Predigt vom 19.7.2009

GOTTESDIENST FÜR DEN SECHSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Tal- und Wenschtkirche, 19.7.
2009
Pfr. Dr. Martin Klein
Text: Mt 28,16-20

In den Kirchen
hierzulande, bekanntlich auch in unserer Gemeinde, ist vieles in
Bewegung geraten: weniger Menschen, weniger Geld, weniger Verbundenheit
mit der Tradition – darauf muss reagiert werden. Vielen ist inzwischen
klar, dass wir nicht einfach mit ein paar Pfarrern und ein paar
Gemeindehäusern weniger so weiter machen können wie bisher. Wir
müssen uns vielmehr grundsätzliche Gedanken darüber machen, was
eigentlich unser Auftrag ist und wie wir ihn hier und heute am besten
umsetzen. Denn einfach von allem etwas und immer noch ein bisschen
mehr zu machen, das ging früher mal, aber das ist vorbei. Wir müssen
nicht nur überlegen, was wir tun, sondern auch, was wir lassen.

Aber genau an
dem Punkt geht der Streit los. Die einen sagen: „Die Aufgabe der
Kirche ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Und wenn man das
unseren Kindergärten, unseren Schulen, unseren Krankenhäusern zu
wenig anmerkt, dann lasst uns doch darauf verzichten!“ Die anderen
sagen: „Jesus hat uns zur Nächstenliebe aufgefordert. Also müssen
wir so nah wie möglich bei den Menschen und ihren Nöten sein. Dazu
brauchen wir keine teuren Orgeln und keine schlecht genutzten Gemeindehäuser
und auch nicht so viele Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen
für immer dieselben paar Leute.“ Unsere Gemeinde hat schon manche
solche Debatte hinter sich, andere haben sie noch vor sich. Patentlösungen,
mit denen alle zufrieden sind, scheint es da nicht zu geben.

Kann die Bibel
daran etwas ändern? Kann sie zur Klärung beitragen, uns aus fruchtlosen
Entweder-oder-Debatten befreien? Ich denke ja. Denn alt und vielstimmig
wie sie ist, liefert sie uns zwar keine fertigen Rezepte, aber sie
ist und bleibt unsere gemeinsame Basis. Und gerade weil sie so weit
weg ist von unseren Tagegeschäften, kann sie uns helfen, über den
täglichen Kram hinauszuschauen und das Wesentliche zu entdecken.
Daraus Schlüsse für hier und heute zu ziehen, das ist dann wieder
unsere Sache. Der heutige Predigttext, die letzten fünf Verse des
Matthäusevangeliums, sind dafür ein gutes Beispiel:

 

Aber die elf
Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden
hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige
aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: „Mir
ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und
macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Vaters
und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie halten alles,
was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende.“

 

Wir werden uns
schnell einigen können, dass dies eine der Kernstellen ist, wenn
es um den Auftrag der Kirche geht. Kaum irgendwo sonst in der Bibel
ist er so bündig und wirkmächtig formuliert wie hier. Jedenfalls
wenn man davon ausgeht, dass hier wirklich die ganze Kirche zu allen
Zeiten angesprochen ist und nicht nur die elf Jünger von damals.
So hat man es nämlich lange Zeit ausgelegt und dann den Text für
die eigene Gegenwart nicht so wichtig genommen. Erst als christliche
Missionare wirklich in alle Welt zogen, im 19. Jahrhundert, hat
man ihm die grundlegende Bedeutung zuerkannt, die er schon immer
hatte. Aber, und das ist paradox, gerade das hat dem Text nicht
gut getan. Man hat ihn „Missionsbefehl“ genannt und ihm damit ein
plakatives, aber irreführendes Etikett verpasst. Man hat ihn ehrfürchtig
auf einen Sockel gehoben und gesagt: „Jawohl, das ist es. Das ist
der Auftrag der Kirche.“ Dann hat man wieder nicht mehr so genau
hingeschaut. Befehl ist Befehl, hat man auch beim „Missionsbefehl“
gedacht, und Befehle müssen befolgt werden, mit allen Mitteln, die
zur Verfügung stehen. Die Folgen sind bekannt: In der Weltmission
wurde oft die Verkündigung des Evangeliums mit der Umerziehung zur
angeblich überlegenen europäischen Kultur verwechselt. Letztere
wurde widerspenstigen „Eingeborenen“ dann notfalls mit Gewalt aufgedrückt.
Und bei Missionsveranstaltungen hierzulande ist manche so genannte
„Bekehrung“ auch nur durch psychologischen Druck und nicht durch
den heiligen Geist zustande gekommen. Kein Wunder, dass lange Zeit
kaum noch jemand von Mission reden mochte, auch innerhalb der Kirche
nicht. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich das wieder
geändert. Eine wachsende Zahl von Menschen in unserem Land gehört
gar keiner Glaubensgemeinschaft mehr an. Das hat uns daran erinnert,
dass es zum Wesen der Kirche gehört, missionarisch zu sein. Und
es wurde uns bewusst, dass wir in Sachen Mission zu schnell das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Es ist also Zeit, den so
genannten „Missionsbefehl“ von seinem letztens etwas eingestaubten
Sockel herunterzuholen und noch mal genauer nachzufragen, was denn
da wirklich steht, und was es für uns heute bedeuten könnte. An
einigen ausgewählten Punkten möchte ich das jetzt tun.

