Predigt vom 23. November

PREDIGT FÜR DEN LETZTEN SONNTAG
DES KIRCHENJAHRS

Wenschtkirche, 23.11. 2008

Pfr. Dr. Martin Klein
Text:2.Kor 5,1-10

In der Konfi-Projektgruppe,
die diesen Gottesdienst mit vorbereitet hat, haben wir uns beim
letzten Mal mit dem Lied „Tears in Heaven“ beschäftigt – Sie haben
es vorhin gehört. Der Gitarrist Eric Clapton hat es geschrieben,
nachdem sein vierjähriger Sohn tödlich verunglückt war. Es nimmt
Fragen auf, die auch Konfirmanden haben, und viele von Ihnen, die
im letzten Jahr einen lieben Menschen verloren haben, sicher ebenfalls:
„Würdest du meinen Namen wissen, wenn ich dich im Himmel sähe?“
heißt es da. „Würde es wieder wie früher sein? Würdest du meine
Hand halten, mir helfen, dass ich aufrecht stehen kann?“ Fragen,
die ohne Antwort bleiben, auch in Claptons Lied. Trotzdem endet
es tröstlich: „Hinter der Tür ist Friede und Sicherheit, und ich
weiß: im Himmel wird es keine Tränen mehr geben.“

Aber ist das so?
Viele Bibeltexte und Kirchenlieder scheinen das anders zu sehen.
Danach ist noch gar nicht ausgemacht, ob wir nicht am Ende zu den
„törichten Jungfrauen“ gehören, die nicht bereit waren und deshalb
draußen vor der Tür bleiben. Denn da droht nach dem Ende unseres
Lebens oder unserer Welt Gottes strenges Gericht: Unser ganzes irdisches
Leben kommt dabei auf den Prüfstand, und es ist noch nicht entschieden,
ob wir am Ende mit Christus in den Himmel kommen, wo dann in der
Tat „Friede und Sicherheit“ sind, oder ob wir mit dem Satan in die
Hölle gehen müssen, wo „Heulen und Zähneklappern“ herrschen. Vielleicht
haben auch beide Unrecht, und mit dem Tod ist tatsächlich alles
aus, wie viele meinen. Vielleicht ist „hinter der Tür“ einfach gar
nichts, und die Erde ist der einzige Himmel, den wir haben.

Auch der Text,
über den ich heute predigen möchte, geht diesen Fragen nach: Was
wird sein, wenn unsere Lebenszeit abgelaufen ist, und wie wird es
sein? Er steht in einem Brief, den der Apostel Paulus an die Gemeinde
in Korinth geschrieben hat. Wir ahnen sicher schon, dass auch dieser
Text nicht alle unsere Fragen endgültig beantworten wird. Trotzdem
glaube ich, dass es sich lohnt, Paulus zuzuhören. Denn erstens hält
er keine Sonntagsreden, sondern er ist gerade erst selbst mit knapper
Not dem Tod entronnen. In Ephesus war das, und es war nicht das
erste Mal. Und zweitens lebt und schreibt Paulus aus einer Erfahrung,
die für ihn alle bisherigen Maßstäbe gesprengt hat: er ist dem auferstandenen
Christus begegnet. Ich lese 2. Kor 5,1-10:

Wir wissen:
wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben
wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht,
das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns
danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet
werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden.
Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert,
weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen,
damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber
dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist
gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange
wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln
im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben
vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem
Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind
oder in der Fremde, dass wir ihm wohl gefallen. Denn wir müssen
alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen
Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut
oder böse.

Der Tod ist die
Grenze auch für unsere sprachlichen Möglichkeiten. Deshalb fällt
es uns schwer, in Worte zu fassen, was wir nach dem Tod erwarten,
erhoffen oder befürchten. Paulus geht es nicht anders. Deshalb benutzt
er verschiedene Bilder. Er redet von der Hütte und vom Haus, vom
Nackt- und Bekleidetsein, von der Fremde und der Heimat. Zum Teil
überschneiden sich die Bilder, und das macht es schwierig, genau
zu verstehen, was er meint. Trotzdem sind mir die Bilder nah, denn
sie sind zeitlos. Eines davon möchte ich mit Ihnen näher betrachten.
Es ist das Bild vom Haus als Symbol für unser Leben.

Als ich vor inzwischen
zwölf Jahren zum ersten Mal über diesen Text gepredigt habe, da
wohnten meine Frau und ich in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Bochum-Linden.
Wir hatten es dort bequem und ruhig und recht billig, mit netten
Nachbarn im Haus und viel Grün drum herum. Als ich aus meiner 12-Quadratmeter-Studentenbude
dort eingezogen war, kam es mir riesig vor. Aber spätestens, als
unsere Paula kam, wurde es eng. Das kombinierte Schlaf-, Arbeits-
und Kinderzimmer quoll über und war konzentrierter Arbeit nicht
besonders zuträglich, zum Duschen mussten wir immer erst die Wickelauflage
von der Badewanne hieven, und überall lag irgend etwas herum, was
sich nirgendwo sinnvoll verstauen ließ. Deshalb sehnten wir damals
den Tag herbei, an dem wir endlich eine schöne große Wohnung oder
gar ein Pfarrhaus bewohnen würden, wo jeder sein Zimmer hat und
vielleicht noch eins für Gäste übrig bleibt.

So ist es auch
mit dem Leben im Allgemeinen. Vom Mutterleib an zieht es allmählich
immer weitere Kreise und erschließt sich neue Lebensräume: Wir werden
geboren, lernen laufen, gehen zur Schule, machen eine Ausbildung,
finden einen Lebenspartner, bekommen vielleicht Kinder und später
Enkel, machen eventuell sogar Karriere. Immer wieder öffnen sich
uns neue Horizonte. Und immer wieder müssen wir dabei Lebensräume
hinter uns lassen, die uns zu eng geworden sind, die nicht mehr
zu uns passen. Das ist gut so. Aber geht es immer so weiter?

Jetzt, zwölf Jahre
später ist unser Wunschtraum längst in Erfüllung gegangen. Wir wohnen
in einem schönen Pfarrhaus mit viel Platz darin und drum herum und
kriegen ihn mit drei Kindern auch gut ausgenutzt. Aber eines Tages
wird es uns so gehen wie jetzt meinen Eltern. Die wohnen auch in
einem großen Haus. Früher, als meine Geschwister und ich und auch
meine Großeltern noch da waren, war es gerade groß genug und voller
Leben. Heute bewohnen es meine Eltern allein. Sie haben sich auf
zwei von vier Etagen zurückgezogen, und mit Hilfe einer tüchtigen
Putzfrau kommen sie noch ganz gut zurecht. Aber was passiert, wenn
es so eines Tages nicht mehr geht? Wer kümmert sich dann um sie?
Die Kinder? Ein Pflegedienst? Oder müssen sie gar in ein Altersheim?

