Predigt vom 23.8.2009

GOTTESDIENST FÜR DEN ELFTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

mit Taufe von Charlotte Pielach
und Amelie Bruch
Talkirche, 23.8. 2009
Text: Lk 18,9-14

Jesus sagte zu einigen, die sich anmaßten,
fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:

Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel,
um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der
Pharisäer stand für sich und betete so: „Ich danke dir, Gott, dass
ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher
oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und
gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“ Der Zöllner aber
stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern
schlug an seine Brust und sprach: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht
jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden;
und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Schon mancher fromme Mensch, der eine Predigt
zu diesem Text hörte, stand hinterher für sich und betete so: „Herr,
ich danke dir, dass ich nicht bin wie dieser Pharisäer!“ Denn Pharisäer
haben einen schlechten Ruf, und dieses Gleichnis Jesu scheint das
zu bestätigen: Pharisäer sind selbstgerechte Heuchler, von sich
und ihren frommen Leistungen eingenommen und voll hochnäsiger Verachtung
für all die armen Sünder, denen es nicht gelingt, sich an die Zehn
Gebote zu halten. Aber sie täuschen sich gründlich darin, weil sie
nicht wahrhaben wollen, dass kein Mensch aus eigener Kraft Gott
recht sein kann, sondern letztlich in die Bitte des Zöllners einstimmen
muss: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“

Lange Zeit hat man nicht gesehen, dass Jesus
hier das Bild des Pharisäers bewusst überzeichnet. Man hat aus diesem
Gleichnis und aus anderen Stellen der Evangelien ein Pauschalurteil
über alle Pharisäer, ja über alle frommen Juden gemacht, und man
hat damit fatalen Vorurteilen Vorschub geleistet. Aber diese Vorurteile
sind unfair und falsch. Denn die Pharisäer zur Zeit Jesu waren durchweg
anständige und ehrenwerte Leute, und das meine ich jetzt ganz ohne
Ironie. Für sie war die Torah, das Gesetz des Mose Gottes gute Weisung
für sein Volk. Und sie nahmen es besonders ernst, um sich dieser
großen Gabe würdig zu erweisen – ohne sich deswegen für unfehlbar
zu halten. Sicher wird es unter ihnen auch den einen oder anderen
selbstgerechten Heuchler gegeben haben. Aber sicher nicht häufiger
als, sagen wir mal, unter frommen Siegerländer Gemeinschaftsleuten
oder unter treuen Klafelder Kirchgängern.

Der „Pharisäer“, den Jesus uns hier schildert,
ist also eine Karikatur. Und wie alle guten Karikaturen stellt sie
einen Menschen nicht naturgetreu dar, aber sie hat einen wahren
Kern, der durch die Übertreibung deutlich werden soll. Jesus möchte
den Frommen unter seinen Zuhörern den Spiegel vorhalten. Es ist
durchaus Absicht, wenn sie erst einmal sagen: „Nein, so bin ich
nicht!“ Aber im zweiten Gedankengang sollen sie dann ins Nachdenken
kommen: „Halt: Könnte da nicht doch was dran sein? Hab ich nicht
tatsächlich etwas von einem solchen Pharisäer an mir?“

Und diese Frage lässt uns das Gleichnis bis
zum heutigen Tag stellen – uns, die wir keine frommen Juden sind,
aber mit Ernst Christen sein wollen. Wie gesagt, sind auch wir in
aller Regel keine selbstgerechten Heuchler und wollen es auch nicht
sein. Und doch hockt im Herzen eines jeden von uns ein kleiner „Pharisäer“.
Es braucht nur die passende Gelegenheit, und schon drängt er sich
ans Licht.

Zum Beispiel neulich in der Frauenhilfe: Ich
halte eine kurze Andacht über das doppelte Gebot der Liebe, das
Jesus einem Schriftgelehrten ans Herz legt: „Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen
Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Und ich erinnere daran, dass diese beiden Liebesgebote, nicht von
Jesus stammen, sondern aus dem Alten Testament, also schon jüdische
Gebote waren, bevor sie christliche wurden. Kommentar aus der Runde:
„Aber die halten sich ja nicht dran!“ Und dann kommt das ganze Elend
des Nahostkonflikts zur Sprache: Juden gegen Muslime, Palästinenser
gegen Israelis, Gewalt gegen Gewalt. Irgendjemandem fällt noch ein:
„Im Koran steht doch auch, dass man nicht töten soll, oder?“

Und schon sitzen wir in der „Pharisäer-Falle“:
Wir ereifern uns darüber, dass Angehörige anderer Religionen sich
nicht an ihre eigenen Gebote halten. Wir schütteln die Köpfe über
die Gewaltexzesse im fernen Orient oder im finsteren Afrika, vielleicht
auch in den Problemvierteln unserer Städte. Wir tun dies aus dem
sicheren Schoß eines Landes, in dem seit über sechzig Jahren Frieden
und Wohlstand herrschen, aus der vergleichsweise heilen Welt unserer
Familie, unseres Dorfes, unserer Gemeinde. Wir tun es als Menschen,
die dank Herkunft, Erziehung und Status noch nie mit dem Gesetz
in Konflikt gekommen sind, von gelegentlichen Strafzetteln mal abgesehen.
Wir tun es als Christen, die Gottes Gebote ernst nehmen und nach
Kräften danach leben. Und wir sind so beschäftigt mit der empörenden
Schlechtigkeit anderer Menschen, dass wir ganz vergessen, uns selber
auf den Zahn zu fühlen.

Wie wäre es denn, wenn ich nicht in einem
behüteten Elternhaus groß geworden wäre? Wenn ich eine Mutter gehabt
hätte, die es in keiner Beziehung lange aushält und ständig die
Partner wechselt und mich, ihr Kind, als Betriebsunfall betrachtet,
für den sie keine Liebe übrig hat? Wenn ich einen Vater gehabt hätte,
der den Frust über seine Arbeitslosigkeit im Alkohol ertränkt und
dann in seinen Hass auf die Welt und auf sich selbst an Frau und
Kindern auslässt? Wenn ich nie gelernt hätte, mich an Regeln zu
halten und immer vor die Glotze gesetzt und mit Süßigkeiten abgefüttert
worden wäre, um mich ruhig zu halten? Wie würde ich dann wohl jetzt
leben? Was würde aus Charlotte und Amelie werden, wenn sie solche
Eltern hätten? Was für Werte könnten sie später mal ihren eigenen
Kindern weitervermitteln? Und wie könnten sie jemals begreifen,
was die Bibel mit „Liebe“ meint und dass Gott sie lieb hat?

Oder wie wäre es, wenn ich in Israel oder
Palästina leben müsste? Wenn ich ständig Angst haben müsste, dass
der Mann neben mir an der Bushaltestelle einen Sprengstoffgürtel
trägt? Oder von der anderen Seite aus betrachtet: Wenn ich hinter
einer Mauer leben müsste, mindestens so undurchdringlich wie früher
in Berlin, abgeschnitten von der Außenwelt, ohne Chance, im Leben
irgendwie voranzukommen? Würde ich dann die Liebesgebote meiner
heiligen Schrift hoch halten? Oder sprängen mir nicht eher die Aufrufe
zur Gewalt gegen Ungläubige und Unterdrücker ins Auge? Denn die
stehen da ja auch – im Koran und in der Bibel!

