PREDIGTTEXT FÜR DEN VIERTEN ADVENT

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN
ADVENT

Talkirche, 20.12. 2009
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Phil 4,4-7

Freuet euch in
dem Herrn allezeit, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte
lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um
nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen
mit Danksagung vor Gott kundwerden! Und der Friede Gottes, der höher
ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne bewahren in Christus
Jesus.

Jetzt ist sie
wieder da: die Zeit der guten Wünsche. Je näher das Weihnachtsfest
rückt, desto öfter bekomme ich sie zu hören und zu lesen: „Tschüss
und schöne Feiertage“, werde ich beim Bäcker verabschiedet. „Frohes
Fest und n’ guten Rutsch“ wünscht mir der Bekannte, den ich auf
der Straße treffe. „Firma XY wünscht allen ihren Kunden ein friedvolles
Weihnachtsfest und ein erfolgreiches neues Jahr“, lese ich in der
Zeitung. „Wir wünschen euch allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest“,
schreibt uns meine Schwester. Und auch ich selbst mache von solchen
Wunschformeln im Moment reichlich Gebrauch. Meistens wünsche ich
„frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr“ – nicht besonders originell,
aber dafür fast universell verwendbar.

Aber wirklich
nur fast. Manchmal verkneife ich mir auch die guten Wünsche, weil
sie der blanke Hohn wären. In einer früheren Gemeinde musste ich
zum Beispiel einmal kurz vor Weihnachten einen älteren Mann beerdigen,
der an Krebs gestorben war. Bis fast zum Schluss hatte er die Rolle
des starken Beschützers seiner ebenfalls schwer kranken Frau gespielt,
auch als er selber kaum noch aufstehen konnte. Nun stand sie ganz
allein da, denn auch der einzige Sohn lag nach einem Herzinfarkt
im Krankenhaus. Sie hat damals keine „frohen“, sondern sehr einsame
und traurige Weihnachten erlebt. Zahlreiche ähnliche Beispiele könnten
wir auch hier bei uns finden: schwer Kranke, Trauernde und Depressive,
die von der Festfreude ringsum noch zusätzlich bedrückt werden;
arbeitslose Mütter oder Väter, die von Hartz IV leben müssen und
ihren Kindern keine Geschenkeberge auftürmen können; Ehepaare und
Familien, bei denen der Haussegen schon lange schief hängt und bei
denen das erzwungene weihnachtliche Beisammensein regelmäßig im
großen Krach endet.

Und wie steht
es mit Ihnen? Freuen Sie sich auf Weihnachten? Oder haben Sie auch
Angst vor dem Alleinsein oder vor Streit mit Ihren Lieben? Oder
kommen Sie gar nicht dazu, sich zu freuen – vor lauter Putzen, Backen,
Kochen, Einkaufen, Geschenke besorgen, Briefe schreiben und daneben
noch Arbeiten Müssen? Ich selbst jedenfalls merke mal wieder, wie
wenig ich in den letzten Tagen zum Luftholen gekommen bin. Wahrscheinlich
gibt es deshalb zur Zeit diese vielen guten Wünsche. Denn wünschen
tut man sich ja immer das, was man nicht hat. Vielleicht ist das
auch mit Weihnachten so: Wir wünschen uns deshalb ein frohes Fest,
weil wir so oft ein bloß geschäftiges oder gar deprimierendes Fest
erleben. Wir wünschen uns deshalb ein paar sorgenfreie Tage, weil
uns die Sorgen spätestens nach Neujahr sowieso wieder einholen.
Und wir wünschen uns ein friedvolles Fest, weil wir schon so oft
zu Weihnachten Streit zwischen Menschen und Krieg zwischen Völkern
erlebt haben. Wir haben die guten Wünsche also bitter nötig. Aber
ob sie was helfen?

Und da kommt nun
also der Apostel Paulus daher und ruft uns zu: „Freut euch in dem
Herrn allezeit, und abermals sage ich euch: Freuet euch! – Sorgt
euch um nichts! – Der Friede Gottes wird euch bewahren!“ Zu jeder
Zeit sich freuen können? Sich um nichts sorgen? In wirklichem Frieden
geborgen sein? Bitte, lieber Paulus, wie soll das denn gehen? Wo
wir das doch kaum für drei Tage Weihnachten schaffen – und das trotz
des gewaltigen Aufwands, den wir dafür treiben! Wenn im Gottesdienst
am Heiligabend die ausnahmsweise voll besetzte Kirche laut und kräftig
„O du fröhliche“ singt, dann springt vielleicht auch in unserem
Herzen ein ganz kleiner Freudenfunke über. Wenn wir das Glück haben,
unser Fest mit kleinen Kindern zu feiern, die im weihnachtlich geschmückten
Zimmer noch leuchtende Augen bekommen – dann können wir vielleicht
wirklich für einen Moment unsere Sorgen vergessen. Und wenn der
Kerzenschein unser Haus in ein warmes und freundliches Licht taucht,
während es draußen dunkel und still ist, dann kehrt vielleicht für
einen Augenblick tatsächlich Frieden ein. Aber ist es uns jemals
gelungen, davon etwas festzuhalten, es mitzunehmen in den Alltag?
„Immer fröhlich, alle Tage Sonnenschein“ – das haben wir zwar früher
in der Sonntagschule gesungen, aber als Lebensmotto taugt es doch
nur für Traumtänzer.