Auch das gilt
genauso für das Leben im Großen und Ganzen. Es besteht aus einer
langen Reihe von Abschieden, und Abschied nehmen fällt immer schwer.
Anfangs heißt „Abschiednehmen“ noch „zu neuen Zielen aufbrechen“.
So nehmen Jugendliche von der Kindheit Abschied, Erwachsene vom
Elternhaus, Eltern und Berufsanfänger von der bisherigen Umgebundenheit.
Aber später sind es die anderen, die beim Abschied weiterziehen,
während man selbst zurückbleibt: Eltern müssen ihre erwachsenen
Kinder loslassen, Rentner ihren Berufe, Gebrechliche ihre Kraft
und Gesundheit, Pflegebedürftige die eigene Wohnung. Kleiner und
kleiner wird der Lebensraum, bis schließlich nur noch ein Bett bleibt,
und endlich gar nichts mehr.

Eine Hütte, ein
Zelt ist unsere irdische Behausung, sagt Paulus. Wie Nomaden in
der Wüste ziehen wir mit ihr von einem Ort zum anderen. Nirgendwo
können wir auf Dauer bleiben. Mag unser Zelt auch prächtig und stabil
sein – allmählich wird es doch zerschlissen von Sonne und Regen
und vom vielen Auf- und Abbauen, bis es irgendwann zusammenbricht
und sich nicht wieder aufbauen lässt.

Und dann? „Wir
wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir
eine Wohnung von Gott, ein ewiges Haus im Himmel, das nicht von
Menschenhand errichtet ist“ (V.1). „Wir wissen“, sagt Paulus. Woher
ist er sich so sicher? Eigentlich kann das doch gar kein Mensch
wissen. Paulus würde wahrscheinlich antworten: „Ich habe gesehen,
dass Jesus lebt, weil Gott ihn von den Toten auferweckt hat. Und
deshalb bin ich überzeugt, dass auch über uns der Tod nicht das
letzte Wort hat.“ Aber ich denke, dass es auch im Leben des Paulus
Momente gab, in denen er sich fragte, ob er sich damals vor Damaskus
nicht doch etwas eingebildet hat. Vielleicht würde er deshalb auch
sagen: „Dass ich meiner Sache so gewiss bin, liegt nicht an mir
selbst, sondern an Gottes gutem Geist, der mir diese Hoffnung schenkt.“
Deshalb nennt Paulus den Geist Gottes das „Unterpfand“, die „Anzahlung“
auf das, was noch kommt.

Den auferstandenen
Christus haben wir nicht gesehen, aber die Hoffnung, die Gottes
Geist bewirkt, die gilt auch für uns. Vielleicht ist er ja schon
dort am Werk, wo wir eine vage Ahnung davon bekommen, dass unser
Leben hier auf Erden nur ein Fragment ist, auch wenn es neunzig
Jahre und mehr dauert – ein Bruchstück eines größeren Ganzen, das
wir erst erkennen können, wenn wir die Grenze des Todes überschritten
haben. Ich glaube, dass aus dieser Ahnung Gewissheit werden kann,
wenn wir Gottes Wirken in Jesus Christus für uns wahr sein lassen.
Ich vertraue darauf, dass uns der Glaube eine Hoffnung geben kann,
die mit dem Tod nicht untergeht. Diese Hoffnung ist nicht unerschütterlich;
manchmal ist sie nur ein schwacher Schlimmer, aber sie trägt, weil
sie von Gott getragen ist.

Ein ewiges Haus
erwartet uns, eines, das nicht mit Händen gemacht ist, sagt Paulus.
Was für ein Haus wird das sein? Wie wird es aussehen? Paulus zeichnet
uns keinen genauen Grundriss, aber ein paar Konturen können wir
doch erkennen.

Eines ist besonders
wichtig: Es wird nicht irgendein Haus sein, sondern mein Haus, so
wie meine irdische Hütte auch nicht irgendeine sondern meine war.
Gott liebt mich so, wie ich bin, so unverwechselbar, wie er mich
erschaffen hat. Und wenn es so ist, dass Gottes Liebe über den Tod
hinausreicht, dann glaube ich, dass ich auch dann ich selbst sein
werde, die Person, zu der Gott Ja gesagt hat, ein für alle Mal.
Ich glaube nicht, dass alles wie früher sein wird. Aber dass ich
meinen Namen noch kenne, bei dem Gott mich gerufen hat, darauf vertraue
ich.

Wenn es aber so
ist, dass ich auch nach dem Tod ich selbst bleibe, weil Gott mich
auch weiter bei meinem Namen ruft, dann bleibe ich auch für mein
irdisches Leben verantwortlich und bin Gott dafür Rechenschaft schuldig.
Deshalb sagt Paulus: „Wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi
offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder
Böse, das er im irdischen Leben getan hat.“ (V.10) Das ist natürlich
keine angenehme Vorstellung, einem Richter gegenüberzustehen, der
nicht nur meine bekannten Wohl- und Missetaten vor Augen hat, sondern
der mich bis ins Innerste durchschaut. Ein Richter, der alles ans
Licht bringt, was ich bisher vor anderen verborgen habe, vielleicht
sogar vor mir selbst. Das kann und sollte uns durchaus einen gewaltigen
Schrecken einjagen. Aber stellen Sie sich vor, es wäre anders: Stellen
Sie sich vor, der Tod würde all das Unrecht endgültig unter den
Teppich kehren, das auf Erden ungesühnt bleibt! Wäre diese Vorstellung
nicht noch viel schrecklicher? Gott will nicht Rache nehmen, aber
er will Gerechtigkeit, und das ist gut so.

Und dann ist noch
eins wichtig: Paulus sagt, dass der Richter kein anderer ist als
Jesus Christus. Derjenige, der meine Schuld beurteilt, ist also
kein anderer als der, durch den Gott mich annimmt, wie ich bin.
Dann kann der Schrecken des Gerichts aber eigentlich nur ein Erschrecken
über mich selber sein: So verstrickt in Schuld bin ich, und so barmherzig
ist Gott trotzdem zu mir. Natürlich habe ich mehr davon, wenn mich
dieser heilsame Schrecken schon auf Erden packt – und meine Mitmenschen
auch. Aber sollte es im Gericht dafür wirklich zu spät sein? Sollte
dann nicht mehr gelten, dass Gott die ganze Welt mit sich versöhnt
hat?

Im Himmel werden
Friede und Sicherheit sein, und es wird dort keine Tränen mehr geben,
singt Eric Clapton. Wenn es stimmt, was Paulus schreibt, dann ist
das mehr als eine vage Hoffnung. Dann ist es eine Gewissheit, aus
der wir jetzt schon leben können – in der Verantwortung vor Gott
dem Richter und im Vertrauen auf seine grenzenlose Liebe.

Amen.

Predigt vom 27. Oktober

GOTTESDIENST
FÜR DEN EINUNDZWANZIGSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Wenschtkirche, 12.10. 2008
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: 1.Kor 12,12-27

Denn wie der
Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes
aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus.
Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir
seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit
einem Geist getränkt.
Denn auch der Leib ist nicht ein Glied,
sondern viele. Wenn aber der Fuß spräche: „Ich bin keine Hand, darum
bin ich nicht Glied des Leibes“, sollte er deshalb nicht Glied des
Leibes sein? Und wenn das Ohr spräche: „Ich bin kein Auge, darum
bin ich nicht Glied des Leibes“, sollte es deshalb nicht Glied des
Leibes sein ? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör?
Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch? Nun aber hat Gott
die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt
hat.
Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib?
Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge
kann nicht sagen zu der Hand: „Ich brauche dich nicht“; oder auch
das Haupt zu den Füßen: „Ich brauche euch nicht“. Vielmehr sind
die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen,
die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen,
die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen
achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen’s
nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren
Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern
die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen. Und wenn ein Glied
leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird,
so freuen sich alle Glieder mit.
Ihr aber seid der Leib Christi
und jeder von euch ein Glied.

