Predigt vom 27. Oktober

GOTTESDIENST
FÜR DEN EINUNDZWANZIGSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Wenschtkirche, 12.10. 2008
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: 1.Kor 12,12-27

Denn wie der
Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes
aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus.
Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir
seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit
einem Geist getränkt.
Denn auch der Leib ist nicht ein Glied,
sondern viele. Wenn aber der Fuß spräche: „Ich bin keine Hand, darum
bin ich nicht Glied des Leibes“, sollte er deshalb nicht Glied des
Leibes sein? Und wenn das Ohr spräche: „Ich bin kein Auge, darum
bin ich nicht Glied des Leibes“, sollte es deshalb nicht Glied des
Leibes sein ? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör?
Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch? Nun aber hat Gott
die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt
hat.
Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib?
Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge
kann nicht sagen zu der Hand: „Ich brauche dich nicht“; oder auch
das Haupt zu den Füßen: „Ich brauche euch nicht“. Vielmehr sind
die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen,
die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen,
die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen
achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen’s
nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren
Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern
die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen. Und wenn ein Glied
leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird,
so freuen sich alle Glieder mit.
Ihr aber seid der Leib Christi
und jeder von euch ein Glied.

 

Viele Glieder,
aber ein Körper, und das Ganze funktioniert nur, wenn alle Glieder
gut zusammenspielen. Das ist ein anschauliches, einleuchtendes Bild.
Schon lange vor Paulus wurde in verschiedensten Zusammenhängen davon
Gebrauch gemacht. Er musste es also nicht neu erfinden. Und außerdem
lag es ihm nahe, weil für ihn die Gemeinde ohnehin der Leib Christi
war. Wir alle, schreibt er, gehören dazu, weil wir getauft sind
und den Geist Gottes empfangen haben, und wir bestätigen und erneuern
diese Zugehörigkeit jedes Mal, wenn wir gemeinsam Abendmahl feiern.
Unterschiede zwischen Juden und Heiden, Freien und Sklaven, Männern
und Frauen, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten werden
dabei nicht gemacht. Alle gemeinsam bilden den Leib Christi, alle
zusammen sind der Ort, an dem Christus auf Erden gegenwärtig ist.

Ein Leib – viele
Glieder: zahllose Ausleger zu allen Zeiten der Kirchengeschichte
haben dieses Bild begeistert aufgegriffen. Früher wollte man damit
oft die bestehenden Verhältnisse zementieren, so nach dem Motto:
Jedes Glied hat seinen Platz, und wenn deiner nun mal eher unten
in der Hierarchie ist, sei zufrieden: auch du wirst gebraucht, und
vor Gott bist du nicht weniger wert als die oberen Ränge, die dir
nicht zustehen. Heute sieht man das Ganze eher demokratisch: Alle
sind verschieden, aber alle werden auch gebraucht. Jede und jeder
hat etwas einzubringen, und nur in gleichberechtigtem, eben „organischem“
Zusammenwirken kann es funktionieren.

Ein wunderbares
Bild also – gerade für Zeiten wie unsere, wo alle von „Beteiligungskirche“
reden und wo das Ehrenamt in der Gemeinde immer wichtiger wird.
Wer wollte also Paulus widersprechen? Genauso, wie er’s beschreibt,
so und nicht anders soll die Kirche sein – da sind wir uns einig,
und das quer durch Frömmigkeitsstile und Konfessionen.

Jedenfalls in
der Theorie. Wenn das schöne Bild jedoch Realität werden soll, ganz
konkret, ganz praktisch, dann wird’s schwierig. So war es schon
damals in Korinth. Da meinten nämlich bestimmte Gemeindeglieder,
dass sie gleicher seien als andere: „Uns hat der heilige Geist schon
vollkommen gemacht“, sagten sie. „Wir sind längst erhaben über die
Niederungen des irdischen Daseins. Wir beherrschen die Sprache der
Engel – was sollen wir uns da noch mit dem geistlichen Fußvolk und
ihren Skrupeln abgeben!“ Und die anderen fühlten sich entsprechend
minderwertig: „Über mich ist noch nie der Geist gekommen. Ich kann
nicht in Zungen reden. Ich kann keine Weissagungen von mir geben
und keine Kranken heilen. Also gehöre ich nicht richtig dazu und
bin nichts wert.“

Wer als Otto-Normal-Christ
aus der Landeskirche in die Calvary Chapel gerät, dem kommen vielleicht
heute noch solche Gedanken. Aber es gibt diesen Dünkel der besseren
Christen auch in ganz anderen Formen, und da müssen wir ganz schnell
wieder vor der eigenen Tür kehren. Da schauen dann zum Beispiel
die Aktiven aus der „Kerngemeinde“ auf die so genannten „U-Boot-Christen“
herab, die nur zu Weihnachten oder zur Konfirmation mal auftauchen
– obwohl die immerhin bewusst in der Kirche bleiben und einen Großteil
der Kirchensteuer zahlen, ohne die auch die „Kerngemeinde“ nicht
existieren könnte. Andersherum gibt es das allerdings auch. Da verweist
dann der Nicht-Kirchgänger auf seine Frömmigkeit und seinen achtbaren
Lebenswandel und hält sich deshalb für einen besseren Christen als
so manchen, „der jeden Sonntag in die Kirche rennt“.