Seltsam ist allerdings,
dass Paulus wenig Anlass für Traumtänzereien hat, als er diese Sätze
diktiert. Er sitzt im Gefängnis. Ihm wird der Prozess gemacht, weil
er glaubt, dass Jesus Christus und nicht der Kaiser in Rom der Herr
der Welt ist, und weil er das jedem erzählt, der es hören oder nicht
hören will. Er muss mit dem Schlimmsten rechnen, sein Leben hängt
an einem seidenen Faden. Und währenddessen ziehen seine theologischen
Gegner durch die Gemeinden und machen ihn und seine Arbeit schlecht.
Jetzt verunsichern sie sogar die Gemeinde in Philippi, wo er seine
treusten Freunde hat. Paulus muss das alles wehrlos mit ansehen.
Er kann nur Briefe schreiben, aber nicht immer hat er damit Erfolg.
Zum Verzweifeln ist das, aber Paulus ruft zur Freude auf. Sein Prozess
steht auf Messers Schneide, aber er schreibt: „Sorgt euch nicht“.
In seinen Gemeinden herrscht Streit und die Obrigkeit führt Krieg
gegen die neue Lehre, aber Paulus schreibt vom Frieden Gottes. Wenn
wir ihm mal zugute halten, dass er nicht im Knast verrückt geworden
ist, muss er dafür einen triftigen Grund haben.

Das ganze Geheimnis
steckt in einem kleinen Sätzchen, das man leicht übersehen kann:
„Der Herr ist nahe!“ Das ist einer der schlichten, aber doch bedeutungsvollen
Kernsätze, die die ganze Bibel durchziehen. „Wo ist ein so herrliches
Volk, dem ein Gott so nahe ist wie uns der Herr, unser Gott, sooft
wir ihn anrufen?“ So bekennt das alte Israel (Dtn 4,7). „Das Himmelreich
ist nahe herbeigekommen“, das verkündigen Johannes der Täufer und
Jesus (Mk 1,15). „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag nahe herbeigekommen“,
sagt Paulus im Römerbrief (13,14). Gott will seinen Menschen, seinen
Geschöpfen nahe sein, das ist die Botschaft, die hinter all diesen
Aussagen steckt. Und genau darum geht es auch bei Advent und Weihnachten.
So nahe kommt uns Gott, wie Jesus den Kindern nahe war, als er sie
umarmte und segnete. So nahe kommt er uns, wie Jesus seinen Freunden
nahe war, als er mit ihnen aß und trank. So nahe, wie Jesus seiner
Mutter Maria nahe war, bevor sie ihn zur Welt brachte. Und wenn
es wirklich stimmt, dass es Gott selbst war, der uns in Jesus nahe
gekommen ist, dann galt das nicht nur für die Zeit seines irdischen
Lebens. Sondern dann behält es seine Gültigkeit für alle Zeit, bis
es eines Tages allen offen vor Augen steht. Wenn Paulus sagt: „Der
Herr ist nahe“, dann meint er vor allem diese Zukunft, den Tag,
an dem es der ganzen Welt deutlich wird, was Gott durch Jesus Christus
zum Heil seiner Schöpfung getan hat. Aber bis es soweit ist, ist
Gott nicht einfach wieder in der Ferne verschwunden. Dass er uns
nahe ist, weil er in Jesus Mensch geworden ist, dabei bleibt es
auch hier und jetzt. Deshalb sagt Paulus, dass die, die an Christus
glauben, „in Christus“ sind. Da wo sie ihren Glauben leben, einzeln
und als Gemeinde, da leben sie sozusagen im gleichen Raum mit Jesus
Christus. Noch ist es dunkel in diesem Raum, so dass wir ihn nicht
sehen können. Aber wir können Zeichen dafür entdecken, dass er uns
nahe ist: zum Beispiel einen Zuspruch, der uns tröstet, ein Lied,
das uns froh macht, Brot und Wein, die uns miteinander und mit Christus
verbinden.

Weil ich darauf
vertraue, dass das wahr ist, möchte ich Ihnen heute folgenden Wunsch
für die Feiertage mit auf den Weg geben: Ich wünsche Ihnen, dass
sie etwas davon spüren, dass Gott Ihnen nahe ist – auch, aber nicht
nur zur Weihnachtszeit. Vielleicht merken Sie dann, dass man sich
über die Geburt Jesu freuen kann, auch wenn man nicht in fröhlicher
Stimmung ist. Vielleicht erleben Sie, dass da einer ist, der Ihnen
die Sorgen tragen hilft, die auch der Kerzenschein nicht vertreiben
kann. Und vielleicht erfahren Sie etwas von dem inneren Frieden,
den Gott schenkt, auch wenn das Weihnachtsfest seinem Ruf als „Fest
des Friedens“ mal wieder keine Ehre macht. Und wer weiß – vielleicht
wird Ihr Weihnachtsfest gerade dann auch nach außen fröhlicher,
sorgenfreier und friedlicher, als es die beste Weihnachtsstimmung
bewirken kann. In diesem Sinne wünsche ich nun wirklich jedem und
jeder von Ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.

Amen.