 

Viele Glieder,
aber ein Körper, und das Ganze funktioniert nur, wenn alle Glieder
gut zusammenspielen. Das ist ein anschauliches, einleuchtendes Bild.
Schon lange vor Paulus wurde in verschiedensten Zusammenhängen davon
Gebrauch gemacht. Er musste es also nicht neu erfinden. Und außerdem
lag es ihm nahe, weil für ihn die Gemeinde ohnehin der Leib Christi
war. Wir alle, schreibt er, gehören dazu, weil wir getauft sind
und den Geist Gottes empfangen haben, und wir bestätigen und erneuern
diese Zugehörigkeit jedes Mal, wenn wir gemeinsam Abendmahl feiern.
Unterschiede zwischen Juden und Heiden, Freien und Sklaven, Männern
und Frauen, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten werden
dabei nicht gemacht. Alle gemeinsam bilden den Leib Christi, alle
zusammen sind der Ort, an dem Christus auf Erden gegenwärtig ist.

Ein Leib – viele
Glieder: zahllose Ausleger zu allen Zeiten der Kirchengeschichte
haben dieses Bild begeistert aufgegriffen. Früher wollte man damit
oft die bestehenden Verhältnisse zementieren, so nach dem Motto:
Jedes Glied hat seinen Platz, und wenn deiner nun mal eher unten
in der Hierarchie ist, sei zufrieden: auch du wirst gebraucht, und
vor Gott bist du nicht weniger wert als die oberen Ränge, die dir
nicht zustehen. Heute sieht man das Ganze eher demokratisch: Alle
sind verschieden, aber alle werden auch gebraucht. Jede und jeder
hat etwas einzubringen, und nur in gleichberechtigtem, eben „organischem“
Zusammenwirken kann es funktionieren.

Ein wunderbares
Bild also – gerade für Zeiten wie unsere, wo alle von „Beteiligungskirche“
reden und wo das Ehrenamt in der Gemeinde immer wichtiger wird.
Wer wollte also Paulus widersprechen? Genauso, wie er’s beschreibt,
so und nicht anders soll die Kirche sein – da sind wir uns einig,
und das quer durch Frömmigkeitsstile und Konfessionen.

Jedenfalls in
der Theorie. Wenn das schöne Bild jedoch Realität werden soll, ganz
konkret, ganz praktisch, dann wird’s schwierig. So war es schon
damals in Korinth. Da meinten nämlich bestimmte Gemeindeglieder,
dass sie gleicher seien als andere: „Uns hat der heilige Geist schon
vollkommen gemacht“, sagten sie. „Wir sind längst erhaben über die
Niederungen des irdischen Daseins. Wir beherrschen die Sprache der
Engel – was sollen wir uns da noch mit dem geistlichen Fußvolk und
ihren Skrupeln abgeben!“ Und die anderen fühlten sich entsprechend
minderwertig: „Über mich ist noch nie der Geist gekommen. Ich kann
nicht in Zungen reden. Ich kann keine Weissagungen von mir geben
und keine Kranken heilen. Also gehöre ich nicht richtig dazu und
bin nichts wert.“

Wer als Otto-Normal-Christ
aus der Landeskirche in die Calvary Chapel gerät, dem kommen vielleicht
heute noch solche Gedanken. Aber es gibt diesen Dünkel der besseren
Christen auch in ganz anderen Formen, und da müssen wir ganz schnell
wieder vor der eigenen Tür kehren. Da schauen dann zum Beispiel
die Aktiven aus der „Kerngemeinde“ auf die so genannten „U-Boot-Christen“
herab, die nur zu Weihnachten oder zur Konfirmation mal auftauchen
– obwohl die immerhin bewusst in der Kirche bleiben und einen Großteil
der Kirchensteuer zahlen, ohne die auch die „Kerngemeinde“ nicht
existieren könnte. Andersherum gibt es das allerdings auch. Da verweist
dann der Nicht-Kirchgänger auf seine Frömmigkeit und seinen achtbaren
Lebenswandel und hält sich deshalb für einen besseren Christen als
so manchen, „der jeden Sonntag in die Kirche rennt“.

Ich glaube allerdings,
dass die Einbildung der geistlichen Höhenflieger heute nicht unser
Hauptproblem ist. Das liegt eher beim mangelnden Zutrauen der Normalchristen.
Heute halten sich viel zu viele Gemeindeglieder für völlig unwichtig
und für absolut ungeeignet, die zentralen „Körperfunktionen“ der
Gemeinde wahrzunehmen. „Ich soll in der Gemeinde mitarbeiten, vielleicht
gar Presbyter werden?“ sagt da mancher, den man fragt. „Da hab ich
doch keine Ahnung von, und zum Gottesdienst gehe ich auch viel zu
selten, und überhaupt sollen da mal lieber die ran, die nicht so
sind wie ich“ – also jünger oder älter, erfahrener oder unverbrauchter,
konsensfähiger oder aufmüpfiger, je nachdem. – „Ich soll mich an
einem Bibelgespräch beteiligen?“ höre ich öfter. „Da kann ich doch
gar nicht mitreden!“ – Oder: „Ich soll ein Gebet sprechen? Machen
Sie das mal lieber, Herr Pastor, sie können das doch viel besser!“

Wie kommt es,
dass viele Gemeindeglieder sich so verstecken und ihr Licht unter
den Scheffel stellen? Sind sie wirklich alle so unbegabt? Das kann
ich nicht glauben! Oder wollen sie nur nicht so direkt sagen, dass
sie keine Zeit oder keine Lust zum Mitmachen haben? Das trifft es
wohl auch nicht, jedenfalls nicht immer. Ich denke, es sind zwei
andere Gründe, die hier die Hauptrolle spielen.

Zum einen haben
viele entweder noch nicht entdeckt, was gerade sie besonders gut
können, oder sie können sich nicht vorstellen, dass gerade ihre
Fähigkeiten in der Gemeinde gebraucht werden. Ihnen sei gesagt:
Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch von Gott mindestens eine besondere
Gabe mitbekommen hat. Und ich bin überzeugt, dass es keine Gabe
gibt, die Gott in seiner Kirche nicht gebrauchen kann. Also kann
ich uns allen nur immer wieder Mut machen, uns auf die Suche nach
unseren Gaben zu machen – am besten zusammen mit anderen, denn die
sehen manchmal mehr als wir selber. Und wenn wir sie dann gefunden
haben, die Gaben, dann wird uns schon etwas einfallen, wie wir sie
zur Ehre Gottes einsetzen können.

Und zum anderen
halten sich wohl viele so zurück, weil sie nicht erkennen, dass
es ihnen persönlich einen Gewinn bringen könnte, sich in der Gemeinde
zu engagieren. Dass es froh und zufrieden machen kann, sich zusammen
mit anderen für eine gute Sache einzusetzen. Dass es das Selbstbewusstsein
stärkt, wenn man merkt: „Ich kann ja was, und andere profitieren
davon.“ Dass es den Horizont erweitert, wenn man seinen Glauben
mit anderen teilt. Dass es gut tut, Teil einer Gemeinschaft zu sein,
die Halt gibt und Mut macht. Dass gemeinsame Ziele das Leben sinnvoller
machen. Und manches mehr.

