Predigt vom 18.9.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN DREIZEHNTEN
SONNTAG
NACH TRINITATIS

Pfr.
Dr. Martin Klein
Wenschtkirche, 18.9. 2011 (mit Taufe von Paul
Winkel)
Text: Mk 3,31-35

Wenn man den Umfragen
glauben darf, dann ist für uns Deutsche die Familie immer noch eins
der höchsten Güter. „Hauptsache, die Familie hält zusammen“, sagen
viele, wenn sie nicht gerade überzeugte Singles sind. Blut ist eben
dicker als Wasser, heißt es, und Familienbande sind stärker als
alle anderen. Vater, Mutter, Kind in fröhlicher Eintracht und immer
für einander da – das ist unser Ideal.

Dieses Ideal existiert
freilich nur in der Fernsehwerbung. Nicht nur, dass aus der Großfamilie
früherer Zeiten längst die Kleinfamilie geworden ist, die die Oma
nur noch ab und zu besuchen fährt. Heute werden immer mehr Kleinfamilien
zu Kleinstfamilien aus allein erziehender Mutter (oder Vater) und
Kind, zu so genannten Patchwork-Familien mit meinen Kindern, deinen
Kindern, unseren Kindern – oder zu mehr oder weniger fest liierten
Paaren, die gar keine Kinder haben. Aber auch in Familien, die äußerlich
im konservativen Sinne intakt sind, ist das Familienleben oft auf
Sparflamme reduziert. Tagsüber geht jeder für sich seiner Beschäftigung
nach – zur Arbeit, zur Schule oder zum Kindergarten, und abends
sitzt jeder vor seinem eigenen Fernseher oder Computer oder kümmert
sich um die eigenen Freunde und Hobbys. Und wenn man dann doch mal
längere Zeit miteinander verbringt – im Urlaub zum Beispiel -, dann
geht man sich entsetzlich auf die Nerven. Dabei habe ich die so
genannten „Problemfamilien“ mit ihren gewalttätigen Eltern und verwahrlosten
Kindern noch gar nicht mitgerechnet. Und obwohl sich auch in der
Politik alle immer gern familienfreundlich geben, ist die Gründung
einer Familie hierzulande eine der sichersten Methoden, um sich
finanziell zu ruinieren. Wer richtig Geld und Karriere machen will,
bleibt jedenfalls besser kinderlos. Also habe ich manchmal das Gefühl,
dass die gute, alte Vater-Mutter-Kind-Familie eine aussterbende
Lebensform ist – allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. In fünfzig
Jahren gibt’s so was vielleicht gar nicht mehr.

„Das geht doch
nicht!“ mögen Sie jetzt denken. Die Familie ist doch die Keimzelle
jeder funktionierenden Gesellschaft: Kinder brauchen ihre Eltern,
am besten beide, damit sie ihnen den Weg ins Leben zeigen; und Eltern
brauchen ihre Kinder, damit sie im Alter versorgt sind und jemand
für ihre Rente aufkommt!“ So steht es doch schon in den Zehn Geboten:
„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem
Land, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ Und in Psalm 127
heißt es: „Kinder sind eine Gabe des HERRN, und Leibesfrucht ist
ein Geschenk.“

Ich gebe Ihnen
ja Recht, wenn Sie so denken. Ich bin schließlich auch ein Familienmensch
und kann mich nur schwer damit abfinden, dass sich die Familienbande
immer mehr auflösen. Dem kleinen Paul wünsche ich, dass er das nie
erleben muss – seinen Eltern natürlich auch. Und ich bin auch immer
noch überzeugt, dass jeder Mensch eine Familie braucht. Aber so
wie die Dinge nun einmal stehen, sollten wir uns an die auch schon
biblische Erkenntnis erinnern, dass diese Familie nicht unbedingt
die leibliche Verwandtschaft sein muss. Dazu müssen wir nur den
heutigen Predigttext lesen. Er steht im Markusevangelium, in Kapitel
3:

Und es kamen
Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm
und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen
zu ihm: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern
draußen fragen nach dir.“ Und er antwortete ihnen und sprach: „Wer
ist meine Mutter und meine Brüder?“ Und er sah ringsum auf die,
die um ihn im Kreise saßen, und sprach: „Siehe, das ist meine Mutter
und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein
Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Eigentlich ist
das unerhört, was hier passiert. Da ist die Familie von Jesus den
ganzen weiten Weg von Nazareth nach Kapernaum gelaufen, über staubige
Straßen und durch Sonnenhitze, und dann lässt der sie eiskalt abblitzen.
Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren erwachsenen Sohn oder Tochter
besuchen und würden nicht einmal rein gelassen! Und als Begründung
bekämen Sie zu hören: „Meine Mutter? Mein Vater? Kenn ich nicht!
Meine Freunde hier, die sind meine Familie!“ Ich bin schon vielen
Eltern begegnet, denen es so ähnlich ergangen ist: Da hat man die
Kinder mit viel Mühe groß gezogen, und dann wollen sie plötzlich
nichts mehr von einem wissen. Ich kann sie verstehen, wenn sie darüber
verbittert sind. Aber hätten Sie so etwas von Jesus erwartet? Gilt
denn nicht auch für ihn das Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren“?

Wenn man im Markusevangelium
etwas zurückblättert, dann kann man allerdings auch Jesus verstehen.
Denn aus Mk 3,21 lässt sich entnehmen, dass die Mutter und die Geschwister
Jesus nicht nur einfach aus familiärer Verbundenheit besuchen. Dort
heißt es, dass sie sich auf den Weg machen, um Jesus nach Hause
zu holen, notfalls mit Gewalt. Denn sie glauben, dass Jesus plötzlich
völlig verrückt geworden ist und dass sie ihm erst einmal seine
Flausen austreiben müssen. Sie können es nicht fassen, dass ein
erwachsener Mann von dreißig Jahren plötzlich alles stehen und liegen
lässt, um mit zweifel-haften Freunden als Prediger durchs Land zu
ziehen. Müsste er sich als ältester Sohn nicht eigentlich um seine
Mutter kümmern, die wohl schon verwitwet ist? Auf solches Unverständnis
stoßen viele erwachsene Kinder, wenn sie einen anderen Lebensweg
einschlagen als die Familie erwartet hätte. Und auch sie kann ich
verstehen. Aber würden sie es übers Herz bringen, ihre arme, alte
Mutter einfach vor der Tür stehen zu lassen?

Jesus richtet
sich freilich nach ganz anderen Maßstäben. Familiäre Pflichten sind
ihm nicht mehr wichtig. Für ihn geht es allein darum, den Willen
Gottes zu tun. Der hat ihn ganz für sich in Anspruch genommen, als
er am Jordan getauft wurde: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich
Wohlgefallen habe.“ Und deshalb kann er jetzt nicht anders als durchs
Land zu ziehen und zu verkünden: „Kehrt um, denn das Reich Gottes
ist nahe herbeigekommen!“ Wenn die Familie das nicht akzeptieren
kann, dann muss er sich eben von ihr trennen. Aber Jesus ist dabei
nicht einsam geblieben. Viele hören ihm zu, viele lassen sich mitreißen
und spüren die Nähe Gottes, die von ihm ausgeht. Und etliche ziehen
auch mit ihm und teilen mit ihm das unstete Leben, das er führt.
Sie tun wie er den Willen Gottes, und deshalb sind sie seine wahre
Familie.

Seine Geschwister
haben das erst nach Ostern begriffen, als sie dem auferstandenen
Jesus begegneten. Bis dahin war er für sie immer nur der große Bruder,
mit dem sie aufgewachsen waren und den sie bestens zu kennen glaubten
– bis er dann plötzlich den Verstand verlor. Und auch Maria kannte
die ganzen Verheißungen noch nicht, die erst viel später mit der
Geburt Jesu verbunden wurden. Aber nach Ostern gehörten sie und
ihre Kinder auch mit zur neuen Familie Jesu – nicht der Blutsbande
wegen, sondern weil sie nun überzeugt waren, dass alles, was Jesus
tat und sagte, Gottes Wille war. Für diese Überzeugung gingen sie
nun gemeinsam durch dick und dünn, und mindestens einer seiner Brüder
ließ dafür später sogar sein Leben.