Ich glaube allerdings,
dass die Einbildung der geistlichen Höhenflieger heute nicht unser
Hauptproblem ist. Das liegt eher beim mangelnden Zutrauen der Normalchristen.
Heute halten sich viel zu viele Gemeindeglieder für völlig unwichtig
und für absolut ungeeignet, die zentralen „Körperfunktionen“ der
Gemeinde wahrzunehmen. „Ich soll in der Gemeinde mitarbeiten, vielleicht
gar Presbyter werden?“ sagt da mancher, den man fragt. „Da hab ich
doch keine Ahnung von, und zum Gottesdienst gehe ich auch viel zu
selten, und überhaupt sollen da mal lieber die ran, die nicht so
sind wie ich“ – also jünger oder älter, erfahrener oder unverbrauchter,
konsensfähiger oder aufmüpfiger, je nachdem. – „Ich soll mich an
einem Bibelgespräch beteiligen?“ höre ich öfter. „Da kann ich doch
gar nicht mitreden!“ – Oder: „Ich soll ein Gebet sprechen? Machen
Sie das mal lieber, Herr Pastor, sie können das doch viel besser!“

Wie kommt es,
dass viele Gemeindeglieder sich so verstecken und ihr Licht unter
den Scheffel stellen? Sind sie wirklich alle so unbegabt? Das kann
ich nicht glauben! Oder wollen sie nur nicht so direkt sagen, dass
sie keine Zeit oder keine Lust zum Mitmachen haben? Das trifft es
wohl auch nicht, jedenfalls nicht immer. Ich denke, es sind zwei
andere Gründe, die hier die Hauptrolle spielen.

Zum einen haben
viele entweder noch nicht entdeckt, was gerade sie besonders gut
können, oder sie können sich nicht vorstellen, dass gerade ihre
Fähigkeiten in der Gemeinde gebraucht werden. Ihnen sei gesagt:
Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch von Gott mindestens eine besondere
Gabe mitbekommen hat. Und ich bin überzeugt, dass es keine Gabe
gibt, die Gott in seiner Kirche nicht gebrauchen kann. Also kann
ich uns allen nur immer wieder Mut machen, uns auf die Suche nach
unseren Gaben zu machen – am besten zusammen mit anderen, denn die
sehen manchmal mehr als wir selber. Und wenn wir sie dann gefunden
haben, die Gaben, dann wird uns schon etwas einfallen, wie wir sie
zur Ehre Gottes einsetzen können.

Und zum anderen
halten sich wohl viele so zurück, weil sie nicht erkennen, dass
es ihnen persönlich einen Gewinn bringen könnte, sich in der Gemeinde
zu engagieren. Dass es froh und zufrieden machen kann, sich zusammen
mit anderen für eine gute Sache einzusetzen. Dass es das Selbstbewusstsein
stärkt, wenn man merkt: „Ich kann ja was, und andere profitieren
davon.“ Dass es den Horizont erweitert, wenn man seinen Glauben
mit anderen teilt. Dass es gut tut, Teil einer Gemeinschaft zu sein,
die Halt gibt und Mut macht. Dass gemeinsame Ziele das Leben sinnvoller
machen. Und manches mehr.

Nun funktioniert
das alles natürlich nicht von selbst, und es kommt auch keine heile
Welt dabei heraus. Wo fehlbare Menschen wie wir an einer gemeinsamen
Sache arbeiten, da gibt es zwangsläufig auch Ärger, Streit und Missverständnisse,
die einem manchmal das Leben ganz schön schwer machen. Schon der
Apostel Paulus konnte ein Lied davon singen, und die Gemeinde Klafeld
kann es auch. Wahrscheinlich müsste der Organismus Gemeinde zwangsläufig
zugrunde gehen, wenn wir nicht, wie Paulus es tut, Christus mit
ins Bild nehmen. Wir sind die Glieder, sagt Paulus, aber der Körper
ist Christus. „Kirche – das sind wir“, sagen oder hören wir gern,
und es ist ja auch nicht falsch. Aber was uns und damit die Kirche
zusammenhält, das ist Jesus Christus selber, der auferstanden ist
und lebt und uns seinen heiligen Geist schenkt.

Das klingt jetzt
vielleicht wieder zu abstrakt und theoretisch. Aber man kann es
auch ganz konkret und praktisch sehen. Zum Beispiel, indem wir uns
als Kirche und Gemeinde bei allem, was wir tun, danach fragen, was
denn wohl Jesus dazu sagen würde. Ob wir so an Gott glauben und
von ihm reden, wie er von ihm geredet hat. Ob das, was wir tun und
lassen, der Liebe entspricht, die er uns vorgelebt hat und uns ins
Herz geben will. Und ob wir so in die Zukunft schauen, wie es der
Hoffnung auf Gottes Herrschaft entspricht, die er in uns geweckt
hat. Wenn wir das wirklich täten, würden wir manches besser und
vieles anders machen. Aber wir könnten es auch, weil er uns die
Kraft dazu gibt.

Genau das wünsche
ich auch unserer Kirchengemeinde: den Presbytern und Pfarrern, die
die Leitungsverantwortung tragen, den bezahlten Mitarbeitern und
den vielen Ehrenamtlichen, die Chöre, Gruppen und Kreise leiten,
Kinder-, Konfirmanden- und Jugendarbeit betreiben, sich um die Gebäude
oder die Finanzen der Gemeinde kümmern. Ich wünsche uns, dass wir
über den vielen Einzelheiten das Ganze nicht aus dem Blick verlieren.
Und dieses Ganze heißt nicht nur Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde
Klafeld und auch nicht nur Evangelische Kirche von Westfalen. Das
Ganze heißt Jesus Christus. Er ist der Leib, dessen Teile wir alle
sind. Er ist unser Anfang, unsere Mitte und unser Ziel. Gerade,
wenn wir auf ihn schauen, wird unser Blick frei für das, was hier
und jetzt zu tun ist. Lasst es uns anpacken in seinem Namen!

Amen.