Nun funktioniert
das alles natürlich nicht von selbst, und es kommt auch keine heile
Welt dabei heraus. Wo fehlbare Menschen wie wir an einer gemeinsamen
Sache arbeiten, da gibt es zwangsläufig auch Ärger, Streit und Missverständnisse,
die einem manchmal das Leben ganz schön schwer machen. Schon der
Apostel Paulus konnte ein Lied davon singen, und die Gemeinde Klafeld
kann es auch. Wahrscheinlich müsste der Organismus Gemeinde zwangsläufig
zugrunde gehen, wenn wir nicht, wie Paulus es tut, Christus mit
ins Bild nehmen. Wir sind die Glieder, sagt Paulus, aber der Körper
ist Christus. „Kirche – das sind wir“, sagen oder hören wir gern,
und es ist ja auch nicht falsch. Aber was uns und damit die Kirche
zusammenhält, das ist Jesus Christus selber, der auferstanden ist
und lebt und uns seinen heiligen Geist schenkt.

Das klingt jetzt
vielleicht wieder zu abstrakt und theoretisch. Aber man kann es
auch ganz konkret und praktisch sehen. Zum Beispiel, indem wir uns
als Kirche und Gemeinde bei allem, was wir tun, danach fragen, was
denn wohl Jesus dazu sagen würde. Ob wir so an Gott glauben und
von ihm reden, wie er von ihm geredet hat. Ob das, was wir tun und
lassen, der Liebe entspricht, die er uns vorgelebt hat und uns ins
Herz geben will. Und ob wir so in die Zukunft schauen, wie es der
Hoffnung auf Gottes Herrschaft entspricht, die er in uns geweckt
hat. Wenn wir das wirklich täten, würden wir manches besser und
vieles anders machen. Aber wir könnten es auch, weil er uns die
Kraft dazu gibt.

Genau das wünsche
ich auch unserer Kirchengemeinde: den Presbytern und Pfarrern, die
die Leitungsverantwortung tragen, den bezahlten Mitarbeitern und
den vielen Ehrenamtlichen, die Chöre, Gruppen und Kreise leiten,
Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit betreiben, sich um die Gebäude
oder die Finanzen der Gemeinde kümmern. Ich wünsche uns, dass wir
über den vielen Einzelheiten das Ganze nicht aus dem Blick verlieren.
Und dieses Ganze heißt nicht nur Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde
Klafeld und auch nicht nur Evangelische Kirche von Westfalen. Das
Ganze heißt Jesus Christus. Er ist der Leib, dessen Teile wir alle
sind. Er ist unser Anfang, unsere Mitte und unser Ziel. Gerade,
wenn wir auf ihn schauen, wird unser Blick frei für das, was hier
und jetzt zu tun ist. Lasst es uns anpacken in seinem Namen!

Amen.

Predigt vom 14. September

GOTTESDIENST ZUM KARTOFFELBRATFEST

17. Sonntag nach Trinitatis
FeG
Sohlbach, 14.9. 2008
Pfr. Dr. Martin Klein
Text: Eph 4,1-6

Das, was ich hier
in der Hand halte, liebe Geschwister, ist eine Kartoffel, eine der
nahrhaftesten Pflanzen der Welt.

Jetzt denken Sie
wahrscheinlich: „Dat wesse mir och, dat dat en Duffel es, do bruche
mr kin Pasduur zoo!“

Nun, ich weiß
natürlich, dass Sie das wissen. Aber versetzen Sie sich doch mal
300 Jahre in die Vergangenheit! Stellen Sie sich vor, Sie hätten
diese exotische Pflanze aus dem fernen Amerika noch nie im Leben
gesehen. Dann würden Sie wahrscheinlich ganz anders denken: „Wat?
Dat ronzlije, drecklije Denge sull mer easse kunn? Dat kaasde oos
net verzälln!“ Weil die Siegerländer Bauern damals so dachten, musste
die Obrigkeit sie zu ihrem Glück zwingen und den Kartoffelanbau
befehlen. Mit großem Erfolg allerdings. Denn schon bald wurde die
Kartoffel das Siegerländer Grundnahrungsmittel – von den
„Pellduffeln“ bis zum „Riewekooche“. Wahrscheinlich hätte es unsere
Gegend ohne die Kartoffel nie zu einer „Provinz voll Leben“ gebracht,
sondern wäre heute ein ziemlich entvölkerter Landstrich. Deshalb
wird die Kartoffel ja auch mit einem eigenen Fest bedacht – nicht
nur in Sohlbach und Buchen.

Vielleicht rutscht
jetzt mancher schon im Geiste unruhig hin und her und fragt sich,
warum der Pastor eigentlich heute eine Predigt über Kartoffeln hält.
Wo bleibt denn da der geistliche Nährwert?

Keine Sorge, auf
den komme ich sofort! Denn außer Land und Leute zu nähren, gelingt
der Kartoffel hier und heute noch etwas, das sonst äußerst selten
passiert: dass nämlich Landes- und Freikirchler, evangelische Gemeinden
und örtliche Vereine gemeinsam Gottesdienst feiern. Das schaffen
wir weder zu Weihnachten, noch zu Ostern, noch zu Pfingsten. Fast
sieht es so aus, als seien die Kartoffeln, die wir alle essen, und
vielleicht noch der Dank an Gott dafür, der einzige gemeinsame Nenner,
auf den wir uns verständigen können. Dann wär’s allerdings nicht
viel, was wir gemeinsam haben, und das wäre traurig. Aber gottlob
ist es anders, auch wenn uns das vielleicht nicht immer bewusst
ist. Es gibt nämlich eine Einheit zwischen allen Christenmenschen,
die so tief bzw. so hoch reicht, dass wir sie überhaupt nicht auflösen
können. Davon spricht der Bibelabschnitt, der für heute zum
Predigen vorgeschlagen ist. Er steht im Epheserbrief, im vierten
Kapitel. Dort schreibt ein Schüler des Apostels Paulus in dessen
Namen folgendes:

So ermahne
ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung
würdig lebt, mit der ihr berufen seid, in aller Demut und Sanftmut,
in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht,
zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein
Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung
eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater
aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.

Auch damals, am
Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus, war die Einheit der
Christen schon gefährdet; sonst müsste diese Ermahnung hier nicht
stehen. Weit verstreut waren die kleinen christlichen Gemeinden.
Sie standen unter äußerem Druck und waren deshalb in der Gefahr,
nur die eigenen Probleme zu sehen und die Gemeinschaft mit den auswärtigen
Geschwistern zu vergessen. Und außerdem: Die Generation, die Jesus
und die Anfänge noch erlebt hatte, starb jetzt allmählich aus. Deshalb
mussten die Christen sich darüber klar werden, was ihre gemeinsame
Basis war und wie man sie in Zukunft festhalten sollte. Darüber
gab es natürlich verschiedene Ansichten und entsprechend manchen
Streit.

Das ist seitdem
leider nicht anders und nicht besser geworden, trotz der ganz anderen
Situation, in der wir leben. Deshalb kann es wohl auch uns nicht
schaden, darauf zu hören, was der Epheserbrief zu sagen hat, um
die Einigkeit der Christen zu stärken.

