Predigt vom 17.7.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Talkirche, 17.7. 2011
Pfr.
Dr. Klein
Text: Gen 50,15-21

Die Beerdigung
des alten Herrn Jacobi war vorüber. Sie war das gewesen, was man
in Wien „a schöne Leich“ genannt hätte. Die große Backsteinkirche,
in der die Trauerfeier stattgefunden hatte, war bis auf den letzten
Platz gefüllt gewesen. Alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte,
ja sogar Polit-Prominenz aus Berlin war gekommen. Der Domchor hatte
gesungen, und der Bischof persönlich hatte die Predigt gehalten.
Und anschließend war eine lange Kolonne von schweren Limousinen
hinter dem Leichenwagen her zum Friedhof gefahren, wo der Patriarch
einer großen Familie in der Gruft seiner Ahnen zur letzten Ruhe
gebettet worden war, begleitet von Salutschüssen der örtlichen Schützenbrigade.

So ein Begräbnis
hatte die kleine Stadt in der ostdeutschen Provinz lange nicht erlebt.
Das lag weniger an der Person des Verstorbenen. Denn der hatte im
Ort zwar einiges Ansehen besessen, war aber nur ein einfacher Bauer
gewesen. Es lag auch nicht an seinen Söhnen aus erster Ehe, unauffälligen
Gestalten, schon mehr oder weniger grauhaarig, die mit ihren Frauen
und Kindern in schlichter schwarzer Kleidung dem Sarg folgten. Nein,
es lag an IHM, dem gut aussehen-den Mann im teuren Maßanzug, auffällig
– unauffällig eskortiert von breitschultrigen Gestalten mit Sonnenbrillen:
Prof. Dr. Dr. h. c. Johannes Jacobi, renommierter Wirtschaftswissenschaftler
und Staats-sekretär mit Sondervollmachten im Bundeskanzleramt. Sein
erfolgreiches Konzept zur Bewältigung der schwersten Wirtschaftskrise
der Nachkriegszeit hatte ihm sowohl die Bewunderung der Fachwelt
als auch das Vertrauen des deutschen Kleinsparers eingebracht und
ihn zur rechten Hand des Bundeskanzlers gemacht. Er hatte immer
als Sohn eines rheinischen Geschäftsmanns gegolten, der ihn adoptiert
und ihm sein Vermögen vermacht hatte. Erst vor wenigen Jahren war
bekannt geworden, dass er in Wirklichkeit aus einer ostdeutschen
Bauernfamilie stammte und in der DDR aufgewachsen war. Die Boulevardblätter
waren damals voll gewesen mit Bildern und Geschichten über das ergreifende
Wiedersehen mit seinem Vater und seinen Brüdern nach vielen Jahren
der Trennung. Und natürlich würden sie auch jetzt zu Tränen Rührendes
über die Beerdigung zu berichten haben.

Den Brüdern des
Herrn Prof. Jacobi ging dagegen ganz anderes durch den Kopf, als
sie mit finsteren Mienen vom Friedhof nach Hause gingen. Rudolf,
der Älteste, sprach schließlich aus, was sie alle dachten: „Jetzt
ist es so weit. Jetzt, wo unser Vater unter der Erde ist, wird er
uns alles heimzahlen!“

Die anderen nickten
nur. Sie wussten genau, was er meinte. Schließlich waren sie alle
dabei gewesen, damals, vor vielen Jahren. Und sie hatten alle mitgemacht.
Hatten ihn verprügelt, den Schönling, den Angeber, ihn getreten,
auf ihm herumgetrampelt in blinder Wut, hatten ihm die teuren Westklamotten
vom Leib gerissen, die der Vater für ihn, und nur für ihn, gekauft
hatte. Immer hatte er Johannes allen seinen Brüdern vorgezogen.
Denn er war das einzige Kind seiner zweiten Frau, die seine große
Liebe gewesen war. Sie war bei Johannes’ Geburt gestorben, und so
war ihr Kind das einzige, was ihm von ihr geblieben war. Also wurde
Johannes mit Geschenken überhäuft, und die Brüder gingen leer aus.
Johannes durfte die Oberschule besuchen, während die Brüder sich
auf den Feldern abrackern mussten. Johannes konnte sich alles erlauben,
und wenn er was ausgefressen hatte, bekamen die Brüder die Schläge
dafür. Kein Wunder, dass ihm das zu Kopf gestiegen war. Er hielt
sich für was Besseres, prahlte mit seinen Einser-Zeugnissen, schwelgte
in den tollsten Karriereträumen – und merkte nicht wie Wut und Neid
in seinen Brüdern langsam überkochten.