Und schließlich? Wie sieht es aus, wenn ich
ehrlich in mich hineinhorche? Wie oft geschehen da in Gedanken und
Worten Dinge, für die andere ins Gefängnis kommen! Und selbst wenn
nicht: Könnte ich die Hand dafür ins Feuer legen, dass das immer
so bleibt? Dass ich mich nicht auf unlauterem Weg bereichern würde,
wenn die Gelegenheit günstig und der Gewinn hoch genug wäre? Kann
ich garantieren, dass ich nie zur Gewalt greifen würde, egal, was
man mir antut? Bin ich mir sicher, dass nichts und niemand meine
Ehe gefährden könnte? Und ist mein Glaube so stark, dass er jeder
Anfechtung standhalten würde?

Solche ehrliche Selbstprüfung ist unbequem
und deshalb unbeliebt. Aber sie ist sehr dazu angetan, uns auf den
Teppich zu holen und den kleinen „Pharisäer“ in uns zum Schweigen
zu bringen. Wir können dann nicht mehr selbstbewusst beten: „Ich
danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute!“ Sondern
höchstens: „Ich danke dir, Gott, dass du mich in Verhältnissen und
mit Menschen hast groß werden lassen, die mich davor bewahrt haben,
zum Räuber, Betrüger, Ehebrecher, Mörder zu werden. Und ich bitte
dich für alle, die dieses große Glück nicht hatten, dass du sie
aus den Teufelskreisen, in denen sie gefangen sind, herausfinden
lässt, dass du ihre Verhältnisse änderst und dass du auch mir zeigst,
was ich dafür tun kann, damit alle Menschen die gleichen Chancen
bekommen.“

Und dann, wenn der „Pharisäer“ in uns schweigt,
dann tun wir gut daran, zum „Zöllner“ zu werden und einzusehen:
„Ich bin kein besserer Mensch als alle anderen auch. Ich mag als
anständig und unbescholten gelten, aber ich weiß, wie oft das nur
Fassade ist und wie wenig ich mir dessen sicher sein kann. Es bringt
mich Gott nicht näher, wenn man mich für einen von den Guten hält.
Kein Weg führt von mir zu ihm. Ich kann nur hoffen, dass er zu mir
kommt, dass er mir Sünder gnädig ist und mich ihm recht sein lässt.“
Jesus sagt, dass diese Hoffnung begründet ist: „Dieser ging gerechtfertigt
hinab in sein Haus“, heißt es im Gleichnis. Und das gilt für jeden,
der es sich sagen lässt – für die Zöllner, aber auch für die Pharisäer.
Dafür steht Jesus selber ein: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen
und nicht die Gerechten.“ Dafür hat er gelebt, dafür ist er gestorben,
dafür hat Gott ihn auferweckt. Und wenn ich das für mich wahr sein
lasse, so, wie es mir von der Taufe an zugesagt ist, dann bleibt
mir zum Schluss nur noch folgendes Gebet: „Ich danke dir, Gott,
dass ich genauso bin wie all die anderen Menschen: ein Mensch, den
du liebst.“

Amen.

Predigt vom 19.7.2009

GOTTESDIENST FÜR DEN SECHSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Tal- und Wenschtkirche, 19.7.
2009
Pfr. Dr. Martin Klein
Text: Mt 28,16-20

In den Kirchen
hierzulande, bekanntlich auch in unserer Gemeinde, ist vieles in
Bewegung geraten: weniger Menschen, weniger Geld, weniger Verbundenheit
mit der Tradition – darauf muss reagiert werden. Vielen ist inzwischen
klar, dass wir nicht einfach mit ein paar Pfarrern und ein paar
Gemeindehäusern weniger so weiter machen können wie bisher. Wir
müssen uns vielmehr grundsätzliche Gedanken darüber machen, was
eigentlich unser Auftrag ist und wie wir ihn hier und heute am besten
umsetzen. Denn einfach von allem etwas und immer noch ein bisschen
mehr zu machen, das ging früher mal, aber das ist vorbei. Wir müssen
nicht nur überlegen, was wir tun, sondern auch, was wir lassen.

Aber genau an
dem Punkt geht der Streit los. Die einen sagen: „Die Aufgabe der
Kirche ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Und wenn man das
unseren Kindergärten, unseren Schulen, unseren Krankenhäusern zu
wenig anmerkt, dann lasst uns doch darauf verzichten!“ Die anderen
sagen: „Jesus hat uns zur Nächstenliebe aufgefordert. Also müssen
wir so nah wie möglich bei den Menschen und ihren Nöten sein. Dazu
brauchen wir keine teuren Orgeln und keine schlecht genutzten Gemeindehäuser
und auch nicht so viele Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen
für immer dieselben paar Leute.“ Unsere Gemeinde hat schon manche
solche Debatte hinter sich, andere haben sie noch vor sich. Patentlösungen,
mit denen alle zufrieden sind, scheint es da nicht zu geben.

Kann die Bibel
daran etwas ändern? Kann sie zur Klärung beitragen, uns aus fruchtlosen
Entweder-oder-Debatten befreien? Ich denke ja. Denn alt und vielstimmig
wie sie ist, liefert sie uns zwar keine fertigen Rezepte, aber sie
ist und bleibt unsere gemeinsame Basis. Und gerade weil sie so weit
weg ist von unseren Tagegeschäften, kann sie uns helfen, über den
täglichen Kram hinauszuschauen und das Wesentliche zu entdecken.
Daraus Schlüsse für hier und heute zu ziehen, das ist dann wieder
unsere Sache. Der heutige Predigttext, die letzten fünf Verse des
Matthäusevangeliums, sind dafür ein gutes Beispiel:

 

Aber die elf
Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden
hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige
aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: „Mir
ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und
macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Vaters
und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie halten alles,
was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende.“

 

Wir werden uns
schnell einigen können, dass dies eine der Kernstellen ist, wenn
es um den Auftrag der Kirche geht. Kaum irgendwo sonst in der Bibel
ist er so bündig und wirkmächtig formuliert wie hier. Jedenfalls
wenn man davon ausgeht, dass hier wirklich die ganze Kirche zu allen
Zeiten angesprochen ist und nicht nur die elf Jünger von damals.
So hat man es nämlich lange Zeit ausgelegt und dann den Text für
die eigene Gegenwart nicht so wichtig genommen. Erst als christliche
Missionare wirklich in alle Welt zogen, im 19. Jahrhundert, hat
man ihm die grundlegende Bedeutung zuerkannt, die er schon immer
hatte. Aber, und das ist paradox, gerade das hat dem Text nicht
gut getan. Man hat ihn „Missionsbefehl“ genannt und ihm damit ein
plakatives, aber irreführendes Etikett verpasst. Man hat ihn ehrfürchtig
auf einen Sockel gehoben und gesagt: „Jawohl, das ist es. Das ist
der Auftrag der Kirche.“ Dann hat man wieder nicht mehr so genau
hingeschaut. Befehl ist Befehl, hat man auch beim „Missionsbefehl“
gedacht, und Befehle müssen befolgt werden, mit allen Mitteln, die
zur Verfügung stehen. Die Folgen sind bekannt: In der Weltmission
wurde oft die Verkündigung des Evangeliums mit der Umerziehung zur
angeblich überlegenen europäischen Kultur verwechselt. Letztere
wurde widerspenstigen „Eingeborenen“ dann notfalls mit Gewalt aufgedrückt.
Und bei Missionsveranstaltungen hierzulande ist manche so genannte
„Bekehrung“ auch nur durch psychologischen Druck und nicht durch
den heiligen Geist zustande gekommen. Kein Wunder, dass lange Zeit
kaum noch jemand von Mission reden mochte, auch innerhalb der Kirche
nicht. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich das wieder
geändert. Eine wachsende Zahl von Menschen in unserem Land gehört
gar keiner Glaubensgemeinschaft mehr an. Das hat uns daran erinnert,
dass es zum Wesen der Kirche gehört, missionarisch zu sein. Und
es wurde uns bewusst, dass wir in Sachen Mission zu schnell das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Es ist also Zeit, den so
genannten „Missionsbefehl“ von seinem letztens etwas eingestaubten
Sockel herunterzuholen und noch mal genauer nachzufragen, was denn
da wirklich steht, und was es für uns heute bedeuten könnte. An
einigen ausgewählten Punkten möchte ich das jetzt tun.