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Predigt vom 23.8.2009

GOTTESDIENST FÜR DEN ELFTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

mit Taufe von Charlotte Pielach
und Amelie Bruch
Talkirche, 23.8. 2009
Text: Lk 18,9-14

Jesus sagte zu einigen, die sich anmaßten,
fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:

Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel,
um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der
Pharisäer stand für sich und betete so: „Ich danke dir, Gott, dass
ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher
oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und
gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“ Der Zöllner aber
stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern
schlug an seine Brust und sprach: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht
jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden;
und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Schon mancher fromme Mensch, der eine Predigt
zu diesem Text hörte, stand hinterher für sich und betete so: „Herr,
ich danke dir, dass ich nicht bin wie dieser Pharisäer!“ Denn Pharisäer
haben einen schlechten Ruf, und dieses Gleichnis Jesu scheint das
zu bestätigen: Pharisäer sind selbstgerechte Heuchler, von sich
und ihren frommen Leistungen eingenommen und voll hochnäsiger Verachtung
für all die armen Sünder, denen es nicht gelingt, sich an die Zehn
Gebote zu halten. Aber sie täuschen sich gründlich darin, weil sie
nicht wahrhaben wollen, dass kein Mensch aus eigener Kraft Gott
recht sein kann, sondern letztlich in die Bitte des Zöllners einstimmen
muss: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“

Lange Zeit hat man nicht gesehen, dass Jesus
hier das Bild des Pharisäers bewusst überzeichnet. Man hat aus diesem
Gleichnis und aus anderen Stellen der Evangelien ein Pauschalurteil
über alle Pharisäer, ja über alle frommen Juden gemacht, und man
hat damit fatalen Vorurteilen Vorschub geleistet. Aber diese Vorurteile
sind unfair und falsch. Denn die Pharisäer zur Zeit Jesu waren durchweg
anständige und ehrenwerte Leute, und das meine ich jetzt ganz ohne
Ironie. Für sie war die Torah, das Gesetz des Mose Gottes gute Weisung
für sein Volk. Und sie nahmen es besonders ernst, um sich dieser
großen Gabe würdig zu erweisen – ohne sich deswegen für unfehlbar
zu halten. Sicher wird es unter ihnen auch den einen oder anderen
selbstgerechten Heuchler gegeben haben. Aber sicher nicht häufiger
als, sagen wir mal, unter frommen Siegerländer Gemeinschaftsleuten
oder unter treuen Klafelder Kirchgängern.

Der „Pharisäer“, den Jesus uns hier schildert,
ist also eine Karikatur. Und wie alle guten Karikaturen stellt sie
einen Menschen nicht naturgetreu dar, aber sie hat einen wahren
Kern, der durch die Übertreibung deutlich werden soll. Jesus möchte
den Frommen unter seinen Zuhörern den Spiegel vorhalten. Es ist
durchaus Absicht, wenn sie erst einmal sagen: „Nein, so bin ich
nicht!“ Aber im zweiten Gedankengang sollen sie dann ins Nachdenken
kommen: „Halt: Könnte da nicht doch was dran sein? Hab ich nicht
tatsächlich etwas von einem solchen Pharisäer an mir?“

Und diese Frage lässt uns das Gleichnis bis
zum heutigen Tag stellen – uns, die wir keine frommen Juden sind,
aber mit Ernst Christen sein wollen. Wie gesagt, sind auch wir in
aller Regel keine selbstgerechten Heuchler und wollen es auch nicht
sein. Und doch hockt im Herzen eines jeden von uns ein kleiner „Pharisäer“.
Es braucht nur die passende Gelegenheit, und schon drängt er sich
ans Licht.

Zum Beispiel neulich in der Frauenhilfe: Ich
halte eine kurze Andacht über das doppelte Gebot der Liebe, das
Jesus einem Schriftgelehrten ans Herz legt: „Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen
Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Und ich erinnere daran, dass diese beiden Liebesgebote, nicht von
Jesus stammen, sondern aus dem Alten Testament, also schon jüdische
Gebote waren, bevor sie christliche wurden. Kommentar aus der Runde:
„Aber die halten sich ja nicht dran!“ Und dann kommt das ganze Elend
des Nahostkonflikts zur Sprache: Juden gegen Muslime, Palästinenser
gegen Israelis, Gewalt gegen Gewalt. Irgendjemandem fällt noch ein:
„Im Koran steht doch auch, dass man nicht töten soll, oder?“

Und schon sitzen wir in der „Pharisäer-Falle“:
Wir ereifern uns darüber, dass Angehörige anderer Religionen sich
nicht an ihre eigenen Gebote halten. Wir schütteln die Köpfe über
die Gewaltexzesse im fernen Orient oder im finsteren Afrika, vielleicht
auch in den Problemvierteln unserer Städte. Wir tun dies aus dem
sicheren Schoß eines Landes, in dem seit über sechzig Jahren Frieden
und Wohlstand herrschen, aus der vergleichsweise heilen Welt unserer
Familie, unseres Dorfes, unserer Gemeinde. Wir tun es als Menschen,
die dank Herkunft, Erziehung und Status noch nie mit dem Gesetz
in Konflikt gekommen sind, von gelegentlichen Strafzetteln mal abgesehen.
Wir tun es als Christen, die Gottes Gebote ernst nehmen und nach
Kräften danach leben. Und wir sind so beschäftigt mit der empörenden
Schlechtigkeit anderer Menschen, dass wir ganz vergessen, uns selber
auf den Zahn zu fühlen.

Wie wäre es denn, wenn ich nicht in einem
behüteten Elternhaus groß geworden wäre? Wenn ich eine Mutter gehabt
hätte, die es in keiner Beziehung lange aushält und ständig die
Partner wechselt und mich, ihr Kind, als Betriebsunfall betrachtet,
für den sie keine Liebe übrig hat? Wenn ich einen Vater gehabt hätte,
der den Frust über seine Arbeitslosigkeit im Alkohol ertränkt und
dann in seinen Hass auf die Welt und auf sich selbst an Frau und
Kindern auslässt? Wenn ich nie gelernt hätte, mich an Regeln zu
halten und immer vor die Glotze gesetzt und mit Süßigkeiten abgefüttert
worden wäre, um mich ruhig zu halten? Wie würde ich dann wohl jetzt
leben? Was würde aus Charlotte und Amelie werden, wenn sie solche
Eltern hätten? Was für Werte könnten sie später mal ihren eigenen
Kindern weitervermitteln? Und wie könnten sie jemals begreifen,
was die Bibel mit „Liebe“ meint und dass Gott sie lieb hat?