Ich fange dazu
am besten von hinten an: „Es ist ein Gott und Vater, der da ist
über allen und durch alle und in allen“. Ein Gott hat Himmel
und Erde geschaffen. Einer durchdringt und umfasst alles, was lebt.
Einer ist der Vater aller Menschenkinder. Einer nur lässt die Kartoffeln
wachsen und „gibt Speise reichlich und überall“ (an der schlechten
Verteilung – nebenbei bemerkt – sind wir schuld). Darauf
können wir uns rasch verständigen – auch mit Juden und Muslimen.
„Wir glauben doch alle an denselben Gott“, sagen wir dann gern.
Und das ist ja auch richtig: Wenn es nur einen Gott gibt, dann müssen
auch alle, die ihn verehren, diesen einen Gott meinen. Nur glauben
sie damit noch lange nicht alle dasselbe. Denn dazu müssten sie
ja Gott in seiner ganzen Größe erfassen können. Das kann aber keines
seiner Geschöpfe – so wie ein Fisch das Meer nicht erfassen kann,
in und von dem er lebt. Was wir von Gott erkennen, ist immer nur
ein kleiner Ausschnitt. Und diese Ausschnitte mögen sich vom einen
zum andern überschneiden, aber sie decken sich nie völlig. Nur der
Glaube an den einen Gott kann also die Einheit der Christen nicht
begründen – erst recht keine Einheit aller Religionen.

Dazu muss noch
etwas kommen: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“. Der „Herr“ ist
Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes. Der „Glaube“ ist
das Vertrauen auf Gottes Liebe, die sich darin zeigt, dass er unser
Menschsein auf sich genommen hat. Und die Taufe ist das sicht- und
spürbare Zeichen dafür, dass wir zu diesem Herrn gehören und den
Glauben an ihn teilen. Auch damit ist der eine Gott und Vater nicht
zur Gänze erfasst. Aber mehr brauchen wir über ihn gar nicht zu
wissen. Dass Gott die Liebe ist, und dass wir das an Jesus Christus
erkennen können, darauf zu vertrauen genügt im Leben und im Sterben,
das ist die Einheit, die uns alle verbindet. Und diese Einheit können
wir gar nicht zerstören, selbst wenn wir uns in noch so viele Konfessionen
zerspalten. Denn sonst müssten wir ja Gott selbst zerteilen können,
und das ist unmöglich.

Wir sind also
längst eins, sagt der Epheserbrief. Wir mögen unseren Glauben verschieden
leben und gestalten, wir mögen uns als Kirchen und Gemeinden unterschiedlich
organisieren, wir mögen uns aufgrund ganz menschlicher Probleme
streiten oder aus dem Weg gehen, aber es gibt für uns alle nur den
einen Christus, den einen Glauben, die eine Taufe, den einen heiligen
Geist, der uns mit Gott und untereinander verbindet. Das – und nicht
das Kartoffelbratfest – ist der eigentliche Grund, warum wir hier
gemeinsam Gottesdienst feiern. Aber auch, wenn wir alle in unserer
„eigenen“ Kirche sitzen, hier in der FeG oder in der Talkirche oder
im Wenscht oder in Buschhütten oder zu Hause vorm Fernsehgottesdienst
oder wo auch immer – auch dann haben wir teil an dem einen großen
Lobpreis Gottes, der die ganze Welt umspannt; auch dann werden unser
Dank und unsere Bitten ein Stück des einen großen Gebets, das zu
den Ohren Gottes dringt; auch dann gehören wir zum einen Leib Christi.

Na schön, denkt
jetzt vielleicht mancher, wenn das so ist, dann kann ja alles so
bleiben. Dann können wir Christen uns ruhig weiter gegenseitig belehren,
beneiden oder beargwöhnen – wenn wir irgendwie doch alle eins sind,
ist das ja gar nicht so schlimm. Das wäre aber falsch gedacht. Denn
wenn wir alle eins sind, dann muss das auch Konsequenzen haben –
ganz konkret im alltäglichen Christenleben. Und diese Konsequenzen
benennt uns der Ephesertext gleich zu Beginn: „ertragt einander
in Liebe“, heißt es da, „wahrt das Band des Friedens“, zeigt euch
der Berufung zum einen Leib Christi würdig, indem er „in Demut,
Sanftmut und Geduld“ miteinander umgeht.

Mir hat es von
diesen Ermahnungen vor allem eine angetan: „ertragt einander“. Dadurch
wird nämlich deutlich, dass es hier nicht um künstliche Harmoniesucht
geht, nicht darum, dass wir um des lieben Friedens willen alle Differenzen
unter den Teppich kehren. Wenn mich an meinen Mitchristen etwas
stört oder ärgert, soll ich das weder runterschlucken noch verdrängen,
sondern ich soll es erst einmal schlicht – ertragen. Erst wenn das
gelingt, kann ich anfangen zu verstehen, und erst wenn ich verstehe,
kann ich Störendes überwinden, Streit begraben und mit meinem Gegenüber
auch ganz praktisch einig werden.

Wahrscheinlich
müssen wir, die wir heute hier zusammen sind, uns in vielerlei Hinsicht
erst noch im „einander Ertragen“ üben. Das gilt zwischen Kirchengemeinde
und FeG, auch wenn wir uns Gott sei Dank schon näher gekommen sind
und einander besser verstehen als in vergangenen Zeiten. Das gilt
aber auch innerhalb unserer Kirchengemeinde, in der die Sohlbach-Buchener
aufgrund der belastenden Entscheidungen der letzten Jahre noch nicht
wirklich ankommen konnten. Auch da sind wir nach meinem Gefühl mit
dem „einander Ertragen“ schon vorangekommen. Vielleicht können wir
nun so langsam damit beginnen, einander auch zu verstehen und uns
dann gemeinsam auf den Weg machen. Schließlich ist es nach Epheser
4 auch eine Hoffnung, zu der wir berufen sind: dass nichts
mehr uns trennen möge, weder von Gott noch voneinander. Und an Gott
soll’s nicht liegen, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht.

Amen.

Predigt vom 10. August

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWÖLFTEN SONNTAG NACH
TRINITATIS

mit Taufe von Tim Edelmann, Chelsy Rick und
Vivien Samiev
Pfarrer Dr. Martin Klein
Talkirche, 10.8. 2008

Text: 1. Kor 3,9-15

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid
Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Ich nach Gottes Gnade, die mir
gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein
anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut.
Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher
ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber,
Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar
werden. Der Tag des Gerichts wird’s klar machen; denn mit Feuer
wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist,
wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf
gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen,
so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden,
doch so wie durchs Feuer hindurch.

Wissen Sie, warum evangelische Kirchen meistens
zugeschlossen sind? Nun, das hat unterschiedliche Gründe. Die Lutheraner
wollen nicht, dass jemand was hinausträgt; die Reformierten dagegen
fürchten, dass jemand was hineinbringt. Die einen sorgen sich um
ihre Kunstschätze, die anderen um ihre bild- und schmucklose Kargheit.