Wenn ich den Text
lese, dann bleibe ich zuerst an einem kurzen Halbsatz hängen: „einige
aber zweifelten“ (V.17b). Das passt nicht ins gewohnte Bild. Befehlsempfänger
haben keine Zweifel – die gehorchen einfach und fragen nicht nach.
Aber die Jünger, die Jesus hier in alle Welt schickt, die haben
Zweifel: „Ist er das wirklich, der auferstandene Christus, oder
bilden wir uns das nur ein? Wie soll das zugehen – wir elf in alle
Welt? Sind wir überhaupt die Richtigen dafür?“ So, kann ich mir
vorstellen, haben sie gedacht. Und ich lerne daraus: Gott braucht
keine Helden für seinen Dienst an der Welt. Es dürfen und sollen
durchaus Menschen sein wie du und ich: Menschen, denen das Glauben
manchmal schwer fällt. Menschen, die sich ab und zu fragen, ob es
noch einen Sinn hat, in der Kirche zu bleiben oder sich gar für
sie einzusetzen. Menschen, die die Wahrheit nicht für sich gepachtet
haben, sondern gemeinsam mit anderen nach ihr fragen. Es sind solche
Menschen, denen, die schönen und kraftvollen Worte gelten, die dann
kommen. Das ist das Erste, und wir sollten es nicht vergessen.

Das zweite, woran
ich hängen bleibe, ist das Wort „zu Jüngern machen“. Ein ungewöhnlicher
Ausdruck, schon in der Bibel. Weil wir den Text so gut kennen, überhören
wir das meistens. Aber was ist denn das Besondere an dem Ausdruck
„Jünger“ – etwa im Vergleich mit „Christen“, „Gläubige“ oder „Kirchenmitglieder“?
Um das herauszubekommen müssten wir eigentlich das ganze Matthäus-Evangelium
noch einmal lesen. Wir müssten nachforschen, wie das Jünger-Sein
dort geschildert wird. Dann würden wir Folgendes feststellen:

Erstens: Jüngerinnen
und Jünger, das sind Menschen, die Jesus zu sich gerufen hat – nicht,
weil sie dafür besonders qualifiziert sind, sondern weil er sie
lieb hat und weil er mit ihnen zusammen sein möchte. Nichts anderes
wird uns in der Taufe zugesprochen: „Ich habe dich bei deinem Namen
gerufen, du bist mein.“ (Jes 43,1)

Zweitens: Jüngerinnen
und Jünger, das sind Menschen, die Jesus nachfolgen, die ihm zuhören
und etwas von ihm lernen möchten. Darin steckt das Entscheidende:
Jüngerinnen und Jünger sind keine fertigen Leute. Das griechische
Wort für sie heißt eigentlich „Schüler“. Und diejenigen, die andere
zu Jüngern machen, sind ja selbst Jünger Jesu. Dann sind sie aber
auch nicht die, die alles wissen und es den anderen nur eintrichtern
müssen. „Zu Jüngern machen“ heißt vielmehr: mit anderen zusammen
auf Jesus hören, mit ihnen gemeinsam immer neu danach fragen, was
er uns zu sagen hat. Deshalb heißt es ja auch nicht: „lehrt sie
alles halten, was ihr über mich wisst“, sondern: „was ich euch befohlen
habe“. Auch dazu müsste man jetzt wieder das ganze Evangelium lesen.
Man müsste zum Beispiel die Bergpredigt noch einmal neu durchbuchstabieren.
Ich denke, dass darin auch für unsere heutige Situation in Kirche
und Gesellschaft viel Stoff zum Nachdenken steckt.

Und drittens:
Jüngerinnen und Jünger sind Leute, die nun selber von Jesus losgeschickt
werden: hin zu den Menschen, denen seine Liebe gilt. Taufen sollen
sie, taufen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Sie sollen den Menschen damit zeichenhaft deutlich machen,
dass sie zu Gott gehören, und zwar zu Gott, wie er sich in Jesus
Christus offenbart hat und uns durch den Heiligen Geist nahe sein
will. Alles, was sie daran hindert, dürfen sie von sich abwaschen
lassen. Und lehren sollen die Jünger durch Wort und Tat: predigen,
aber auch Kranke heilen, von Gott reden, aber auch für die Menschen
da sein. Von beidem wird die Kirche also auch mit knapperen Ressourcen
nicht lassen können – weder in der Gemeindearbeit noch in der Diakonie
noch auf irgendeinem anderen Arbeitsfeld.

Und dann ist mir
noch ein letztes an diesem Text wichtig: Was der auferstandene Jesus
über den Auftrag seiner Jünger zu sagen hat, beginnt und endet mit
einer Zusage: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“
und: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ Einer Kirche,
die das nicht vergisst, der muss um ihre Zukunft nicht bange sein.
Nur sollte sie sich Gedanken machen, wo denn in ihr etwas von diesem
„ich bin bei euch“ spürbar wird – auch für Menschen, die nicht schon
immer dazu gehören. Dazu kann sie etwas beitragen, durch die Gestaltung
ihrer Gottesdienste oder ihrer Diakonie zum Beispiel, vor allem
aber, indem sie Gottes Zusage beim Wort nimmt und immer wieder um
seine Gegenwart bittet. Wir können darauf vertrauen, dass Gott solche
Bitten nicht enttäuschen wird.

Amen.

PREDIGT FÜR DEN PFINGSTSONNTAG

GOTTESDIENST FÜR DEN PFINGSTSONNTAG

Talkirche, 31.5. 2009
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Barmer Theologische Erklärung

Zu Pfingsten hat die Kirche Geburtstag. Von
jenem ersten Pfingstfest in Jerusalem an gerechnet wird sie heute
wahrscheinlich 1979 Jahre alt – kein rundes Jubiläum, aber doch
wie jedes Jahr ein Grund zum Feiern. Und zum Staunen. Denn auf ein
so langes Erdenleben war sie ja nicht angelegt. Die ersten Christen
rechneten allenfalls mit ein paar Jahren bis zu Jesu Wiederkunft.
Um trotzdem so alt zu werden, musste die Kirche sich vielfältig
wandeln und den jeweiligen Zeiten und Orten anpassen, sie musste
sich aber auch immer wieder auf ihr Wesen, auf den Kern ihres Glaubens
besinnen, um sich nicht in der Welt und an die Welt zu verlieren.

Ein solches Ereignis jährt sich genau heute
zum 75. Mal: Am 31. Mai 1934 wurde auf der ersten Bekenntnissynode
der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen-Gemarke die Barmer
Theologische Erklärung verabschiedet. Gegen die Irrlehre der Deutschen
Christen bekannten sich erstmals reformierte, lutherische und unierte
Christen gemeinsam zu Kernaussagen ihres Glaubens. Der Stellenwert
dieses „Bekenntnisses“ war bald schon wieder umstritten, besonders
bei den Lutheranern. Und doch war den evangelischen Kirchen in Deutschland
damit ein neuer Weg gewiesen, der sie zu ihrer ureigenen Sache rief
und schließlich, Jahrzehnte später, die Trennungen der Reformationszeit
überwand.