Oder wie wäre es, wenn ich in Israel oder
Palästina leben müsste? Wenn ich ständig Angst haben müsste, dass
der Mann neben mir an der Bushaltestelle einen Sprengstoffgürtel
trägt? Oder von der anderen Seite aus betrachtet: Wenn ich hinter
einer Mauer leben müsste, mindestens so undurchdringlich wie früher
in Berlin, abgeschnitten von der Außenwelt, ohne Chance, im Leben
irgendwie voranzukommen? Würde ich dann die Liebesgebote meiner
heiligen Schrift hoch halten? Oder sprängen mir nicht eher die Aufrufe
zur Gewalt gegen Ungläubige und Unterdrücker ins Auge? Denn die
stehen da ja auch – im Koran und in der Bibel!

Und schließlich? Wie sieht es aus, wenn ich
ehrlich in mich hineinhorche? Wie oft geschehen da in Gedanken und
Worten Dinge, für die andere ins Gefängnis kommen! Und selbst wenn
nicht: Könnte ich die Hand dafür ins Feuer legen, dass das immer
so bleibt? Dass ich mich nicht auf unlauterem Weg bereichern würde,
wenn die Gelegenheit günstig und der Gewinn hoch genug wäre? Kann
ich garantieren, dass ich nie zur Gewalt greifen würde, egal, was
man mir antut? Bin ich mir sicher, dass nichts und niemand meine
Ehe gefährden könnte? Und ist mein Glaube so stark, dass er jeder
Anfechtung standhalten würde?

Solche ehrliche Selbstprüfung ist unbequem
und deshalb unbeliebt. Aber sie ist sehr dazu angetan, uns auf den
Teppich zu holen und den kleinen „Pharisäer“ in uns zum Schweigen
zu bringen. Wir können dann nicht mehr selbstbewusst beten: „Ich
danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute!“ Sondern
höchstens: „Ich danke dir, Gott, dass du mich in Verhältnissen und
mit Menschen hast groß werden lassen, die mich davor bewahrt haben,
zum Räuber, Betrüger, Ehebrecher, Mörder zu werden. Und ich bitte
dich für alle, die dieses große Glück nicht hatten, dass du sie
aus den Teufelskreisen, in denen sie gefangen sind, herausfinden
lässt, dass du ihre Verhältnisse änderst und dass du auch mir zeigst,
was ich dafür tun kann, damit alle Menschen die gleichen Chancen
bekommen.“

Und dann, wenn der „Pharisäer“ in uns schweigt,
dann tun wir gut daran, zum „Zöllner“ zu werden und einzusehen:
„Ich bin kein besserer Mensch als alle anderen auch. Ich mag als
anständig und unbescholten gelten, aber ich weiß, wie oft das nur
Fassade ist und wie wenig ich mir dessen sicher sein kann. Es bringt
mich Gott nicht näher, wenn man mich für einen von den Guten hält.
Kein Weg führt von mir zu ihm. Ich kann nur hoffen, dass er zu mir
kommt, dass er mir Sünder gnädig ist und mich ihm recht sein lässt.“
Jesus sagt, dass diese Hoffnung begründet ist: „Dieser ging gerechtfertigt
hinab in sein Haus“, heißt es im Gleichnis. Und das gilt für jeden,
der es sich sagen lässt – für die Zöllner, aber auch für die Pharisäer.
Dafür steht Jesus selber ein: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen
und nicht die Gerechten.“ Dafür hat er gelebt, dafür ist er gestorben,
dafür hat Gott ihn auferweckt. Und wenn ich das für mich wahr sein
lasse, so, wie es mir von der Taufe an zugesagt ist, dann bleibt
mir zum Schluss nur noch folgendes Gebet: „Ich danke dir, Gott,
dass ich genauso bin wie all die anderen Menschen: ein Mensch, den
du liebst.“

Amen.

Predigt vom 19.7.2009

GOTTESDIENST FÜR DEN SECHSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Tal- und Wenschtkirche, 19.7.
2009
Pfr. Dr. Martin Klein
Text: Mt 28,16-20

In den Kirchen
hierzulande, bekanntlich auch in unserer Gemeinde, ist vieles in
Bewegung geraten: weniger Menschen, weniger Geld, weniger Verbundenheit
mit der Tradition – darauf muss reagiert werden. Vielen ist inzwischen
klar, dass wir nicht einfach mit ein paar Pfarrern und ein paar
Gemeindehäusern weniger so weiter machen können wie bisher. Wir
müssen uns vielmehr grundsätzliche Gedanken darüber machen, was
eigentlich unser Auftrag ist und wie wir ihn hier und heute am besten
umsetzen. Denn einfach von allem etwas und immer noch ein bisschen
mehr zu machen, das ging früher mal, aber das ist vorbei. Wir müssen
nicht nur überlegen, was wir tun, sondern auch, was wir lassen.

