Predigt vom 28.8.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
und Wenschtkirche, 28.8. 2011
Text: Ex 19,1-8

Am ersten Tag
des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland,
genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren
ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten
sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf
zu Gott.
Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: „So
sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich
euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet
ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt
ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist
mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges
Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“

Mose kam und
berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor,
die ihm der HERR geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig
und sprach: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun.“ Und
Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder.

Wenn man nur den
historischen Kern betrachten würde von dem, was uns hier beschrieben
wird, dann wäre das Ganze bestenfalls eine Randnotiz der Religionsgeschichte:
Irgendwann im 13. Jahrhundert vor Christi Geburt entkam eine Gruppe
von Hebräern der Sklaverei in Ägypten. Ein-, zweitausend Menschen
maximal, vielleicht auch nur ein paar Hundert. Ihr Anführer, Mose,
war im Namen eines Gottes aufgetreten, der damals nur von ein paar
Volksstämmen in Nordwestarabien verehrt wurde und von dem man glaubte,
dass er auf einem Berg namens Sinai seinen Wohnsitz habe. Diesem
Gott schrieben nun die ehemaligen Sklaven ihre Befreiung zu. Nach
der wunderbaren Rettung vor ihren Verfolgern am Schilfmeer zogen
sie deshalb zum Berg Sinai, um dem Gott Jahwe – so die wahrscheinlichste
Aussprache seines Namens – zu huldigen, ihm zu danken und ihn als
ihren Gott anzunehmen. Den Glauben an ihn nahmen sie mit zu ihren
neuen Wohnsitzen im Lande Kanaan.

Das alles wäre
vermutlich längst vergessen, wenn das, was diese Menschen erlebt
hatten, nicht eine ungeheure Wirkung entfaltet hätte: wenn sich
nicht in der Folgezeit um die ehemaligen Sklaven herum die Stämme
des Volkes Israel gesammelt hätten, wenn nicht aus dem Berggott
Jahwe der Gott Israels geworden wäre und wenn Israel nicht – viel
später erst – zu der Überzeugung gekommen wäre, dass dieser Gott
kein anderer ist als der Schöpfer der Welt, der einzige Gott, dem
die ganze Erde gehört, während alle anderen Götter nur von Menschen
gemachte Götzen sind.

Unser Predigttext
stammt aus der Zeit, wo sich diese Überzeugung schon durchgesetzt
hatte. Und so ist hier aus dem Erlebnis einiger flüchtiger Sklaven
die entscheidende Begegnung geworden zwischen dem ganzen Volk Israel
und dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Eine Begegnung,
die bis zum heutigen Tag das Herzstück des jüdischen Glaubens geblieben
ist. Eine Begegnung, die auch unser christliches Gottesbild und
auch das des Islams entscheidend geprägt hat – haben wir doch beide
einen Glauben, der jüdische Wurzeln hat.

Es lohnt sich
also, wenn wir diese Begegnung einmal näher in Augenschein nehmen.
Und der Abschnitt, der heute Predigttext ist, eignet sich dafür
besonders gut, weil er alle Äußerlichkeiten und Einzelheiten außen
vor lässt und sich auf das Wesentliche beschränkt.

Kurz gesagt: Hier
wird ein Bund geschlossen. Das ist die entscheidende Deutung, die
man in Israel später den Ereignissen am Sinai gegeben hat. Und diese
Deutung hatte große Wirkung. Von ihr her sind wir Christen es gewohnt,
das Verhältnis zwischen Gott und Israel den „Alten Bund“ zu nennen.
Von ihr her nennen wir die heilige Schrift, die diesen Bund entfaltet,
„Altes Testament“, denn testamentum ist nichts anderes als die lateinische
Übersetzung des hebräischen Wortes für „Bund“. Und wenn wir demgegenüber
das Verhältnis zwischen Gott und allen, die an Jesus Christus glauben,
den „Neuen Bund“ nennen – und das davon handelnde Buch „Neues Testament“
–, dann heißt das eigentlich gerade nicht, dass dieser neue Bund
an die Stelle des alten tritt und etwas völlig anderes ist. Sondern
es heißt, dass Gott auch uns Christen, so wie Israel immer schon,
in der Form des Bundes begegnet – nur dass dieser Bund nun in Christus
nicht mehr nur dem Volk Israel, sondern allen Menschen gilt. Wenn
wir uns also anschauen, was das für ein Bund ist, den Gott mit Israel
schließt, dann erfahren wir auch Entscheidendes über unser Verhältnis
zu Gott.

Also: Was ist
das für ein Bund, der hier geschlossen wird? Ist er so etwas wie
ein Bündnis von Staaten, die als gleichberechtigte Partner einen
Vertrag miteinander aushandeln? Ist er so etwas wie die Aufnahme
in einen exklusiven Club, derer sich der Aufzunehmende erst mal
würdig erweisen muss? Ist er eine Art Vertrag zwischen Chef und
Untergebenem: „Ich erwarte von dir, dass du dich mit der Firma identifizierst
und deine Arbeitskraft zur Verfügung stellst, und dafür zahle ich
dir den und den Lohn“? Oder ist er so etwas wie der „Bund der Ehe“,
wo zwei Menschen, die sich lieben, eine Gemeinschaft fürs Leben
bilden?