Wir sollten uns noch mal vor Augen führen,
wie es dazu kam:

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler
und machte sich sofort daran, alle Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens mit seiner Ideologie der „Volksgemeinschaft“ zu durchdringen.
Alle noch unabhängigen Organisationen sollten mit Staat und Partei
„gleichgeschaltet“ und straff nach dem „Führerprinzip“ organisiert
werden. In den evangelischen Kirchen schien Hitler damit leichtes
Spiel zu haben, denn die meisten ihrer Pfarrer und führenden Persönlichkeiten
waren stramm national und hatten die so genannte „Machtergreifung“
ausdrücklich begrüßt. Sie hielten es von sich aus für das Gebot
der Stunde, die Zersplitterung des deutschen Protestantismus zu
überwinden und eine einheitliche „Reichskirche“ zu schaffen, mit
einem lutherischen „Reichsbischof“ an der Spitze.

Diese Chance zur Gleichschaltung der evangelischen
Kirchen ergriffen die Nazis mit Hilfe der so genannten „Deutschen
Christen“. Die hielten Christentum und Nationalsozialismus für bestens
miteinander vereinbar und betrachteten Adolf Hitler als Werkzeug
Gottes zur Rettung des deutschen Volkes. Bei den ersten deutschlandweiten
Kirchenwahlen im Juli 1933 wurden sie von der NS-Propaganda massiv
unterstützt und errangen so 75 % der Sitze in den Presbyterien und
Synoden. Mit dieser überwältigenden Mehrheit wählten sie Hitlers
„Bevollmächtigten in Kirchenfragen“, den Königsberger Wehrkreispfarrer
Ludwig Müller zum Reichsbischof. Der machte sich sogleich rücksichts-
und charakterlos an das Werk der „Gleichschaltung“: Handstreichartig
wurden Landeskirchen unter deutschchristlicher Führung in die Reichskirche
eingegliedert, die evangelische Jugendarbeit wurde der HJ zum Fraß
vorgeworfen, und Pfarrer jüdischer Herkunft wurden schikaniert und
aus dem Dienst entfernt. Selbst von den radikalsten Äußerungen seiner
Leute, die die Abschaffung des Alten Testaments und die Predigt
eines „arischen Christus“ forderten, distanzierte sich Müller höchstens
halbherzig.

Das ging nun aber vielen zu weit – selbst
solchen, die politisch gegen das Nazi-Regime nichts einzuwenden
hatten. In der Kirche der altpreußischen Union, deren offizielle
Organe fest in der Hand der „Deutschen Christen“ waren, bildeten
sich freie Synoden, die ungeschmälert an Schrift und Bekenntnis
als Grundlage der Kirche festhalten wollten. Gemeinsam mit den noch
nicht gleichgeschalteten süddeutschen Landeskirchen erhoben sie
den Anspruch, die wahre „Deutsche Evangelische Kirche“ zu sein.
Um diesem Anspruch eine solide theologische und juristische Grundlage
zu verleihen, berief man für den 29. Mai eine Reichs-Bekenntnissynode
nach Barmen ein. 139 Delegierte aus fast allen deutschen Landeskirchen
kamen dort zusammen, darunter immerhin 55 Nichttheologen, allerdings
nur eine einzige Frau. Der Text der „Theologischen Erklärung“ stammte
hauptsächlich von dem reformierten Theologen Karl Barth, war aber
sorgfältig mit den beiden Lutheranern Hans Asmussen und Thomas Breit
abgestimmt. Trotzdem wurde auf der Synode noch viel darüber diskutiert
und am Wortlaut gefeilt. Am Ende nahmen die Delegierten die Erklärung
aber einstimmig an.

Es ging ihnen dabei ausdrücklich um eine innerkirchliche
Auseinandersetzung und nicht um politischen Widerstand. Auch die
Gestapo sah es so und ließ die Synode deshalb gewähren. Mancher
hätte sich auch schon damals und im Rückblick erst recht deutlichere
Worte gegen die Judenverfolgung gewünscht (nur das Problem der „nichtarischen“
Pfarrer tauchte mal am Rande auf). Aber immerhin war es eine klare
und deutliche Absage an die Deutschen Christen und dadurch auch
eine Absage an den totalitären Staat. „Wir verwerfen die falsche
Lehre“, heißt es in der 5. These, „als solle und könne der Staat
über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
menschlichen Lebens werden“. Christ und zugleich überzeugter Nazi
zu sein, das ging auf der Basis der Barmer Erklärung nicht mehr.

Nun kann man sich freilich fragen, was uns
das alles noch angeht. Die Hitlerei ist längst zu Ende und die „Deutschen
Christen“ sind zu Recht in der Versenkung verschwunden. Trotzdem
gehören die Barmer Thesen immer noch zu den Bekenntnisgrundlagen
der meisten evangelischen Landeskirchen, und das ist gut. Denn so,
wie sie formuliert sind, in enger Anlehnung an Worte der Bibel,
weisen sie über die konkrete Situation von damals hinaus und können
auch für uns wichtige Orientierung bieten. An ein paar Beispielen
möchte ich das noch kurz erläutern.

„Jesus Christus, wie er uns in der heiligen
Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören,
dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“
So lautet die grundlegende erste Barmer These unter Berufung auf
Johannes 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand
kommt zum Vater denn durch mich.“ Und sie fügt hinzu: „Wir verwerfen
die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer
Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch
andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes
Offenbarung anerkennen.“

Hochaktuell ist die Frage, was das eigentlich
für unseren Dialog mit anderen Religionen bedeutet. Um es vorweg
zu sagen: Ich halte es für dringend notwendig, dass wir diesen Dialog
führen – friedlich, gleichberechtigt und offen für das, was wir
über andere und von anderen lernen können. Aber wir sollten dabei
nicht hinter dem Berg halten, wo das Herz unseres christlichen Glaubens
schlägt, was und wer für uns die Wahrheit und das Leben ist. Natürlich
werden Juden oder Muslime daran Kritik üben – sonst müssten sie
ja Christen werden – , aber wenn wir uns ihnen gegenüber nicht klar
und deutlich zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes bekennen,
wie sollen sie uns dann ernst nehmen und wissen, wofür wir stehen?

Ein anderes Beispiel: „Die christliche Kirche“,
so lautet die dritte These, „ist die Gemeinde von Brüdern („Geschwistern“,
würden wir heute sagen), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament
durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat
mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie
mit ihrer Ordnung … zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist.
… Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt
ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel
der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen
überlassen.“

Niemand wird heute noch eine evangelische
Kirche nach dem „Führerprinzip“ organisieren wollen. Aber trotzdem
stehen wir immer wieder in der Gefahr, die Form der Verkündigung
oder der Kirchenordnung als bloße Verpackung zu sehen und sie unbedacht
dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Wir leben in einer Zeit, in
der die Wirtschaft das Maß aller Dinge ist? Dann muss auch die Kirche
mit Management-Methoden auf Vordermann gebracht werden. Wir leben
in einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft? Dann muss auch Kirche „Event-Charakter“
haben, um für den besonderen Kick zu sorgen. Wir leben in einer
Zeit des Individualismus, in der sich verbindliche Gemeinschaften
immer mehr auflösen und wo auch der Glaube zu einer diffusen Privatsache
verkümmert? Dann darf auch die Kirche keinem mehr zu nahe treten
mit unbequemen Ansprüchen und Forderungen. Sonst treten die Leute
womöglich aus, und uns fehlt die Kirchensteuer – da liegen unsere
Gleichschaltungs-Gefahren!