Aber genau an
dem Punkt geht der Streit los. Die einen sagen: „Die Aufgabe der
Kirche ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Und wenn man das
unseren Kindergärten, unseren Schulen, unseren Krankenhäusern zu
wenig anmerkt, dann lasst uns doch darauf verzichten!“ Die anderen
sagen: „Jesus hat uns zur Nächstenliebe aufgefordert. Also müssen
wir so nah wie möglich bei den Menschen und ihren Nöten sein. Dazu
brauchen wir keine teuren Orgeln und keine schlecht genutzten Gemeindehäuser
und auch nicht so viele Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen
für immer dieselben paar Leute.“ Unsere Gemeinde hat schon manche
solche Debatte hinter sich, andere haben sie noch vor sich. Patentlösungen,
mit denen alle zufrieden sind, scheint es da nicht zu geben.

Kann die Bibel
daran etwas ändern? Kann sie zur Klärung beitragen, uns aus fruchtlosen
Entweder-oder-Debatten befreien? Ich denke ja. Denn alt und vielstimmig
wie sie ist, liefert sie uns zwar keine fertigen Rezepte, aber sie
ist und bleibt unsere gemeinsame Basis. Und gerade weil sie so weit
weg ist von unseren Tagegeschäften, kann sie uns helfen, über den
täglichen Kram hinauszuschauen und das Wesentliche zu entdecken.
Daraus Schlüsse für hier und heute zu ziehen, das ist dann wieder
unsere Sache. Der heutige Predigttext, die letzten fünf Verse des
Matthäusevangeliums, sind dafür ein gutes Beispiel:

 

Aber die elf
Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden
hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige
aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: „Mir
ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und
macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Vaters
und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie halten alles,
was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende.“

 

Wir werden uns
schnell einigen können, dass dies eine der Kernstellen ist, wenn
es um den Auftrag der Kirche geht. Kaum irgendwo sonst in der Bibel
ist er so bündig und wirkmächtig formuliert wie hier. Jedenfalls
wenn man davon ausgeht, dass hier wirklich die ganze Kirche zu allen
Zeiten angesprochen ist und nicht nur die elf Jünger von damals.
So hat man es nämlich lange Zeit ausgelegt und dann den Text für
die eigene Gegenwart nicht so wichtig genommen. Erst als christliche
Missionare wirklich in alle Welt zogen, im 19. Jahrhundert, hat
man ihm die grundlegende Bedeutung zuerkannt, die er schon immer
hatte. Aber, und das ist paradox, gerade das hat dem Text nicht
gut getan. Man hat ihn „Missionsbefehl“ genannt und ihm damit ein
plakatives, aber irreführendes Etikett verpasst. Man hat ihn ehrfürchtig
auf einen Sockel gehoben und gesagt: „Jawohl, das ist es. Das ist
der Auftrag der Kirche.“ Dann hat man wieder nicht mehr so genau
hingeschaut. Befehl ist Befehl, hat man auch beim „Missionsbefehl“
gedacht, und Befehle müssen befolgt werden, mit allen Mitteln, die
zur Verfügung stehen. Die Folgen sind bekannt: In der Weltmission
wurde oft die Verkündigung des Evangeliums mit der Umerziehung zur
angeblich überlegenen europäischen Kultur verwechselt. Letztere
wurde widerspenstigen „Eingeborenen“ dann notfalls mit Gewalt aufgedrückt.
Und bei Missionsveranstaltungen hierzulande ist manche so genannte
„Bekehrung“ auch nur durch psychologischen Druck und nicht durch
den heiligen Geist zustande gekommen. Kein Wunder, dass lange Zeit
kaum noch jemand von Mission reden mochte, auch innerhalb der Kirche
nicht. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich das wieder
geändert. Eine wachsende Zahl von Menschen in unserem Land gehört
gar keiner Glaubensgemeinschaft mehr an. Das hat uns daran erinnert,
dass es zum Wesen der Kirche gehört, missionarisch zu sein. Und
es wurde uns bewusst, dass wir in Sachen Mission zu schnell das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Es ist also Zeit, den so
genannten „Missionsbefehl“ von seinem letztens etwas eingestaubten
Sockel herunterzuholen und noch mal genauer nachzufragen, was denn
da wirklich steht, und was es für uns heute bedeuten könnte. An
einigen ausgewählten Punkten möchte ich das jetzt tun.

Wenn ich den Text
lese, dann bleibe ich zuerst an einem kurzen Halbsatz hängen: „einige
aber zweifelten“ (V.17b). Das passt nicht ins gewohnte Bild. Befehlsempfänger
haben keine Zweifel – die gehorchen einfach und fragen nicht nach.
Aber die Jünger, die Jesus hier in alle Welt schickt, die haben
Zweifel: „Ist er das wirklich, der auferstandene Christus, oder
bilden wir uns das nur ein? Wie soll das zugehen – wir elf in alle
Welt? Sind wir überhaupt die Richtigen dafür?“ So, kann ich mir
vorstellen, haben sie gedacht. Und ich lerne daraus: Gott braucht
keine Helden für seinen Dienst an der Welt. Es dürfen und sollen
durchaus Menschen sein wie du und ich: Menschen, denen das Glauben
manchmal schwer fällt. Menschen, die sich ab und zu fragen, ob es
noch einen Sinn hat, in der Kirche zu bleiben oder sich gar für
sie einzusetzen. Menschen, die die Wahrheit nicht für sich gepachtet
haben, sondern gemeinsam mit anderen nach ihr fragen. Es sind solche
Menschen, denen, die schönen und kraftvollen Worte gelten, die dann
kommen. Das ist das Erste, und wir sollten es nicht vergessen.

