „Johannes, wir müssen dir etwas sagen!“

Johannes drehte
sich um und schaute Rudolf an. „Das hab ich mir gedacht“,
sagte er, „also schießt schon los!“

„Nun“,
begann Rudolf und schlug verlegen die Augen nieder, „wir haben’s
ja hier im Osten nicht so mit der Kirche, aber unser Vater, der
war noch ein richtig frommer Mann. Wenn er gewusst hätte, was damals
wirklich passiert ist – hier an dieser Stelle – ich weiß nicht,
was er dann mit uns gemacht hätte. Aber jetzt, nach so langer Zeit
– da hätte er sicher gehofft, dass du uns vergibst.“

„Und ihr
glaubt, dass ich das nicht tue, nicht wahr?“ sagte Josef, und
seine Brüder merkten, dass er ganz rote Augen hatte. „Ihr glaubt,
dass ich jetzt wie Ben Hur oder der Graf von Monte Christo über
euch komme und Rache nehme!“

Die Brüder sagten
nichts, sondern nickten nur stumm.

Da erschien ein
trauriges Lächeln auf Josefs Gesicht. „Aber warum sollte ich
das tun?“ fragte er. „Glaubt ihr denn, ich hätte meine
Freude über unser Wiedersehen die ganze Zeit nur gespielt? Ja, es
stimmt, es war schlimm, was ihr mir angetan habt. Ich hab damals
wirklich gedacht, ich muss sterben, und ich habe danach üble Zeiten
durchgemacht. Aber ich habe auch erkannt, was für ein eingebildeter
Angeber ich war und wie sehr euch das gewurmt haben muss. Trotzdem
ist alles wahr geworden, wovon ich geträumt habe: Ich habe Karriere
gemacht, ich bin reich und ich habe Einfluss. Doch mir ist deutlich
geworden, dass ich das alles weder verdient habe noch für mich behalten
kann. Ich muss es mit anderen teilen, und das zuerst mit euch.

Ja, ihr habt Recht,
unser Vater war ein frommer Mann. Er hat immer geglaubt, dass unser
ganzes Leben in Gottes Hand liegt. „Denen, die Gott lieben,
müssen alle Dinge zum Besten dienen“, hat er immer gesagt.
Ich habe oft darüber nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen,
dass es tatsächlich so etwas wie Fügung gibt. Ihr hattet Böses im
Sinn, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen – für mich, für
unser Land und nicht zuletzt auch für euch. Gott hat euch – und
auch mir – längst vergeben, denn im Unterschied zu unserem Vater
liebt er uns alle gleich. Wer wäre ich denn, wenn ich nun nicht
tun würde, was Gott schon lange getan hat?“

Dann konnte er
nicht länger an sich halten und fiel Rudolf um den Hals. Und der
erwiderte seine Umarmung nach kurzem Zögern. So feierten sie endlich
Versöhnung – an der gleichen Stelle, wo sie sich vor so langer Zeit
entzweit hatten. Und wir dürfen uns vorstellen, dass Gott ihnen
dabei zufrieden zuschaute.

 

Die Brüder
Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen:
„Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten,
die wir an ihm getan haben.“ Darum ließen sie ihm sagen: „Dein
Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen:
Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie
so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns,
den Dienern des Gottes deines Vaters!“ Aber Josef weinte, als
sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen
vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte.“
Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich
denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber
Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist,
nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun
nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.“ Und er tröstete
sie und redete freundlich mit ihnen.

Amen

 

Predigt vom 3.7.2011

 

GOTTESDIENST ZUR 550-JAHRFEIER
SOHLBACH-BUCHEN

Ortsmitte Sohlbach, 3.7. 2011
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Lk 14,16-24