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich
bin froh über die Vielfalt unserer Kirche und will aus ihr keine
„Christliche Versammlung“ machen, bei der alles streng nach dem
Wortlaut (nicht unbedingt nach dem Geist) der Bibel reguliert ist.
Aber wenn wir immer nur kopf- und geistlos dem Zeitgeist hinterher
hecheln, sind wir nur noch peinlich. Eine Kirche, die den Leuten
nach dem Mund redet und ihnen keinerlei (Denk)Anstoß mehr bietet,
ist wird nicht mehr gebraucht. Abgesehen davon ist es ja noch nicht
mal das, was die Leute von uns wollen. Sie wollen wissen, wofür
wir stehen, sie suchen Orientierung, sie wollen, dass wir klare
Positionen beziehen, und sei es, um sich darüber ärgern zu können.
Mit dem ganzen Reichtum der biblischen Überlieferung hätten wir
ihnen dabei eine Menge zu bieten. Wir sollten es ihnen nicht vorenthalten.

Und noch ein letztes Beispiel: „Die Schrift
sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat,
in der noch nicht erlösten Welt … nach dem Maß menschlicher Einsicht
und menschlichen Vermögens … für Recht und Frieden zu sorgen. Die
Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser
seiner Anordnungen an. Sie erinnert an Gottes Reich, Gottes Gebot
und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden
und Regierten.“ Das sagt die fünfte Barmer These angesichts einer
Diktatur, deren totalitärer, menschenverachtender Charakter schon
erkennbar war. Ob man damals mehr und anderes hätte sagen müssen,
darüber kann man streiten. Nicht bestreiten kann man, dass wir heute
viel mehr Grund haben, so zu reden. Wir leben in einem freien und
friedlichen Land mit einer demokratischen Verfassung und einer verlässlichen
Rechtsordnung. Wo wir trotzdem etwas zu kritisieren haben, dürfen
wir das tun, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Und wenn
wir etwas verändern wollen, haben wir viele Möglichkeiten, uns dafür
einzusetzen. Beste Bedingungen also, um als evangelische Kirche
die Regierenden an Gottes Gebot zu erinnern. Dann, so finde ich,
sollten wir das aber nicht nur den Hubers oder Käßmanns überlassen,
die das ja im Großen und Ganzen ordentlich machen, sondern auch
selber in Wort und Tat Stellung beziehen, wo es nötig ist. Kein
Christ muss zum Beispiel sonntags einkaufen. Keiner muss mit umweltbewusstem
Handeln warten, bis es entsprechende Gesetze und Vorschriften gibt.
Keiner muss Produkte kaufen, die von indischen Kindern oder südamerikanischen
Bauern für Hungerlöhne hergestellt wurden. Und wir müssen auch nicht
in das billige Genörgel über „die da oben“ einstimmen, wenn wir
selbst nicht bereit sind, es besser zu machen.

Wir merken schon: Das, was die Barmer Theologische
Erklärung von der Bibel her zu sagen hat, ist auch nach 75 Jahren
nicht überholt. Wir dürfen getrost annehmen, dass der Heilige Geist
am Werk war, als 139 sehr verschieden geprägte evangelische Christen
sich darüber einig wurden und sie einstimmig verabschiedeten – fast
so ein Sprachenwunder wie zu Pfingsten in Jerusalem. Möge der frische
Geisteswind von damals auch zu uns herüberwehen und uns dorthin
treiben, wo Menschen unser Bekenntnis brauchen – in Wort und Tat.

Amen.

Predigt für das Osterfest

GOTTESDIENST FÜR DAS OSTERFEST

Talkirche, 13.4. 2009
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Lk 24,13-35

Es ist Ostern
in Siegen, morgens um neun. Ein schöner, lauer Frühlingstag hat
begonnen, wie man ihn sich zu Ostern wünscht. Deshalb hat Herr Hinz,
Bankangestellter und Presbyter in einer evangelischen Kirchengemeinde,
beschlossen, heute mal zu Fuß zum Gottesdienst zu gehen. Als er
das Haus verlässt, hört er vom Dach eine Amsel singen, und aus dem
Vorgarten leuchten ihm die Osterglocken entgegen. Frohgelaunt macht
er sich auf den Weg zur Kirche.

An der nächsten
Ecke trifft er Frau Kunze. Er kennt sie gut aus dem Gottesdienst,
denn die alt gediente Frauenhilfsfrau ist sie fast jeden Sonntag
da. „Frohe Ostern, Frau Kunze!“ begrüßt er sie. „Na, ist das nicht
ein herrlicher Frühlingsmorgen?“ – „Ach, Herr Hinz, ich kann mich
da heute gar nicht so richtig drüber freuen.“ Erst jetzt sieht Herr
Hinz, dass Frau Kunze tatsächlich ziemlich bedrückt aussieht. „Gerade
wenn ich sehe, wie jetzt wieder alles zu blühen anfängt, muss ich
an meinen Mann denken. Sie wissen ja, dass unser Garten sein Ein
und Alles war. Er hatte sich so auf die Gartenarbeit gefreut, als
er letztes Jahr in den Ruhestand ging, aber dann bekam er diesen
Herzinfarkt, und nun ist er schon drei Monate tot. Jetzt sitze ich
ganz allein in dem großen Haus, und ich weiß gar nicht, ob ich es
mir auf Dauer noch leisten kann, wo ich doch jetzt weniger Rente
kriege. Mein Sohn kann mir auch nicht helfen: Seiner Firma sind
die Aufträge weg gebrochen, und er rechnet jeden Tag mit der Kündigung.
Und meine älteste Enkelin kommt im Sommer aus der Schule. Sie müsste
sich mal langsam um eine Lehrstelle kümmern, aber sie hängt nur
rum und weiß überhaupt nicht, was sie will. Und wenn ich sie drauf
anspreche sagt sie: Ach, Oma, was hab ich denn in dieser Welt noch
für eine Zukunft! Ist das nicht bitter? Ich hab immer geglaubt,
mit Ehrlichkeit, Fleiß und Gottvertrauen kommt man gut durchs Leben.
Aber jetzt kommt es mir manchmal so vor, als ob Gott uns im Stich
gelassen hätte, und ich frage mich, womit wir das verdient haben.“

Dass Frau Kunze
ihm auf einen harmlosen Gruß so rückhaltlos ihr Leid klagen würde,
darauf war Herr Hinz nicht gefasst. Als sie fertig ist, hat sich
seine gute Osterlaune verflüchtigt. Er muss an letzten Montag denken.
Da hatte er als zuständiger Sachbearbeiter einem ortsansässigen
Betrieb weitere Kredite verweigern müssen. Sicher, er kannte die
Argumente dafür: miserable Bilanzen, viel zu hohe Betriebskosten,
kaum Entwicklungspotential und dann noch die schlechte Lage auf
dem Finanzmarkt. Aber trotzdem hatte er sich dabei ziemlich mies
gefühlt. Die Firma würde pleite gehen und schon wieder zwanzig Leute
ihre Arbeit verlieren. Und dann fällt ihm noch die letzte Presbyteriumssitzung
ein: Wieder 3 % weniger Gemeindeglieder als im letzten Jahr, und
der Haushalt nur noch mit Rücklagen zu decken. Für dringende Investitionen,
auch um Energie zu sparen und das Klima zu schonen, fehlt das Geld.
Es sei denn eins der beiden Gemeindehäuser wird geschlossen und
verkauft – aber was das dann für einen Aufstand gibt! Herr Hinz
ertappt sich einmal mehr bei dem Gedanken, warum er sich eigentlich
immer noch für eine Kirche abrackert, die nur noch Löcher stopft,
sich ständig unglaubwürdig macht, und deshalb gerade bei jungen
Menschen auf kein Interesse mehr stößt. Weil ihm das so durch den
Kopf geht, versucht er gar nicht mehr, Frau Kunze aufzumuntern.
Er sagt nur: „Ich kann Sie gut verstehen, Frau Kunze, mir geht es
oft ganz genauso.“ Und so setzen sie ihren Weg zur Kirche fort,
nun beide in dunkles Grübeln versunken.