Eines Tages hatten
sie ihm dann aufgelauert, auf dem Heimweg von der Schule. Sie hatten
ihn ins Gebüsch unten am Fluss gezerrt. Und nachdem sie einmal angefangen
hatten, auf ihn einzuprügeln, hatten sie nicht mehr aufhören können.
Schließlich war Johannes bewusstlos geworden, und sie hatten geglaubt,
sie hätten ihn totgeschlagen. Voller Angst, dass alles rauskommen
würde, hatten sie ihn ins Wasser geworfen. Dem Vater hatten sie
nur erzählt, sie hätten seine Sachen am Fluss gefunden. Die Polizei
war zu dem Schluss gekommen, dass Johannes einem Verbrechen zum
Opfer gefallen sei – Täter unbekannt. Sein Leichnam wurde nie gefunden.

Den hatte es freilich
auch nie gegeben. Johannes war im kalten Wasser wieder zu Bewusstsein
gekommen und hatte sich trotz einiger gebrochener Rippen ans Ufer
retten können. Aus Angst vor seinen Brüdern hatte er sich nicht
mehr nach Hause getraut. Bei Nacht hatte er sich über die Landstraße
davon geschleppt. Ein LKW-Fahrer hatte ihn schließlich mitgenommen
und nach West-Berlin geschmuggelt. Dort hatte er eine Zeitlang in
übelsten Verhältnissen gelebt, bis ihn jener Geschäftsmann aus dem
Rheinland aufgegabelt hatte. Der erkannte, wie talentiert Johannes
war, gab ihm einen Ausbildungsplatz in seiner Firma, ließ ihn dann
das Abitur nachholen, finanzierte ihm sein Studium und adoptierte
ihn schließlich, weil er keine eigenen Kinder hatte. Und so machte
Johannes tatsächlich die Karriere, von der er immer geträumt hatte.

Die Brüder dagegen
wurden ihres Lebens nicht mehr froh. Äußerlich wahrten sie zwar
die Fassade, aber in ihnen nagten die Schuldgefühle. Und wenn sie
gehofft hatten, dass Johannes nun nicht mehr zwischen ihnen und
ihrem Vater stehen würde, so hatten sie sich getäuscht. Der alte
Jacobi blieb untröstlich in der Trauer um seinen Lieblingssohn,
und so bestimmte der als vermeintlich Toter ihr Verhältnis zu einander
noch stärker als zuvor.

So waren die Jahre
verstrichen. Die DDR war untergegangen, und die Brüder hatten den
väterlichen Hof wieder aus der LPG lösen können. Aber als dann die
schlimme Wirtschaftskrise gekommen war, hatten sie wie viele Bauern
vor dem Aus gestanden. Da hatte es sich begeben, dass der neue starke
Mann der Regierung, jener Prof. Dr. Jacobi, ihre Gegend bereiste.
Die Brüder hatten Unterschriften gesammelt, mit der sie um staatliche
Hilfsgelder baten. Und als sie die dem Herrn Staatssekretär überreichen
wollten, da hatte der sofort erkannt, wen er vor sich hatte. Unter
Tränen hatte er sich seinen Brüdern zu erkennen gegeben und Wiedersehen
mit seinem Vater gefeiert, der dieses Wunder kaum fassen konnte.
Und nicht aus Staatsgeldern, sondern aus seinem Privatvermögen hatte
er den väterlichen Hof saniert und Brüdern mit ihren Familien ihr
Auskommen gesichert. Über die Geschichte von damals hatte er kein
Wort verloren.

Aber jetzt war
der Vater tot. Und die alte Angst kroch den Brüdern wieder ins Genick.
Ihre Tat war zwar verjährt, aber wirtschaftlich und gesellschaftlich
konnte Prof. Jacobi sie immer noch ruinieren. „Wir müssen mit
ihm reden“, sagte Rudolf schließlich, „am besten sofort.“

Sie fragten im
Hotel nach ihm, aber dort hieß es, er habe eine Weile allein sein
wollen und sei spazieren gegangen. Doch wenn seine Brüder nach ihm
fragen würden: er sei unten am Fluss zu finden – sie wüssten dann
schon Bescheid!