Das ist natürlich nur ein Witz. Aber einer
mit realem Hintergrund: Tatsächlich sind die meisten evangelischen,
aber auch etliche katholische Kirchen fest verschlossen, wenn nicht
gerade Gottesdienst ist. Bei einer alten Dorfkirche in Dortmund,
die ich mal besichtigen wollte, war sogar der Kirchhof mit einem
hohen Gitterzaun gesichert, und in die Fenstersimse waren Glasscherben
einbetoniert. Eine Kirche muss schon hohen Sehenswert besitzen,
wenn man sie zu bestimmten Zeiten besichtigen kann, aber auch die
sind oft eng begrenzt. Auch unsere Klafeld-Geisweider Kirchen sind
in der Regel zu.

Natürlich verstehe ich die Gründe dafür. Ich
weiß ja, wie gern auch in und um Kirchen herum geklaut, randaliert
und mutwillig zerstört wird. Entsprechend unruhig wird man, wenn,
wie jüngst in der Wenschtkirche, plötzlich irgendwelche Schlüssel
und Gegenstände verschwinden. Und man kann ja vom Küster oder Pastor
auch nicht erwarten, dass er immer parat steht, um potenziellen
Besuchern aufzuschließen. Trotzdem finde ich es schade, dass man
viele unserer Kirchen nur zu Gottesdienstzeiten betreten kann. Denn
unabhängig von ihrem Alter und ihrem kunsthistorischen Wert geben
Kirchen Zeugnis von einer Kultur, die vielen der Menschen, die heute
um sie herum leben, fremd geworden ist. Sie könnten ihnen Raum bieten,
um zur Ruhe zu kommen, an eine Geschichte anzuknüpfen, die auch
ihre ist, sich ihren Wurzeln zu nähern und so letztlich das Fundament
zu entdecken, von dem Paulus spricht: „Einen anderen Grund kann
niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Nun könnten Sie zwar zurecht einwenden, dass
der Glaube nicht an irgendwelchen Gebäuden aus Holz und Stein hängt.
Aber für mich sind die verschlossenen Kirchen auch nur ein Symptom
für einen tiefer liegenden Mangel, den ich an uns Christen heutzutage
wahrnehme: Wir haben über die Jahrhunderte hinweg einen großen Schatz
geerbt, nämlich das Evangelium von Jesus Christus, das allen Manschen
Heil und Leben verheißt. Aber wie unsere Kirchen halten wir auch
diesen Schatz, auf den sie hinweisen unter Verschluss – außer zu
besonderen und eng begrenzten Zeiten. Viele tun es wohl deshalb,
weil sie seinen wahren Wert nicht kennen, so dass sie gar nicht
erst auf den Gedanken kommen, dass dieser Schatz ihnen selbst oder
anderen etwas bedeuten könnte. Aber selbst diejenigen, die wissen,
wie wertvoll diese Botschaft ist, lassen die Schatztruhe zu. Vielleicht,
weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen, wenn sie anderen etwas
davon zeigen. Vielleicht, weil sie meinen, dass nur Experten – also
Theologen – damit ordentlich umgehen können. Vielleicht auch, weil
sie denken, dass die oder der es gar nicht verdient haben, diesen
Schatz zu Gesicht zu bekommen. Und so gleicht die Christenheit hier
und heute weithin einem Museum: zu bestimmten Zeiten werden sachkundige
Führungen angeboten, aber ansonsten beherbergt es Gegenstände, die
man als geschichtsbewusster Mensch zwar erhalten muss, aber im heutigen
Alltag nicht mehr gebrauchen kann. Kinder wie Tim, Chelsy und Vivien
haben so kaum eine Chance, den Glauben, auf den sie getauft sind,
kennen zu lernen und bewusst damit zu leben – obwohl wir ihnen das
doch heute versprochen haben.

Was müsste geschehen, damit sich das ändert?
Wie kann aus dem altehrwürdigen Bauwerk Kirche, das wir mit immer
weniger Erfolg gegen den Verfall sichern, wieder eine betriebsame
Baustelle werden? So eine wie die, von der Paulus im Predigttext
spricht: Wo alle mit anpacken, so dass der Bau Gottes wächst und
gedeiht? Ich finde, wir müssten dazu die Grundsätze wieder neu beachten
lernen, die Paulus aufstellt, um die Arbeit auf dem Bau Gottes zu
beschreiben. Wenn ich recht sehe, sind das vor allem zwei:

Der erste Grundsatz: Um das Fundament müssen
wir uns keine Gedankten mehr machen. Denn das Fundament ist schon
da, und es hält und trägt seit 2000 Jahren: „Einen anderen Grund
kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“
In Jesus Christus sind Gott und Mensch miteinander versöhnt, ein
für alle Mal. Das heißt: Auf dieser Basis ist Glaube überhaupt erst
möglich: ein Band des Vertrauens zwischen mir und Gott. Nur auf
dieser Basis macht es Sinn, Kinder zu taufen und ihnen Verheißungs-
und Segensworte mitzugeben. Nur auf dieser Basis können wir so etwas
wie Kirche bauen: eine Gemeinschaft von Menschen, die Gott in ihrer
Mitte hat. Es heißt aber auch: abseits von diesem Fundament müssen
wir mit unseren Bauwerken scheitern. Wenn die Kirche ihr Fundament
vergisst, wenn sie nicht mehr auf Christus baut, sondern auf ihre
Unverzichtbarkeit für das Sozialgefüge oder auf ihre Meinungsführerschaft
in Sachen Wertevermittlung oder auf ihr Auch-dabei-Sein bei allem,
was gerade „in“ ist, dann kann sie nur noch Luftschlösser bauen,
die der Wind verweht, oder Sandburgen, die von der nächsten Flut
weggespült werden. Ich habe den Eindruck, dass solche zweifelhaften
Bauwerke in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, während
das eigentliche Fundament der Kirche immer mehr verschütt geht.
Es wäre also an der Zeit, es endlich wieder freizulegen. Das macht
sicher mehr Mühe und weniger Eindruck, als mal eben eine schöne,
bunte Kulisse hinzustellen. Aber wenn wir wirklich eine Kirche sein
wollen, in der auch unsere Kinder noch ein geistliches Zuhause finden,
dann sollten wir diese Mühe nicht scheuen. Gott wird sie nicht unbelohnt
lassen.