Plötzlich hören
sie, wie sie von der Seite jemand anspricht: „Guten Morgen und frohe
Ostern! Warum machen Sie denn so traurige Gesichter?“ Da sehen sie
erst, dass noch jemand neben ihnen hergeht. Sie waren so in ihre
trüben Gedanken vertieft, dass sie gar nicht mitbekommen haben,
wie er zu ihnen gestoßen ist. Sie haben ihn beide noch nie gesehen,
aber er hat ein freundliches Gesicht, das Vertrauen erweckt.

„Na, Sie scheinen
ja wenig davon mitzubekommen, was zur Zeit los ist, wenn Sie noch
so fröhlich sind“, sagt Herr Hinz. Seine eigene gute Laune von vorhin
hat er bereits gründlich vergessen. „Die Wirtschaftskrise. Die Klimakatastrophe.
Überall Krieg, Terror und Elend. Und keiner weiß ein Mittel dagegen,
auch die Kirche nicht – die wird immer kleiner und geht pleite.
Manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich noch an einen Gott
glaube, der anscheinend auch nichts dagegen tun kann und von dem
deshalb niemand mehr etwas wissen will.“ Und Frau Kunze fügt hinzu:
„Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meiner Enkel. Und ich
vermisse meinen Mann so sehr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass
mein Glaube mit ihm gestorben ist.“

„Ganz so ahnungslos,
wie Sie denken, bin ich nicht“, sagt der Fremde. „Aber haben Sie
denn ganz vergessen, dass heute Ostern ist?“

„Dass Ostern ist,
wissen wir selbst“, sagt Herr Hinz. „Wir sind ja schließlich auf
dem Weg zur Kirche. Aber das ändert auch nichts an der Lage.“

„Vielleicht doch“,
entgegnet der Fremde. „Erinnern Sie sich doch mal, wie es den Jüngern
Jesu ging, nachdem er gekreuzigt worden war: Die waren wahrhaftig
auch in keiner angenehmen Lage. Jesus hatte gesagt, dass mit ihm
Gottes neue Welt anbrechen würde, also Friede und Gerechtigkeit
für alle und Leben in Fülle. Zum Zeichnen dafür hatte er Kranke
geheilt und sich mit Armen und Rechtlosen an einen Tisch gesetzt.
Das hatte seine Anhänger überzeugt. Sie hatten ihm bedingungslos
vertraut und darauf gewartet, dass Wirklichkeit werden würde, was
Jesus sagte. Aber jetzt war plötzlich alles vorbei. Der Hohe Rat
hatte Jesus verhaftet, die Römer hatten ihn wie einen Verbrecher
hingerichtet – und nichts war geschehen. Keine Legion Engel war
ihm vom Himmel zu Hilfe geeilt, und die Erde hatte sich nicht aufgetan,
um seine Widersacher zu verschlingen. Selbst seine Freunde hatten
seine Sache verloren gegeben und sich in alle Winde verstreut. Aus
der Traum von Gottes neuer Welt!

Aber dann geschah
das Wunder von Ostern: Nichts hatte sich äußerlich seit Jesu Kreuzigung
verändert. Und trotzdem stellten sich dieselben Leute, die sich
eben noch enttäuscht verkrochen hatten, in aller Öffentlichkeit
hin und behaupteten: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Nichts
konnte sie von der Überzeugung abbringen, dass ihnen tatsächlich
der lebendige Jesus erschienen war. Vorher hatten sie es nicht zusammenbringen
können: die Hoffnungen, die Jesus geweckt hatte, und seinem schmachvollen
Tod. Aber jetzt ging ihnen der Zusammenhang auf: Wenn es wirklich
Jesus war, der erschienen war – und davon waren sie überzeugt –,
dann musste Gott Jesus von den Toten auferweckt haben. Und das hieß:
Gott steht zu dem, was Jesus gesagt und vorgelebt hat. An ihm, seinem
Reden und Wirken, lässt sich tatsächlich erkennen, wie Gott ist.
Wenn sich aber Gott so zu Jesus bekannt hatte, dann galt das auch
für seinen Tod. Den Jüngern wurde bewusst: Auch an seinem Ende,
als er machtlos war gegen Verrat, Spott, und Misshandlung, war er
so wie Gott. Als Jesus starb, verzichtete Gott auf seine Allmacht
und wurde genauso macht- und hilflos gegen Unrecht, Leiden und Tod
wie wir Menschen. Und als Jesus auferstand, da zeigte sich: Gerade
dadurch, dass Gott sich in Unrecht, Leiden und Tod hineinbegab,
hat er sie überwunden. Mit dieser Gewissheit konnten Christen zu
allen Zeiten die Welt so ertragen, wie sie ist. Und sie gab ihnen
zugleich die Kraft, sich gegen den Tod und für das Leben einzusetzen,
damit die Welt nicht so bleibt, wie sie ist.

Ich denke, dass
gilt auch für Sie beide: Äußerlich ändert die Osterbotschaft nichts
an Ihrer Lage, das ist wahr. Aber ich glaube, dass darin eine große
Kraft liegt, die vieles ändern kann, wenn man sich ernsthaft darauf
einlässt. Wäre das nicht auch für Sie eine Aussicht für die Zukunft?“

Nach dieser langen
Rede des Fremden herrscht eine Zeitlang nachdenkliches Schweigen.
Dann sagt Frau Kunze: „Ich weiß nicht, ob ich das alles verstanden
habe. Aber mir fallen manche Momente ein, wo ich mich besonders
traurig und einsam gefühlt habe. Oft hat mich dann ein Bibelwort,
ein Gesangbuchvers oder auch der Besuch einer guten Freundin getröstet.
Vielleicht war mir Gott in solchen Momentan tatsächlich besonders
nahe.“ Und Herr Hinz meint: „Doch, das kenne ich auch. Wenn ich
nach einer anstrengenden Arbeitswoche besonders niedergeschlagen
bin, dann wird mir der Gottesdienst als Ruhepol besonders wichtig,
und ich spüre, wie er mir Kraft gibt für das, was in der kommenden
Woche ansteht.“

Während sie so
noch eine Weile weiterreden, kommen sie schließlich bei der Kirche
an. „Es hat gut getan, sich mit Ihnen zu unterhalten“, sagt Herr
Hinz. „Kommen Sie doch mit zum Gottesdienst, dann können wir nachher
noch weiterreden!“

„Danke“, sagt
der Fremde, „ich muss weiter. Aber vielleicht begegnen wir uns trotzdem
im Gottesdienst wieder. Leben Sie wohl!“ Und bevor sich Frau Kunze
und Herr Hinz noch richtig von ihm verabschieden können, ist der
Fremde genauso plötzlich wieder verschwunden, wie er gekommen ist.