Es war ein
Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein.
Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen
zu sagen: „Kommt, denn es ist alles bereit!“ Und sie fingen an alle
nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: „Ich
habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich
bitte dich, entschuldige mich.“ Und der zweite sprach: „Ich habe
fünf Gespanne Ochsen gekauft und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen;
ich bitte dich, entschuldige mich.“ Und der dritte sprach: „Ich
habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen.“ Und der Knecht
kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig
und sprach zu seinem Knecht: „Geh schnell hinaus auf die Straßen
und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden
und Lahmen herein.“ Und der Knecht sprach: „Herr, es ist geschehen,
was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da.“ Und der Herr sprach
zu dem Knecht: „Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune
und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde. Denn ich
sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl
schmecken wird.“

Wir feiern heute
ein Fest: 550 Jahre Sohlbach und Buchen. Immerhin knapp anderthalb
dieser 550 Jahre haben wir gebraucht, um dieses Fest vorzubereiten.
Wir haben lange hin und her überlegt, ob und wie und wann wir am
besten feiern. Und als das endlich feststand, haben wir geplant
und organisiert, Mitwirkende gesucht, Briefe geschrieben und Genehmigungen
eingeholt, ein Programm auf die Beine gestellt, für die nötige Infrastruktur
gesorgt, geprobt, eingekauft, Kuchen gebacken, aufgebaut und manches
mehr. Und wir haben eingeladen: Plakate aufgehängt, Handzettel verteilt,
die Presse informiert. Ganz schön viel Arbeit. Aber wie es aussieht,
hat die Mühe sich gelohnt: Viele Menschen sind gekommen – trotz
zahlreicher Konkurrenzveranstaltungen, trotz unsicheren Wetters.
Und im Lauf des Tages kommen hoffentlich noch mehr.

Doch stellen Sie
sich vor, die Pessimisten hätten Recht behalten und es wäre anders.
Stellen Sie sich vor, es ginge uns so, wie dem Hausherrn in dem
Gleichnis Jesu, das die Kindergartenkinder uns vorgespielt haben:
Alles ist bereit – und keiner kommt! Selbst die, die fest zugesagt
hatten, haben plötzlich was Besseres vor. Der Gottesdienst findet
vor leeren Bänken statt. Die Grillwürstchen verbrutzeln und die
Kuchen vertrocknen, weil sie keine Abnehmer finden. Die Verkaufsstände
werden ihre Waren nicht los, und die ausgestellten alten Schätzchen
will keiner sehen. Katastrophe!

Aber dann stellen
Sie sich bitte auch noch vor, kurz bevor das Fest abgeblasen wird,
kämen plötzlich doch noch Gäste. Gäste, mit denen keiner gerechnet
hat. Die Sohlbach-Buchener Neubürger, die hier schon wohnen, aber
noch nicht leben, und die man sonst nie sieht. Die Unbeliebten,
die es sich wegen irgendwas mit der Dorfgemeinschaft verdorben haben.
Die verlorenen Söhne und Töchter, die irgendwann im Zorn aus dem
Sohlbachtal weggegangen sind und nie mehr wiederkommen wollten.
Die Türken aus Geisweid oder Buschhütten. Wie würden wir sie empfangen?
Begeistert und mit offenen Armen? Mit verhaltener Freude – „Na ja,
nicht das, was wir erwartet hatten, aber Hauptsache das Fest ist
gerettet“? Oder mit Ablehnung – „Was wollen die denn hier? Das die
sich hierher trauen!“?

Klar, das ist
alles etwas konstruiert. Aber es macht vielleicht etwas deutlich.
Es zeigt vielleicht, wie ungewöhnlich, ja unerhört das ist, was
der Hausherr im Gleichnis tut. Oder würden Sie wildfremde Menschen
zu sich einladen? Menschen, die Ihnen womöglich die gute Polstergarnitur
ruinieren oder hinterher das Tafelsilber mitgehen lassen? Nein,
kein Gastgeber, der noch alle Tassen im Schrank hat (und sie dort
auch behalten will), würde solche Leute zu sich einladen. Der Hausherr,
von dem Jesus erzählt, muss also komplett verrückt sein.