Und der zweite Grundsatz: „Wir sind Gottes
Mitarbeiter“. Auf Baustellen sind Leute, die nur herumstehen und
zuschauen, nicht willkommen, denn sie bringen sich selbst in Gefahr
und sind eine Gefahr für andere. Deshalb hängt dort immer das Schild:
„Betreten der Baustelle verboten“. Auch auf Gottes Baustelle sind
bloße Zuschauer nicht gefragt. Allerdings heißt die Konsequenz dort
nicht: „Betreten verboten“ sondern „Mitmachen erwünscht“: Wer die
Baustelle betritt, der soll auch mit bauen. Denn anders als auf
einem gewöhnlichen Bau gibt es keinen, der nicht irgendetwas zum
Gelingen beitragen könnte. Da kann der eine gut reden, der andere
gut zuhören, der eine hat gute Ideen, der andere kann kräftig zupacken,
der eine kann nüchtern kalkulieren, der andere einfühlsam mit Menschen
umgehen – all diese Gaben und noch viele andere werden gebraucht.
Sicher gibt es dabei Tätigkeiten, die mehr oder weniger Gewicht
haben. Gemeinden zu gründen, wie Paulus es tat, war etwas anderes
als beim Abendmahl den Tisch zu decken. Und auch heute ist es wohl
eine größere Aufgabe, in einer Gemeinde Pfarrer oder Presbyter zu
sein als in seiner Straße den Gemeindebrief auszutragen. Trotzdem
ist es wichtig festzuhalten, dass vor Gott die großen und die kleinen
Aufgaben dasselbe Ansehen haben. Beide müssen treu erfüllt werden,
damit der Bau gedeiht. Was vor Gott mit der Größe der Aufgabe wächst,
ist nur die Größe der Verantwortung. Dazu hat Paulus mahnende Worte
zu sagen: „Ein jeder sehe zu, wie er baut, denn vor Gott wird das
Werk eines jeden offenbar werden.“ Und er rechnet damit, dass nicht
jedes Bau-Werk vor Gottes Gericht bestehen kann. Paulus nimmt also
nicht schon den guten Willen für die Tat, wie wir es bei Kirchens
so gern tun, sondern es geht ihm darum, dass jeder bei seiner Aufgabe
sein Bestes gibt. Das heißt vor allem: dass keiner das Fundament
aus den Augen verliert und jeder darauf so gut baut, wie er kann.
Und Paulus rechnet auch damit, dass die Qualität der Arbeit hier
auf Erden nicht unbedingt zu erkennen ist: da mag etwas wie Gold
glänzen und sich dann im Feuer des Gerichts doch als Heu und Stroh
entpuppen. Ich weiß also noch nicht, ob meine Arbeit als Pfarrer
vor Gott wird bestehen können. Und Sie als Eltern und Paten wissen
auch noch nicht, ob Ihnen das mit der christlichen Erziehung so
gelingt, wie Sie es heute bei der Taufe versprochen haben. Vielleicht
müssen wir zusehen, wie ein Großteil unseres Lebenswerks vor Gott
in Flammen aufgeht. Deshalb ist es mehr als ein kleiner Trost für
mich und für uns alle, dass wir selber nicht mit unserem Werk verbrennen
werden, wie Paulus sagt. Wir selber werden Gottes Gericht überstehen,
wenn auch sozusagen mit angesengten Haaren. Denn dass wir gerettet
sind für Zeit und Ewigkeit, das ist in Jesus Christus beschlossen
und besiegelt. Das ist uns allen seit unserer Taufe gültig zugesprochen.
Das ist das Fundament, das wir nicht mehr errichten müssen. Wir
sind verantwortlich für unser Tun und Lassen. Die Verantwortung
für unser Heil und Leben hat Gott auf sich genommen, weil wir sie
nicht tragen könnten. Deshalb muss uns unsere Verantwortung keine
drückende Last sein. Im Gegenteil: sie kann ein Ansporn sein, der
uns mehr erreichen lässt, als wir uns vorher zugetraut hätten. Und
auch das sagt Paulus: Gute Arbeit bekommt von Gott auch ihre Anerkennung.
Er weiß es durchaus zu schätzen, wenn wir auf seiner Baustelle mit
Eifer bei der Sache sind.

Zum Schluss eine kleine Anekdote, die uns
über das Gesagte vielleicht noch ein wenig weiter nachdenken lässt:
Drei Arbeiter an einer Dombauhütte werden nach ihrer Tätigkeit gefragt.
Der erste sagte: „Ich schleppe Steine aufs Gerüst und mauere sie
ein.“ Der zweite sagte: „Ich verdiene hier mein Geld.“ Der dritte
sagte: „Ich baue mit am Dom.“ Drei Antworten, drei Arbeitseinstellungen.
Welche wäre wohl die unsere?

Predigt vom 15. Juni – Festgottesdienst Wenscht

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST
ZUM WENSCHTER
SIEDLERFEST
UND ZUM 50-JÄHRIGEN BESTEHEN
DER EV. WENSCHTKIRCHE

Sonntag, 15.6. 2008, 9.30 Uhr, Ev. Wenschtkirche
Pfr.
Dr. Martin Klein

Thema: „Auf Adlerflügeln getragen“ (Ex 19,3b-8)

Und der Herr rief Mose vom Berg her zu:
„Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden:
Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch
auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. Jetzt
aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet
ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört
die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und
als ein heiliges Volk gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten
mitteilen sollst. Mose ging und rief die Ältesten des Volkes zusammen.
Er legte ihnen alles vor, was der Herr ihm aufgetragen hatte. Das
ganze Volk antwortete einstimmig und erklärte: Alles, was der Herr
gesagt hat, wollen wir tun. Mose überbrachte dem Herrn die Antwort
des Volkes.

„Auf Adlerflügeln getragen“ – das ist das
Motto, unter das wir diesen Gottesdienst gestellt haben. Ich weiß
nicht, welche Gedanken und Gefühle diese Worte bei Ihnen wecken.
Mich fasziniert es einerseits, wenn ich mir vorstelle, auf dem Rücken
eines starken Vogels durch die Lüfte zu fliegen. Denn das wäre ja
fast, als könnte ich selber fliegen, als könnte ich mich unbeschwert
hinauf schwingen, allem entkommen, was mich auf dem Erdboden niederdrückt
und bedrängt und irgendwo hinfliegen, wo ich wirklich frei und ungebunden
leben kann.

Andererseits wird mir bei dem Gedanken auch
ziemlich schwindelig. Denn ich kann ja nun mal selber nicht fliegen,
sondern höchstens von weit oben runterfallen. Ich bin also völlig
darauf angewiesen, dass auf den Adler Verlass ist, der mich trägt.
Dass er mich nicht irgendwann einfach abschüttelt, weil ich ihm
zu schwer oder zu lästig bin. Und dass er mich nicht in einen Horst
irgendwo auf einer Felsnase schleppt, sondern mich an einem Ort
absetzt, von dem ich mich auf meinen zwei Beinen auch wieder wegbewegen
kann.

Noch faszinierender und Schwindel erregender
muss diese Vorstellung zu Zeiten gewesen sein, als man noch keine
Flugzeuge und Hubschrauber kannte, als es eine Rettung von oben
aus horizontal auswegloser Lage eigentlich gar nicht gab und man
sich deshalb um so mehr danach sehnte. Unsere Mythen, Märchen und
Sagen bis hin zur Fantasy-Literatur von heute sind deshalb voll
von solchen Geschickten: Dädalus und Ikarus, die sich selber Flügel
bauen, um der Gefangenschaft zu entkommen, Nils Holgersson, der
mit den Wildgänsen fliegt, Harry Potter, den der Phönix aus der
„Kammer des Schreckens“ trägt.

Auch in 2. Mose 19 wird das Bild von den Adlerflügeln
in diesem Sinne gebraucht: Immer wieder auf dem Weg von Ägypten
zum Berg Sinai hat Gott Israel aus auswegloser Lage gerettet. Als
sie alle in der Falle saßen – vor sich das Schilfmeer und hinter
sich die ägyptischen Streitwagen, da schickte er einen Wind, der
das Meer gerade lange genug zur Seite blies, um Israel trockenen
Fußes hindurch ziehen, die nachsetzenden Ägypter aber ertrinken
zu lassen. Als sie in der Wüste am verdursten waren, ließ er sie
Wasser finden; als sie Hunger litten, ließ er Manna und Wachteln
regnen. Als Räuberhorden über sie herfielen, verhalf er ihnen zum
Sieg über sie. Nun sind sie da angekommen, wo Gott sie haben wollte:
an seinem heiligen Berg, wo er einen Bund mit ihnen schließen und
ihnen seine Gebote, seine Regeln für ein Leben in Freiheit geben
will.