„Seltsam“, sagt
Frau Kunze. „Wo ist er so plötzlich hin? Und wie hat er das wohl
gemeint, dass wir uns im Gottesdienst wieder treffen?“

„Keine Ahnung“,
sagt Herr Hinz. „Aber kommen Sie, wir sind spät dran – ich höre
schon die Orgel!“

Von der Predigt
bekommt Herr Hinz diesmal wenig mit. Er muss immer noch an die seltsame
Begegnung von vorhin denken. Beim Abendmahl fällt sein Blick auf
die bunten Fenster im Chorraum, die heute besonders schön in der
Sonne leuchten. Eines der Bilder zeigt den auferstandenen Christus.
Für einen Moment hat er das Gefühl, dass die Christusfigur den Kopf
zu ihm hinwendet und ihm zulächelt – mit dem freundlichen Lächeln
des Fremden von vorhin. Er stutzt. „Jetzt habe ich schon Halluzinationen“,
denkt er. Aber dann reicht ihm Frau Kunze, die neben ihm steht,
den Teller mit dem Brot. „Christi Leib, für dich gegeben“, sagt
sie und lächelt. Da versteht er endlich, was geschehen ist. „Amen“,
sagt er, bricht sich ein Stück Brot ab und lächelt zurück. Als zum
Ausgang das „Christ ist erstanden“ gesungen wird, singt er so fröhlich
mit wie schon lange nicht mehr.

Und siehe,
zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von
Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus.
Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschickten. Und es
geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da
nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden
gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er sprach aber zu ihnen:
„Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?“
Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas,
antwortete und sprach zu ihm: „Bist du der einzige unter den Fremden
in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen
ist?“ Und er sprach zu ihnen: „Was denn?“ Sie aber sprachen zu ihm:
„Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten
und Worten vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester
und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir
aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das
alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Auch haben
uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei
dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen,
sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe.
Und einige von uns gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die
Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.“ Und er sprach zu ihnen:
„O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten
geredet haben! Musste nicht Christus dies erleiden und in seine
Herrlichkeit eingehen?“ Und er fing an bei Mose und allen Propheten
und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.

Und sie kamen
nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte
er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns;
denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er
ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, als er mit ihnen
zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.
Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand
vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: „Brannte nicht unser
Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift
öffnete?“

Und sie standen
auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden
die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: „Der Herr
ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen.“ Und sie erzählten
ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt
wurde, als er das Brot brach.

Predigt für den Karfreitag

GOTTESDIENST FÜR DEN KARFREITAG

Wenschtkirche, 10.4. 2009
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Joh 19,16-30

Sie nahmen
nun Jesus, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die
da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten
sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in
der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf
das Kreuz; und es war geschrieben: „Jesus von Nazareth, der König
der Juden.“ Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte,
wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben
in hebräischer, lateinischer und griechischer Spreche. Da sprachen
die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: „Schreib nicht: Der König
der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.“
Pilatus antwortete: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“

Als aber die
Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten
vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand.
Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen
sie untereinander: „Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum
losen, wem es gehören soll.“ So sollte die Schrift erfüllt werden,
die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben
über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen
aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter, seiner Mutter Schwester, Maria,
die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine
Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er
zu seiner Mutter: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Danach spricht
er zu dem Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Und von der Stunde
an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als
Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit
die Schrift erfüllt würde: „Mich dürstet.“ Da stand ein Gefäß voll
Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn
auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den
Essig genommen hatte, sprach er: „Es ist vollbracht!“ und neigte
das Haupt und verschied.

Ich muss gestehen:
Ich habe mich lange Zeit darüber geärgert, wie das Johannesevangelium
von der Kreuzigung Jesu berichtet. Die anderen Evangelien, vor allem
Markus, schienen mir mit ihrer Darstellung des Geschehens viel näher
an der Wirklichkeit zu sein: Jesus, der auf dem Weg nach Golgatha
unter seinem Kreuzbalken zusammenbricht, von Misshandlungen geschwächt.
Jesus, der zwischen Himmel und Erde hängt und von allen verlassen
ist: von den Gaffern und Spöttern sowieso, aber auch von seinen
Leidensgenossen links und rechts, von seinen Freunden, die sich
alle verkrochen haben, und sogar von seinem Vater im Himmel. Jesus,
dessen letzter Laut auf Erden kein wohlgesetztes Psalmwort ist,
sondern ein wortloser Schrei. – Ja, so kann ich ihn mir vorstellen,
den grausamen Tod des Jesus von Nazareth.

Bei Johannes dagegen
verliert Jesus fast alle menschlichen Züge. Hier trägt er sein Kreuz
selbst bis zur Hinrichtungsstätte. Hier muss Jesus keinen Spott
und keine groben Späße auf seine Kosten erdulden. Stattdessen bleibt
er bis zum Schluss Herr des Geschehens: Er trifft noch eine letztwillige
Verfügung für seine Mutter und den Jünger, den er lieb hat. Er sagt
nicht etwa „Mich dürstet“, weil er Durst hat, sondern nur, „damit
die Schrift erfüllt wird“. Seine letzten Worte sind nicht „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ sondern: „Es ist
vollbracht“, Auftrag ausgeführt. Und er stirbt auch nicht einfach,
sondern „neigt sein Haupt und übergibt seinen Geist“, wie es wörtlich
heißt. Hier ist der Tod also ein bewusster Akt, mit dem Jesus sein
irdisches Leben zurück in Gottes Hände legt. Eine Liedstrophe, die
Johann Sebastian Bach in seine Johannes-Passion aufgenommen hat,
fasst das gut zusammen und macht es uns allen zum Vorbild: „Er nahm
alles wohl in Acht / in der letzten Stunde: / seine Mutter noch
bedacht, / setzt ihr ein’ Vormunde. / O Mensch, mache Richtigkeit,
/ Gott und Menschen liebe. / Stirb darauf ohn’ alles Leid / und
dich nicht betrübe.“ Als Ideal für die christliche Hospizbewegung
geht das vielleicht in Ordnung. Aber kann ein brutal gequälter Gekreuzigter
so in den Tod gehen? So souverän und unangefochten, scheinbar „ohn’
alles Leid“? Wohl kaum!

Inzwischen allerdings
denke ich anders über das Johannesevangeliums. Zwar glaube ich immer
noch, dass eine Video-Aufnahme der Kreuzigung Jesu uns ein völlig
anderes Geschehen zeigen würde, wenn es sie denn gäbe. Aber der
Wahrheit hinter dem, was da geschieht, würde uns eine solche Aufnahme
nicht näher bringen. Wir wissen ja heute, wo aus jedem Krieg und
von jeder Katastrophe live berichtet wird, wie wenig man den Kamera-Bildern
trauen darf. Wie hätten sie da die Wahrheit eines Geschehens erfassen
können, das nach christlicher Überzeugung Gott und die Welt umspannt.
Wenn also die Kreuzigung Jesu tatsächlich mehr war als nur die Hinrichtung
eines potentiellen Aufrührers – eine von vielen in der Amtszeit
des Pontius Pilatus – dann erfahren wir es eher in den Evangelien
als durch so genannte unabhängige Zeugen, selbst wenn wir sie hätten.