Stimmt, das ist
er, und genau deshalb erzählt Jesus von ihm. Denn er liebt solche
verrückten Typen. Den Kaufmann, der seinen ganzen Besitz für eine
einzige Perle hergibt. Den Hirten, der 99 Schafe ohne Aufsicht lässt,
um ein einziges wieder zu finden. Den Vater, der seinem Sohn ohne
jeden Tadel um den Hals fällt, obwohl der gerade sein halbes Vermögen
verprasst hat. Mit solchen Typen, solchen Geschichten will Jesus
unsere Maßstäbe verrücken und damit zurechtrücken. Denn Gott, will
er uns mit der Geschichte vom Gastmahl sagen, ist genauso verrückt
wie der Gastgeber. Er lädt schlicht und einfach alle ein: die Frommen
und die Gottlosen, die anständigen Bürger und die zwielichtigen
Gestalten, die Erfolgreichen und die Gescheiterten, die Stadtneurotiker
und die Landeier, die Alteingesessenen und die Zugereisten. Und
Jesus hat nicht nur so von Gott geredet, sondern er hat es uns allen
vorgelebt. Kein Naserümpfen und keine Feindseligkeit konnte ihn
davon abhalten.

Was heißt das
nun für uns? Erstens heißt es: auch wir alle sind eingeladen – nicht
nur zum Ortsjubiläum, sondern zu Gottes großem Fest. Er will uns
dabei haben, wenn er seine Herrschaft aufrichtet, wenn endlich Frieden
und Gerechtigkeit auf Erden einkehren. Er will mit uns zusammen
sein, denn dazu hat er uns geschaffen. Und bis es soweit ist, will
er das Fest mit uns gemeinsam vorbereiten. Dazu ruft er uns in die
Gemeinschaft mit ihm, in seine Kirche – und es ist völlig egal,
zu welcher Unterabteilung wir dabei gehören – evangelisch oder katholisch,
landes- oder freikirchlich, Klafeld oder Buschhütten. Überall hat
er seine Leute. Wir können uns daran freuen und vor allem können
wir dazu gehören und mitmachen. So wie heute bei diesem Fest, so
wünschen wir es uns auch für unsere Gemeinden: dass viele, am besten
alle, mit anpacken, jeder nach seinen Fähigkeiten und Interessen.
Zu tun gibt es immer genug!

Und das zweite:
Wenn alle zu Gott eingeladen sind, dann nicht nur ich oder wir,
sondern die anderen auch. Klingt selbstverständlich und gerät doch
leicht in Vergessenheit. Denn viel zu oft geben wir uns mit denen
zufrieden, die schon dazu gehören und die uns vertraut sind, und
lassen die anderen links liegen. Das gilt sowohl für Dorfgemeinschaften
als auch für christliche Gemeinden. Also sollten wir uns erinnern
lassen: Denke bei jedem Menschen, dem du begegnest daran, dass auch
er oder sie zu Gottes großem Fest eingeladen ist. Das kann heißen,
dass ich sie oder ihn auf diese Einladung erst einmal aufmerksam
machen muss: „Stell dir vor, Gott lädt dich ein!“ Es heißt aber
vor allem, dass ich alle Menschen, die mir begegnen, als geladene
Gäste ernst und wichtig nehme. Auch die, die mir fremd sind. Auch
die, über die man so wunderbar herziehen und lästern kann. Auch
die, um die ich sonst einen Bogen mache. Denn stellen Sie sich vor,
Sie sitzen eines Tages an Gottes Festtafel, und neben Ihnen sitzt
der Nachbar, mit dem Sie wegen irgendeiner Streitigkeit jahrzehntelang
kein Wort geredet haben. Oder jemand, von dem Sie gedacht haben,
dass der wegen seines falschen Glaubens oder falschen Verhaltens
bestimmt nicht in den Himmel kommt, und den Sie entsprechend behandelt
haben. Das wäre doch peinlich, oder?

Aber soweit muss
es ja nicht kommen. Noch sind wir alle unterwegs zum Fest und können
uns auf dem Weg zusammen tun, damit wir gemeinsam und sicher dorthin
gelangen. Und so rufe ich im Namen Gottes uns allen noch einmal
die Einladung zu: „Kommt, denn es ist alles bereit! Schmeckt und
seht, wie freundlich der HERR ist!“

Amen.