Das zweite, woran
ich hängen bleibe, ist das Wort „zu Jüngern machen“. Ein ungewöhnlicher
Ausdruck, schon in der Bibel. Weil wir den Text so gut kennen, überhören
wir das meistens. Aber was ist denn das Besondere an dem Ausdruck
„Jünger“ – etwa im Vergleich mit „Christen“, „Gläubige“ oder „Kirchenmitglieder“?
Um das herauszubekommen müssten wir eigentlich das ganze Matthäus-Evangelium
noch einmal lesen. Wir müssten nachforschen, wie das Jünger-Sein
dort geschildert wird. Dann würden wir Folgendes feststellen:

Erstens: Jüngerinnen
und Jünger, das sind Menschen, die Jesus zu sich gerufen hat – nicht,
weil sie dafür besonders qualifiziert sind, sondern weil er sie
lieb hat und weil er mit ihnen zusammen sein möchte. Nichts anderes
wird uns in der Taufe zugesprochen: „Ich habe dich bei deinem Namen
gerufen, du bist mein.“ (Jes 43,1)

Zweitens: Jüngerinnen
und Jünger, das sind Menschen, die Jesus nachfolgen, die ihm zuhören
und etwas von ihm lernen möchten. Darin steckt das Entscheidende:
Jüngerinnen und Jünger sind keine fertigen Leute. Das griechische
Wort für sie heißt eigentlich „Schüler“. Und diejenigen, die andere
zu Jüngern machen, sind ja selbst Jünger Jesu. Dann sind sie aber
auch nicht die, die alles wissen und es den anderen nur eintrichtern
müssen. „Zu Jüngern machen“ heißt vielmehr: mit anderen zusammen
auf Jesus hören, mit ihnen gemeinsam immer neu danach fragen, was
er uns zu sagen hat. Deshalb heißt es ja auch nicht: „lehrt sie
alles halten, was ihr über mich wisst“, sondern: „was ich euch befohlen
habe“. Auch dazu müsste man jetzt wieder das ganze Evangelium lesen.
Man müsste zum Beispiel die Bergpredigt noch einmal neu durchbuchstabieren.
Ich denke, dass darin auch für unsere heutige Situation in Kirche
und Gesellschaft viel Stoff zum Nachdenken steckt.

Und drittens:
Jüngerinnen und Jünger sind Leute, die nun selber von Jesus losgeschickt
werden: hin zu den Menschen, denen seine Liebe gilt. Taufen sollen
sie, taufen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Sie sollen den Menschen damit zeichenhaft deutlich machen,
dass sie zu Gott gehören, und zwar zu Gott, wie er sich in Jesus
Christus offenbart hat und uns durch den Heiligen Geist nahe sein
will. Alles, was sie daran hindert, dürfen sie von sich abwaschen
lassen. Und lehren sollen die Jünger durch Wort und Tat: predigen,
aber auch Kranke heilen, von Gott reden, aber auch für die Menschen
da sein. Von beidem wird die Kirche also auch mit knapperen Ressourcen
nicht lassen können – weder in der Gemeindearbeit noch in der Diakonie
noch auf irgendeinem anderen Arbeitsfeld.

Und dann ist mir
noch ein letztes an diesem Text wichtig: Was der auferstandene Jesus
über den Auftrag seiner Jünger zu sagen hat, beginnt und endet mit
einer Zusage: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“
und: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ Einer Kirche,
die das nicht vergisst, der muss um ihre Zukunft nicht bange sein.
Nur sollte sie sich Gedanken machen, wo denn in ihr etwas von diesem
„ich bin bei euch“ spürbar wird – auch für Menschen, die nicht schon
immer dazu gehören. Dazu kann sie etwas beitragen, durch die Gestaltung
ihrer Gottesdienste oder ihrer Diakonie zum Beispiel, vor allem
aber, indem sie Gottes Zusage beim Wort nimmt und immer wieder um
seine Gegenwart bittet. Wir können darauf vertrauen, dass Gott solche
Bitten nicht enttäuschen wird.

Amen.

PREDIGT FÜR DEN PFINGSTSONNTAG

GOTTESDIENST FÜR DEN PFINGSTSONNTAG

Talkirche, 31.5. 2009
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Barmer Theologische Erklärung

Zu Pfingsten hat die Kirche Geburtstag. Von
jenem ersten Pfingstfest in Jerusalem an gerechnet wird sie heute
wahrscheinlich 1979 Jahre alt – kein rundes Jubiläum, aber doch
wie jedes Jahr ein Grund zum Feiern. Und zum Staunen. Denn auf ein
so langes Erdenleben war sie ja nicht angelegt. Die ersten Christen
rechneten allenfalls mit ein paar Jahren bis zu Jesu Wiederkunft.
Um trotzdem so alt zu werden, musste die Kirche sich vielfältig
wandeln und den jeweiligen Zeiten und Orten anpassen, sie musste
sich aber auch immer wieder auf ihr Wesen, auf den Kern ihres Glaubens
besinnen, um sich nicht in der Welt und an die Welt zu verlieren.

Ein solches Ereignis jährt sich genau heute
zum 75. Mal: Am 31. Mai 1934 wurde auf der ersten Bekenntnissynode
der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen-Gemarke die Barmer
Theologische Erklärung verabschiedet. Gegen die Irrlehre der Deutschen
Christen bekannten sich erstmals reformierte, lutherische und unierte
Christen gemeinsam zu Kernaussagen ihres Glaubens. Der Stellenwert
dieses „Bekenntnisses“ war bald schon wieder umstritten, besonders
bei den Lutheranern. Und doch war den evangelischen Kirchen in Deutschland
damit ein neuer Weg gewiesen, der sie zu ihrer ureigenen Sache rief
und schließlich, Jahrzehnte später, die Trennungen der Reformationszeit
überwand.