Und inzwischen
ist mir auch deutlicher geworden, dass Johannes sich höchstens graduell
von den anderen Evangelien unterscheidet. Auch sie berichten nicht
objektiv über den Tod Jesu, sondern deuten ihn im Sinne ihres Glaubens.
Johannes konnte dabei noch einen Schritt weiter gehen, weil seine
Leser die anderen Evangelien wohl schon kannten. Und erst recht
wussten sie, anders als wir, aus eigener Anschauung, wie es zuging
bei einer Kreuzigung. Die Römer sorgten schon dafür, dass jeder
mit ansehen konnte, was ihm blühte, wenn er sich gegen ihre Herrschaft
auflehnte. Die kurze Bemerkung „und sie kreuzigten ihn“ reichte
den Lesern des Evangeliums also völlig, um die ganze Grausamkeit
der Szenerie vor Augen zu haben: die gleichgültige Brutalität der
Henkersknechte, die Nägel, die sie durch Hand- und Fußwurzeln schlugen,
die entwürdigende Zurschaustellung, die nackten, verkrümmten Körper,
schutzlos der Hitze oder Kälte ausgeliefert, die entsetzlichen Qualen,
die sich über Tage hinziehen konnten, bevor die Gekreuzigten endlich
an völliger Entkräftung krepierten. Wenn Jesus gekreuzigt worden
war, dann war es auch ihm so und nicht anders ergangen – das wusste
in den ersten drei Jahrhunderten jeder Christ zwischen Atlantik
und Euphrat.

Trotzdem ist der
Evangelist überzeugt: hinter diesem brutalen Geschehen lief etwas
ganz Anderes ab, ja sogar etwas völlig Entgegengesetztes. Anscheinend
machten die Römer mit Jesus, was sie wollten, aber in Wahrheit war
er selber der Handelnde, der am Ende sagen konnte: „Es ist vollbracht!“
Anscheinend bekamen die Hohenpriester, die Jesus verklagten, ihren
Willen, aber in Wahrheit erfüllte sich hier der Wille Gottes, das,
wozu Jesus überhaupt in die Welt gekommen war. Hier starb kein Verbrecher,
der sich den Titel „Körnig der Juden“ nur angemaßt hatte, sondern
gerade indem er starb, erwies sich Jesus tatsächlich als der König
der Juden, der Messias Israels. Seine Dornenkrone wurde zum Siegeskranz,
seine tiefste Niedrigkeit zur Verherrlichung, sein Tod zum ewigen
Leben für alle, die an ihn glauben.

Und darauf kommt
es nun an: dass wir das glauben können, was Johannes uns sagt. Dass
wir den Karfreitag noch feiern, macht nur Sinn, wenn er für uns
nicht nur der Todestag des Menschen Jesus von Nazareth ist. Es macht
nur Sinn, wenn wir glauben, dass Gott den Tod Jesu mit gestorben
ist, um die Macht des Todes ein- für allemal zu brechen. Denn wenn
Menschen sterben, hat der Tod gewonnen – egal ob sie jung oder alt
sind, egal, ob sie ihren letzten Atemzug in weißen Kissen tun oder
in Dreck und Blut nach einem Bombenangriff. Wenn aber Gott stirbt,
und zwar nicht, weil die Menschen ihn für tot erklären, sondern
weil er die Menschen so sehr liebt, dass er sein Leben für sie lässt,
dann geht das nicht für Gott böse aus, sondern für den Tod – und
für alle, die sein Geschäft betreiben. Nichts anderes ist die Überzeugung
des Johannesevangeliums: als Jesus starb, starb Gott mit ihm, denn
er und der Vater sind eins.

Diese Sätze sind
für uns nur schwer auszuhalten. Denn wir sind es ja gewohnt, Gott
für unsterblich zu halten. Gott und der Tod – das geht für uns nicht
zusammen. Aber wir glauben auch, und daran liegt uns sehr viel,
dass Gott die Liebe ist. Und ich denke, wir geben Johannes Recht,
wenn er Jesus zu seinen Jüngern sagen lässt: „Niemand hat größere
Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Das
gilt schon unter Menschen, und es gilt erst recht für Gott. Wir
sind Gottes Freunde: er will, dass wir auf ewig zu ihm gehören.
Und wenn der Tod, der uns dabei im Weg steht, nicht anders zu besiegen
ist, als dass er ihn selber auf sich nimmt, dann geht er diesen
Weg, wird in Jesus Christus Mensch und akzeptiert die Folgen, bis
„alles vollbracht“ ist. Es liegt schon ein Stück Ostern in diesem
letzten Wort Jesu am Kreuz, eine Siegesbotschaft mitten in der tiefsten
Niederlage. Menschlich gesehen ist das absurd, aber wenn es wirklich
der Sohn Gottes ist, der hier „es ist vollbracht“ sagt, dann ist
das wahrer als alles, was wir sonst über den Tod Jesu wissen könnten.

Dass es so ist,
kann ich Ihnen natürlich weder aufzwingen noch andemonstrieren.
Ich kann nur sagen, dass für mich die Realität des Todes in dieser
Welt unerträglich bliebe, wenn es nicht so wäre. Ich müsste sonst
verzweifeln darüber, dass Kinder vor ihren Eltern sterben, dass
Menschen durch Unfälle oder Krankheiten mitten aus dem Leben gerissen
werden. Ich müsste verzweifeln darüber, dass immer noch so viele
Menschen verhungern, obwohl es eigentlich Nahrung genug für alle
gibt. Ich müsste verzweifeln über die Despoten, die ihre Herrschaft
auf Tod und Schrecken gründen, aber auch über gewählte Regierungen,
die für Freiheit und Demokratie über Leichen gehen. Ich müsste verzweifeln
über alle, die bereit sind, das Lebensecht irgendeines Menschen
angeblich höheren Interessen zu opfern. Und ich müsste auch verzweifeln
an meinem Beruf, der mich immer wieder an Sterbebetten und Gräber
führt. Was hätte ich da noch zu sagen, wenn der Tod über uns das
letzte Wort behielte? Was würde es bringen, bei Trauerfeiern an
all die unvollendeten Lebensläufe zu erinnern, wenn nicht einer
für uns vollbracht hätte, was wir selbst nicht zu Ende bringen können?
Für uns führt kein Weg aus dem Tod, es sei denn wir begegnen dort
dem Gott, der in Jesus Christus für uns gestorben ist.

Zum Schluss gebe
ich das Wort noch einmal Johann Sebastian Bach bzw. seinem Textdichter
August Picander. Denn die beiden haben für mein Empfinden die Johannes-Passion
besser verstanden als viele gelehrte Theologen vor und nach ihnen.
Auf die Worte „und neiget das Haupt und verschied“ folgt dort eine
Bass-Arie mit folgendem Text: „Mein teurer Heiland, lass dich fragen,
/ da du nunmehr ans Kreuz geschlagen / und selbst gesagt: Es ist
vollbracht: / Bin ich vom Sterben frei gemacht? / Kann ich durch
deine Pein und Sterben / das Himmelreich ererben? Ist aller Welt
Erlösung da? / Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen, / doch
neigest du das Haupt / und sprichst stillschweigend: Ja.“ Und der
Chor singt dazu den Choralvers: „Jesu, der du warest tot, / lebest
nun ohn’ Ende. / In der letzten Todesnot nirgend mich hinwende /
als zu dir, der mich versühnt, / o du lieber Herre! / Gib mir nur,
was du verdient, / mehr ich nicht begehre!“ Dass er es auch uns
geben möge, das wünsche ich uns allen.

Amen.