Er hatte also
geahnt, dass sie kommen würden. Und der Ort, zu dem er sie bestellt
hatte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Mit klopfendem
Herzen und weichen Knien gingen sie zu der Stelle am Fluss, die
sie alle bestens kannten, auch wenn sie sich bis heute nie wieder
dorthin getraut hatten.

Johannes Jacobi
stand dort und schaute gedankenverloren aufs Wasser hinaus. Die
Brüder trauten sich zuerst nicht an ihn ran. Dann schickten sie
wie immer Rudolf vor – er hatte schon damals dem Vater die schlimme
Nachricht bringen müssen. Rudolf trat einen Schritt näher und räusperte
sich. „Johannes, wir müssen dir etwas sagen!“

Johannes drehte
sich um und schaute Rudolf an. „Das hab ich mir gedacht“,
sagte er, „also schießt schon los!“

„Nun“,
begann Rudolf und schlug verlegen die Augen nieder, „wir haben’s
ja hier im Osten nicht so mit der Kirche, aber unser Vater, der
war noch ein richtig frommer Mann. Wenn er gewusst hätte, was damals
wirklich passiert ist – hier an dieser Stelle – ich weiß nicht,
was er dann mit uns gemacht hätte. Aber jetzt, nach so langer Zeit
– da hätte er sicher gehofft, dass du uns vergibst.“

„Und ihr
glaubt, dass ich das nicht tue, nicht wahr?“ sagte Josef, und
seine Brüder merkten, dass er ganz rote Augen hatte. „Ihr glaubt,
dass ich jetzt wie Ben Hur oder der Graf von Monte Christo über
euch komme und Rache nehme!“

Die Brüder sagten
nichts, sondern nickten nur stumm.

Da erschien ein
trauriges Lächeln auf Josefs Gesicht. „Aber warum sollte ich
das tun?“ fragte er. „Glaubt ihr denn, ich hätte meine
Freude über unser Wiedersehen die ganze Zeit nur gespielt? Ja, es
stimmt, es war schlimm, was ihr mir angetan habt. Ich hab damals
wirklich gedacht, ich muss sterben, und ich habe danach üble Zeiten
durchgemacht. Aber ich habe auch erkannt, was für ein eingebildeter
Angeber ich war und wie sehr euch das gewurmt haben muss. Trotzdem
ist alles wahr geworden, wovon ich geträumt habe: Ich habe Karriere
gemacht, ich bin reich und ich habe Einfluss. Doch mir ist deutlich
geworden, dass ich das alles weder verdient habe noch für mich behalten
kann. Ich muss es mit anderen teilen, und das zuerst mit euch.

Ja, ihr habt Recht,
unser Vater war ein frommer Mann. Er hat immer geglaubt, dass unser
ganzes Leben in Gottes Hand liegt. „Denen, die Gott lieben,
müssen alle Dinge zum Besten dienen“, hat er immer gesagt.
Ich habe oft darüber nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen,
dass es tatsächlich so etwas wie Fügung gibt. Ihr hattet Böses im
Sinn, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen – für mich, für
unser Land und nicht zuletzt auch für euch. Gott hat euch – und
auch mir – längst vergeben, denn im Unterschied zu unserem Vater
liebt er uns alle gleich. Wer wäre ich denn, wenn ich nun nicht
tun würde, was Gott schon lange getan hat?“

Dann konnte er
nicht länger an sich halten und fiel Rudolf um den Hals. Und der
erwiderte seine Umarmung nach kurzem Zögern. So feierten sie endlich
Versöhnung – an der gleichen Stelle, wo sie sich vor so langer Zeit
entzweit hatten. Und wir dürfen uns vorstellen, dass Gott ihnen
dabei zufrieden zuschaute.

 

Die Brüder
Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen:
„Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten,
die wir an ihm getan haben.“ Darum ließen sie ihm sagen: „Dein
Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen:
Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie
so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns,
den Dienern des Gottes deines Vaters!“ Aber Josef weinte, als
sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen
vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte.“
Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich
denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber
Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist,
nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun
nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.“ Und er tröstete
sie und redete freundlich mit ihnen.

Amen