Ich weiß nicht, ob sich die Menschen, die
vor fünfzig Jahren bei der Einweihung dieser Kirche dabei waren,
auch in diesem Sinne „auf Adlerflügeln getragen“ gefühlt haben.
Viele von ihnen waren ebenfalls Flüchtlinge: der Rachsucht von Polen
und Russen entronnen, die selber durch Deutsche Schlimmes erlitten
hatten. Gerettet, wenn auch unter Verlust ihrer Heimat, wenn auch
nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen. Wieder sesshaft geworden
in einem freien Land und versorgt mit Arbeit, Brot und Wohnung,
wenn auch noch in bescheidenen Verhältnissen und oft beargwöhnt
von den Alteingesessenen. Viele von ihnen waren und sind Gott in
der Tat dankbar, dass er sie bewahrt und getragen hat in diesen
schweren Zeiten – das weiß ich aus zahlreichen Gesprächen. Und diese
Kirche, wie auch ein Jahr später das katholische Pendant, war ein
Ort, wo diese Dankbarkeit zum Ausdruck kommen konnte, wo man zusammen
mit dem neuen Zuhause auch eine neue geistliche Heimat finden und
die Gemeinschaft der Glaubenden pflegen konnte.

Doch an diesem Punkt bleibt der Predigttext
nicht stehen. Auf das „ihr habt gesehen“, auf das Bild von den „Adlerflügeln“
folgt ein „jetzt aber“. Israel bekommt für die Zukunft eine besondere
Stellung zugesprochen und damit eine besondere Aufgabe zugewiesen.
Dieses Volk, das so viel mit Gott erlebt hat, soll in besonderer
Weise sein Eigentum sein: „ein Reich von Priestern und ein heiliges
Volk“, das ganz und gar zu ihm gehört und auf seiner Seite steht.

Man kann das falsch verstehen, und gerade
hier im Siegerland gab und gibt es immer wieder Menschen, die es
falsch verstanden haben. Man kann es so auffassen, dass Israel und
in seinem Gefolge die Christenheit den Auftrag bekommt, sich abzusondern,
sich zu trennen von der „bösen Welt“. Dass sie nur im Kreis der
Eingeweihten nach innerer Heiligung streben soll, losgelöst und
unbekümmert von der Gottlosigkeit rings umher. Der Künstler Hermann
Kuhmichel, dem wir auch die eindrücklichen Sgraffiti in unserer
Kirche verdanken, hat an anderer Stelle im Wenscht einen solchen
Menschen in Bronze gegossen: den „Exklusiven“, ganz in sich gekehrt,
aber auch ganz allein – und inzwischen ziemlich zugewachsen und
vergessen.

Nein, so ist es nicht gemeint. Denn es geht
im 2. Buch Mose ja noch ein Satz voran. „Mir gehört die ganze Erde“
–  das sagt Gott zuerst, bevor er bestimmte Menschen in besonderer
Weise zu seinem Eigentum erklärt. Diese Menschen sollen also die
ganze Erde vor Gott vertreten – und umgekehrt Gottes Willen vor
der ganzen Erde. So wie es eben damals die Priester in Israel taten:
sie brachten die Opfer des Volkes und damit seine Schuld vor Gott
und Gottes vergebendes, Heil schaffendes Wort zurück zum Volk –
nicht nur für die anderen, sondern auch für sich selber. So verstanden,
sind also alle Israeliten und nach ihnen auch alle Christen Priester.
Sie gehören Gott genauso wie alle Menschen, sind also nicht heilig
im Unterschied zu irgendwelchen „Normalsterblichen“, sie haben lediglich
die besondere Aufgabe, in Wort und Tat „die Botschaft von der freien
Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“. So formuliert es evangelischerseits
die VI. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Und was
das zweite Vatikanische Konzil dreißig Jahre später über den „Apostolat
der Laien“ sagt, ist im Grunde nichts anderes.

Aber verlassen wir die Hochebene der theologischen
Erklärungen und Konzilsverlautbarungen und fragen uns dem Anlass
dieses Gottesdienstes entsprechend, was das alles denn ganz konkret
für uns hier im Wenscht bedeutet.

Erst einmal dies: Auch die ganze Wenschtsiedlung
gehört Gott: die alten Siedler und ihre jüngeren Nachkommen, die
„Ureinwohner“ und die später Gekommenen, die mit den Siegerländer
oder Wittgensteiner Wurzeln ebenso wie die mit den ostpreußischen
oder schlesischen, Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion
ebenso wie Migranten aus Kroatien, Italien oder der Türkei. Sie
alle sind Gottes Geschöpfe, sie alle sind Menschen, die er liebt.

Und zweitens das: Mitten in dieser Siedlung,
mal mehr auf dem „Hübbel“, mal mehr im Tal stehen nun seit (fast)
fünfzig Jahren zwei Kirchen, eine evangelische und eine katholische.
Ihre Aufgabe war es von Anfang an und ist es immer noch, nun auch
bewusst „Kirche mitten in der Siedlung“ zu sein. Sie sollen allen
Menschen in der Siedlung und darüber hinaus deutlich machen, wem
sie gehören und ihre ganze Existenz verdanken. Die Kirchen als Gebäude
sind dafür natürlich höchstens äußerliche Zeichen. Als solche mögen
sie wichtig, vielleicht sogar erhaltenswert sein. Aber Denkmäler
werden ja oft erst dann geschützt, wenn ihnen der Abriss droht,
weil sie keiner mehr braucht. So sollte es unseren Kirchgebäuden
nicht ergehen. Und dazu brauchen sie eine lebendige Gemeinschaft
von Menschen, die sich zu ihnen hält. „Die Kirche“, das sind nicht
nur ein paar Hauptamtliche, die als Dienstleister fungieren und
auf die man dann schimpfen kann, wenn man mit der Dienstleistung
nicht zufrieden ist, sondern das sind wir alle. Wir alle sind von
Gott in die Welt gesandt, die ihm gehört, um ihr seine Liebe zu
bezeugen. Nicht nur, indem wir ihnen sagen, dass Gott sie liebt,
sondern auch, indem wir es im täglichen Leben ganz praktisch werden
lassen. Indem wir gute Bürger und Nachbarinnen sind, denen die Nöte
ihrer Mitmenschen nicht egal sind, sondern die sich für sie einsetzen,
so gut sie können. Wenn das wieder mehr Menschen bewusst wird, wenn
wieder mehr getaufte Christen sich zu fragen beginnen, was sie denn
mit ihren Gaben tun können, um Gottes Liebe zu erwidern und sie
an ihre Nächsten weiterzugeben, dann muss uns um die Zukunft unserer
Gemeinden nicht bange sein, Dann werden wir es wieder erleben, dass
Gottes Adlerflügel uns tragen – hinaus in die Freiheit, hin zu den
Menschen, die uns brauchen, hin zu ihm selbst. Schwindlig muss uns
dabei nicht werden, denn Gott lässt und ganz bestimmt nicht fallen.
Und auf seinen Flügeln kommen wir sicher ans Ziel.

Amen.