Wir sollten uns noch mal vor Augen führen,
wie es dazu kam:

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler
und machte sich sofort daran, alle Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens mit seiner Ideologie der „Volksgemeinschaft“ zu durchdringen.
Alle noch unabhängigen Organisationen sollten mit Staat und Partei
„gleichgeschaltet“ und straff nach dem „Führerprinzip“ organisiert
werden. In den evangelischen Kirchen schien Hitler damit leichtes
Spiel zu haben, denn die meisten ihrer Pfarrer und führenden Persönlichkeiten
waren stramm national und hatten die so genannte „Machtergreifung“
ausdrücklich begrüßt. Sie hielten es von sich aus für das Gebot
der Stunde, die Zersplitterung des deutschen Protestantismus zu
überwinden und eine einheitliche „Reichskirche“ zu schaffen, mit
einem lutherischen „Reichsbischof“ an der Spitze.

Diese Chance zur Gleichschaltung der evangelischen
Kirchen ergriffen die Nazis mit Hilfe der so genannten „Deutschen
Christen“. Die hielten Christentum und Nationalsozialismus für bestens
miteinander vereinbar und betrachteten Adolf Hitler als Werkzeug
Gottes zur Rettung des deutschen Volkes. Bei den ersten deutschlandweiten
Kirchenwahlen im Juli 1933 wurden sie von der NS-Propaganda massiv
unterstützt und errangen so 75 % der Sitze in den Presbyterien und
Synoden. Mit dieser überwältigenden Mehrheit wählten sie Hitlers
„Bevollmächtigten in Kirchenfragen“, den Königsberger Wehrkreispfarrer
Ludwig Müller zum Reichsbischof. Der machte sich sogleich rücksichts-
und charakterlos an das Werk der „Gleichschaltung“: Handstreichartig
wurden Landeskirchen unter deutschchristlicher Führung in die Reichskirche
eingegliedert, die evangelische Jugendarbeit wurde der HJ zum Fraß
vorgeworfen, und Pfarrer jüdischer Herkunft wurden schikaniert und
aus dem Dienst entfernt. Selbst von den radikalsten Äußerungen seiner
Leute, die die Abschaffung des Alten Testaments und die Predigt
eines „arischen Christus“ forderten, distanzierte sich Müller höchstens
halbherzig.

Das ging nun aber vielen zu weit – selbst
solchen, die politisch gegen das Nazi-Regime nichts einzuwenden
hatten. In der Kirche der altpreußischen Union, deren offizielle
Organe fest in der Hand der „Deutschen Christen“ waren, bildeten
sich freie Synoden, die ungeschmälert an Schrift und Bekenntnis
als Grundlage der Kirche festhalten wollten. Gemeinsam mit den noch
nicht gleichgeschalteten süddeutschen Landeskirchen erhoben sie
den Anspruch, die wahre „Deutsche Evangelische Kirche“ zu sein.
Um diesem Anspruch eine solide theologische und juristische Grundlage
zu verleihen, berief man für den 29. Mai eine Reichs-Bekenntnissynode
nach Barmen ein. 139 Delegierte aus fast allen deutschen Landeskirchen
kamen dort zusammen, darunter immerhin 55 Nichttheologen, allerdings
nur eine einzige Frau. Der Text der „Theologischen Erklärung“ stammte
hauptsächlich von dem reformierten Theologen Karl Barth, war aber
sorgfältig mit den beiden Lutheranern Hans Asmussen und Thomas Breit
abgestimmt. Trotzdem wurde auf der Synode noch viel darüber diskutiert
und am Wortlaut gefeilt. Am Ende nahmen die Delegierten die Erklärung
aber einstimmig an.

Es ging ihnen dabei ausdrücklich um eine innerkirchliche
Auseinandersetzung und nicht um politischen Widerstand. Auch die
Gestapo sah es so und ließ die Synode deshalb gewähren. Mancher
hätte sich auch schon damals und im Rückblick erst recht deutlichere
Worte gegen die Judenverfolgung gewünscht (nur das Problem der „nichtarischen“
Pfarrer tauchte mal am Rande auf). Aber immerhin war es eine klare
und deutliche Absage an die Deutschen Christen und dadurch auch
eine Absage an den totalitären Staat. „Wir verwerfen die falsche
Lehre“, heißt es in der 5. These, „als solle und könne der Staat
über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
menschlichen Lebens werden“. Christ und zugleich überzeugter Nazi
zu sein, das ging auf der Basis der Barmer Erklärung nicht mehr.

Nun kann man sich freilich fragen, was uns
das alles noch angeht. Die Hitlerei ist längst zu Ende und die „Deutschen
Christen“ sind zu Recht in der Versenkung verschwunden. Trotzdem
gehören die Barmer Thesen immer noch zu den Bekenntnisgrundlagen
der meisten evangelischen Landeskirchen, und das ist gut. Denn so,
wie sie formuliert sind, in enger Anlehnung an Worte der Bibel,
weisen sie über die konkrete Situation von damals hinaus und können
auch für uns wichtige Orientierung bieten. An ein paar Beispielen
möchte ich das noch kurz erläutern.