Es bleibt also
dabei: Eine Familie braucht der Mensch, aber es müssen nicht unbedingt
die leiblichen Verwandten sein. Und so hat sich die christliche
Kirche immer als „Familie Gottes“ verstanden. In der Gemeinschaft
von Christen zählt nur die Bindung an Gott durch Jesus Christus.
Alle anderen Bindungen müssen dahinter zurücktreten. Manchmal ist
Wasser also doch dicker als Blut, nämlich wenn es sich um das Wasser
der Taufe handelt. Paul ist heute in eine neue Familie aufgenommen
worden, in die große Gemeinschaft der Christen. Und auch wenn er
da nun erst noch hineinwachsen muss, kann ihn doch nichts mehr von
der Liebe Christi trennen, die diese Familie zusammenhält.

Das heißt natürlich
nicht, dass all die Winkels und Drucksens, die heute hier sind,
nun nicht mehr Pauls Familie sind. Und auch als erwachsener Christ
muss man nicht alle anderen Bindungen kappen, die einen sonst noch
mit Menschen verbinden. So läuft das in manchen Sekten, aber nicht
in der Gemeinde Jesu Christi. Doch es heißt, dass ich zu dieser
Gemeinschaft immer gehören kann, egal ob ich mit Familie oder als
Single lebe, egal, ob ich mich da, wo ich wohne, fremd oder zu Hause
fühle, egal, ob ich jung oder alt bin. Diese Gemeinschaft ist also
auch nicht abhängig davon, ob die Formen unseres Zusammenlebens
in Zukunft noch die gleichen sein werden, die wir gewohnt sind.

„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine
Mutter“, sagt Jesus. „Wer den Willen Gottes tut“ – das heißt
auch für uns als Familie Gottes in Klafeld und Umgebung, dass die
Gemeinschaft der Christen sich nicht für alle Zeiten auf die Menschen
beschränkt, die schon immer dabei waren. Eine Kirchengemeinde besteht
eben nicht nur aus denen, die irgendwo mitarbeiten, die regelmäßig
im Gottesdienst, in den Frauenkreisen oder in den Chören sitzen
und dabei immer wieder den gleichen Leuten begegnen. „Wer den Willen
Gottes tut“, das ist eine offene Größe. Als Jesus das sagte, waren
alle gemeint, die gerade zufällig um ihn herum saßen. Und heute
sind es mindestens alle, die getauft sind und einer christlichen
Gemeinde angehören. Oder sagen wir: sie könnten und sollten es zumindest
sein. Sie alle könnten zur Familie gehören. Eigentlich müsste uns
etwas fehlen, solange sie nicht dabei sind. Aber manchmal habe ich
den Eindruck, dass wir uns in unseren gewohnten Kreisen so wohl
fühlen, dass wir die anderen gar nicht so schrecklich vermissen.
Ich glaube, das ist gefährlich. Denn wir könnten dann eines Tages
feststellen, dass Jesus längst einen anderen Kreis um sich geschart
hat und wir plötzlich die Familie sind, die draußen steht und den
Anschluss verpasst hat. So weit sollten wir es nicht kommen lassen.
Und deshalb sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass die
Einladung Jesu allen Menschen gilt. Zu seiner Familie kann jeder
gehören. Und unsere Sache ist es, zu überlegen, wem wir diese Einladung
weitergeben könnten und wie wir das tun könnten. Dar-über wird in
unserer Gemeinde ja auch durchaus nachgedacht, und das ist gut so.
Ich wünsche uns dafür weiterhin Mut, Phantasie und gutes Gelingen
unter Gottes Segen. Und alle, die irgendwann mal getauft wurden,
aber sich bisher oder in letzter Zeit wenig aus ihren geistlichen
Familienbanden gemacht haben, die lade ich ein, zu entdecken, wie
Mut, Kraft und Trost sich daraus ziehen lässt, zur Familie Jesu
Christi zu gehören und seinen Willen zu tun.

Amen.