Der letzte Vergleich
kommt der Sache am nächsten, trifft es aber auch nicht ganz. Das
liegt letztlich an den Partnern, die zu diesem ganz speziellen Bund
gehören: auf der einen Seite Gott, dem die ganze Erde gehört, auf
der anderen Seite Menschen, die Gott geschaffen hat, die ihm also
auch gehören. Von gleichberechtigten oder auch nur eigenständigen
Vertragspartnern kann im Verhältnis von uns Menschen zu Gott also
gar nicht die Rede sein. Wir gehören ihm ohnehin und verdanken ihm
schlechthin alles. Wir haben ihm nichts anzubieten, was er nicht
auch ohne uns schon hätte. Wir könnten ihn durch nichts dazu bewegen,
einen Bund mit uns zu schließen, wenn er es nicht so haben wollte.

Das ist nun aber
genau der springende Punkt: Gott schließt einen Bund mit Israel
einzig und allein, weil er es will. An anderen Stellen im Alten
Testament sagt Gott es ganz deutlich: „Ich habe euch nicht zu meinem
Volk gemacht, weil ihr so wichtig und bedeutend wärt – im Gegenteil:
ihr seid das kleinste und unbedeutendste aller Völker. Ich habe
euch auch nicht zu meinem Volk gemacht, weil ihr mir so treu ergeben
seid und immer tut, was ich sage – im Gegenteil: ihr seid der halsstarrigste
und undankbarste Haufen, den man sich nur vorstellen kann. Nein,
ihr habt es nicht verdient, dass ich euer Gott bin. Wenn ich es
trotzdem bin und immer bleiben werde, wenn ich trotzdem einen unverbrüchlichen
Bund mit euch schließe, dann einzig und allein, weil ich euch lieb
habe.“

Kleine, aber bedeutsame
Zwischenbemerkung: Jetzt wird uns hoffentlich auch klar, warum uns
alles daran gelegen sein muss, dass dieser alte Bund mit Israel
auch angesichts des neuen Bundes in Christus seine Gültigkeit behalten
hat. Denn wenn Gott sein Verhältnis zu Israel wegen Ungehorsams
aufgekündigt hätte, was hätten wir dann wohl angesichts unseres
Ungehorsams zu erwarten, der wahrlich nicht kleiner ist?

Aber zurück zum
Bund vom Sinai: Gott nennt ihn „meinen Bund“. Er schließt ihn nicht
ab mit einem eigenständigen Partner, sondern er gewährt ihn – absolut
freiwillig und ungezwungen. Unter diesem Vorzeichen steht alles,
was unser Text zu diesem Bund ausführt.

Schon am Anfang
wird deutlich, dass Gott von sich aus in Vorleistung getreten ist:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich
euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Die
Befreiung aus der Sklaverei, die Rettung am Schilfmeer, die Führung
und Bewahrung bis hierher zum Sinai – all das ist allein Gottes
Werk. So wie es später auch mit der Sendung Jesu der Fall war. Wenn
wir Gott also als freie Menschen gegenübertreten können, dann deshalb,
weil er uns frei gemacht hat.

Als freie Menschen
tragen wir nun aber auch eine Verantwortung, nämlich „Gottes Stimme
zu gehorchen und seinen Bund zu halten“, also so zu leben, wie es
dem Willen Gottes entspricht. Die Zehn Gebote im nächsten Kapitel
bilden dafür eine gute Grundlage. Wohlgemerkt: Das ist nicht die
Bedingung, damit Gott den Bund mit uns eingeht, sondern es ist die
Konsequenz aus dem Bund, den Gott schon gewährt hat. Denn Gott hat
ein Ziel damit. Er möchte, dass seine Menschen „ein Königreich von
Priestern und ein heiliges Volk“ sind. Das heißt nicht, dass alle
Israeliten Priester oder alle Christen Pfarrer werden müssten, sondern
dass alle Menschen, denen Gottes Bund gilt, ganz und gar sein Eigentum
sein sollen – so wie der Heidelberger Katechismus es für uns Christen
formuliert: „dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben
nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre
… – von Herzen willig und bereit, fortan ihm zu leben.“

Das klingt nach
einem hohen und weitgesteckten Ziel, und wir fragen uns vielleicht,
wie wir es je erreichen sollen. Aber wenn wir uns klar machen, dass
wir ja schon jetzt Gottes Eigentum sind, wo ihm doch die ganze Erde
gehört, dann müssen wir eigentlich nur noch werden, was wir schon
sind – und dafür reicht die Freiheit, die Gott uns schenkt allemal
aus.

Das macht der
Schluss des Textes noch einmal deutlich. Denn man könnte ja denken,
wenn der Bund allein Gottes Sache ist, dann ist es doch völlig gleichgültig,
ob ich dazu Ja oder Nein sage, ob ich sozusagen meine Unterschrift
unter die Bundesurkunde setze oder nicht. Aber wenn es so wäre,
dann wären wir ja doch immer noch Sklaven und nicht Menschen, denen
Gott die Freiheit geschenkt hat. Deshalb ist es wichtig, dass der
Text mit der Zustimmung des Volkes schließt: Alles Volk antwortete
einmütig und sprach: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir
tun.“ Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder. Als Sklaven
hat Gott Israel aus Ägypten geführt, aber als freie Menschen sagen
sie nun Ja zu ihm und seinen guten Lebensweisungen. Und auch das
gilt im neuen Bund nicht anders als im alten: Wir sind, wie Paulus
sagt, „Sklaven der Sünde“; wir haben nicht die Freiheit, aus eigenem
Willen und eigener Kraft unsere Gottesferne zu überwinden. Aber
als Gott selber Mensch wurde, da hat er uns aus dieser Sklaverei
herausgeführt, und als freie Menschen können wir nun Ja sagen zu
ihm, wo und wann immer er uns begegnet. Und dann können wir auch
tun, was ihm gefällt.

Amen.