„Jesus Christus, wie er uns in der heiligen
Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören,
dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“
So lautet die grundlegende erste Barmer These unter Berufung auf
Johannes 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand
kommt zum Vater denn durch mich.“ Und sie fügt hinzu: „Wir verwerfen
die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer
Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch
andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes
Offenbarung anerkennen.“

Hochaktuell ist die Frage, was das eigentlich
für unseren Dialog mit anderen Religionen bedeutet. Um es vorweg
zu sagen: Ich halte es für dringend notwendig, dass wir diesen Dialog
führen – friedlich, gleichberechtigt und offen für das, was wir
über andere und von anderen lernen können. Aber wir sollten dabei
nicht hinter dem Berg halten, wo das Herz unseres christlichen Glaubens
schlägt, was und wer für uns die Wahrheit und das Leben ist. Natürlich
werden Juden oder Muslime daran Kritik üben – sonst müssten sie
ja Christen werden – , aber wenn wir uns ihnen gegenüber nicht klar
und deutlich zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes bekennen,
wie sollen sie uns dann ernst nehmen und wissen, wofür wir stehen?

Ein anderes Beispiel: „Die christliche Kirche“,
so lautet die dritte These, „ist die Gemeinde von Brüdern („Geschwistern“,
würden wir heute sagen), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament
durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat
mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie
mit ihrer Ordnung … zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist.
… Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt
ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel
der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen
überlassen.“

Niemand wird heute noch eine evangelische
Kirche nach dem „Führerprinzip“ organisieren wollen. Aber trotzdem
stehen wir immer wieder in der Gefahr, die Form der Verkündigung
oder der Kirchenordnung als bloße Verpackung zu sehen und sie unbedacht
dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Wir leben in einer Zeit, in
der die Wirtschaft das Maß aller Dinge ist? Dann muss auch die Kirche
mit Management-Methoden auf Vordermann gebracht werden. Wir leben
in einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft? Dann muss auch Kirche „Event-Charakter“
haben, um für den besonderen Kick zu sorgen. Wir leben in einer
Zeit des Individualismus, in der sich verbindliche Gemeinschaften
immer mehr auflösen und wo auch der Glaube zu einer diffusen Privatsache
verkümmert? Dann darf auch die Kirche keinem mehr zu nahe treten
mit unbequemen Ansprüchen und Forderungen. Sonst treten die Leute
womöglich aus, und uns fehlt die Kirchensteuer – da liegen unsere
Gleichschaltungs-Gefahren!

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich
bin froh über die Vielfalt unserer Kirche und will aus ihr keine
„Christliche Versammlung“ machen, bei der alles streng nach dem
Wortlaut (nicht unbedingt nach dem Geist) der Bibel reguliert ist.
Aber wenn wir immer nur kopf- und geistlos dem Zeitgeist hinterher
hecheln, sind wir nur noch peinlich. Eine Kirche, die den Leuten
nach dem Mund redet und ihnen keinerlei (Denk)Anstoß mehr bietet,
ist wird nicht mehr gebraucht. Abgesehen davon ist es ja noch nicht
mal das, was die Leute von uns wollen. Sie wollen wissen, wofür
wir stehen, sie suchen Orientierung, sie wollen, dass wir klare
Positionen beziehen, und sei es, um sich darüber ärgern zu können.
Mit dem ganzen Reichtum der biblischen Überlieferung hätten wir
ihnen dabei eine Menge zu bieten. Wir sollten es ihnen nicht vorenthalten.

Und noch ein letztes Beispiel: „Die Schrift
sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat,
in der noch nicht erlösten Welt … nach dem Maß menschlicher Einsicht
und menschlichen Vermögens … für Recht und Frieden zu sorgen. Die
Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser
seiner Anordnungen an. Sie erinnert an Gottes Reich, Gottes Gebot
und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden
und Regierten.“ Das sagt die fünfte Barmer These angesichts einer
Diktatur, deren totalitärer, menschenverachtender Charakter schon
erkennbar war. Ob man damals mehr und anderes hätte sagen müssen,
darüber kann man streiten. Nicht bestreiten kann man, dass wir heute
viel mehr Grund haben, so zu reden. Wir leben in einem freien und
friedlichen Land mit einer demokratischen Verfassung und einer verlässlichen
Rechtsordnung. Wo wir trotzdem etwas zu kritisieren haben, dürfen
wir das tun, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Und wenn
wir etwas verändern wollen, haben wir viele Möglichkeiten, uns dafür
einzusetzen. Beste Bedingungen also, um als evangelische Kirche
die Regierenden an Gottes Gebot zu erinnern. Dann, so finde ich,
sollten wir das aber nicht nur den Hubers oder Käßmanns überlassen,
die das ja im Großen und Ganzen ordentlich machen, sondern auch
selber in Wort und Tat Stellung beziehen, wo es nötig ist. Kein
Christ muss zum Beispiel sonntags einkaufen. Keiner muss mit umweltbewusstem
Handeln warten, bis es entsprechende Gesetze und Vorschriften gibt.
Keiner muss Produkte kaufen, die von indischen Kindern oder südamerikanischen
Bauern für Hungerlöhne hergestellt wurden. Und wir müssen auch nicht
in das billige Genörgel über „die da oben“ einstimmen, wenn wir
selbst nicht bereit sind, es besser zu machen.

Wir merken schon: Das, was die Barmer Theologische
Erklärung von der Bibel her zu sagen hat, ist auch nach 75 Jahren
nicht überholt. Wir dürfen getrost annehmen, dass der Heilige Geist
am Werk war, als 139 sehr verschieden geprägte evangelische Christen
sich darüber einig wurden und sie einstimmig verabschiedeten – fast
so ein Sprachenwunder wie zu Pfingsten in Jerusalem. Möge der frische
Geisteswind von damals auch zu uns herüberwehen und uns dorthin
treiben, wo Menschen unser Bekenntnis brauchen – in Wort und Tat.

Amen.