Wenn ich den Text
lese, dann bleibe ich zuerst an einem kurzen Halbsatz hängen: „einige
aber zweifelten“ (V.17b). Das passt nicht ins gewohnte Bild. Befehlsempfänger
haben keine Zweifel – die gehorchen einfach und fragen nicht nach.
Aber die Jünger, die Jesus hier in alle Welt schickt, die haben
Zweifel: „Ist er das wirklich, der auferstandene Christus, oder
bilden wir uns das nur ein? Wie soll das zugehen – wir elf in alle
Welt? Sind wir überhaupt die Richtigen dafür?“ So, kann ich mir
vorstellen, haben sie gedacht. Und ich lerne daraus: Gott braucht
keine Helden für seinen Dienst an der Welt. Es dürfen und sollen
durchaus Menschen sein wie du und ich: Menschen, denen das Glauben
manchmal schwer fällt. Menschen, die sich ab und zu fragen, ob es
noch einen Sinn hat, in der Kirche zu bleiben oder sich gar für
sie einzusetzen. Menschen, die die Wahrheit nicht für sich gepachtet
haben, sondern gemeinsam mit anderen nach ihr fragen. Es sind solche
Menschen, denen, die schönen und kraftvollen Worte gelten, die dann
kommen. Das ist das Erste, und wir sollten es nicht vergessen.

Das zweite, woran
ich hängen bleibe, ist das Wort „zu Jüngern machen“. Ein ungewöhnlicher
Ausdruck, schon in der Bibel. Weil wir den Text so gut kennen, überhören
wir das meistens. Aber was ist denn das Besondere an dem Ausdruck
„Jünger“ – etwa im Vergleich mit „Christen“, „Gläubige“ oder „Kirchenmitglieder“?
Um das herauszubekommen müssten wir eigentlich das ganze Matthäus-Evangelium
noch einmal lesen. Wir müssten nachforschen, wie das Jünger-Sein
dort geschildert wird. Dann würden wir Folgendes feststellen:

Erstens: Jüngerinnen
und Jünger, das sind Menschen, die Jesus zu sich gerufen hat – nicht,
weil sie dafür besonders qualifiziert sind, sondern weil er sie
lieb hat und weil er mit ihnen zusammen sein möchte. Nichts anderes
wird uns in der Taufe zugesprochen: „Ich habe dich bei deinem Namen
gerufen, du bist mein.“ (Jes 43,1)

Zweitens: Jüngerinnen
und Jünger, das sind Menschen, die Jesus nachfolgen, die ihm zuhören
und etwas von ihm lernen möchten. Darin steckt das Entscheidende:
Jüngerinnen und Jünger sind keine fertigen Leute. Das griechische
Wort für sie heißt eigentlich „Schüler“. Und diejenigen, die andere
zu Jüngern machen, sind ja selbst Jünger Jesu. Dann sind sie aber
auch nicht die, die alles wissen und es den anderen nur eintrichtern
müssen. „Zu Jüngern machen“ heißt vielmehr: mit anderen zusammen
auf Jesus hören, mit ihnen gemeinsam immer neu danach fragen, was
er uns zu sagen hat. Deshalb heißt es ja auch nicht: „lehrt sie
alles halten, was ihr über mich wisst“, sondern: „was ich euch befohlen
habe“. Auch dazu müsste man jetzt wieder das ganze Evangelium lesen.
Man müsste zum Beispiel die Bergpredigt noch einmal neu durchbuchstabieren.
Ich denke, dass darin auch für unsere heutige Situation in Kirche
und Gesellschaft viel Stoff zum Nachdenken steckt.

Und drittens:
Jüngerinnen und Jünger sind Leute, die nun selber von Jesus losgeschickt
werden: hin zu den Menschen, denen seine Liebe gilt. Taufen sollen
sie, taufen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Sie sollen den Menschen damit zeichenhaft deutlich machen,
dass sie zu Gott gehören, und zwar zu Gott, wie er sich in Jesus
Christus offenbart hat und uns durch den Heiligen Geist nahe sein
will. Alles, was sie daran hindert, dürfen sie von sich abwaschen
lassen. Und lehren sollen die Jünger durch Wort und Tat: predigen,
aber auch Kranke heilen, von Gott reden, aber auch für die Menschen
da sein. Von beidem wird die Kirche also auch mit knapperen Ressourcen
nicht lassen können – weder in der Gemeindearbeit noch in der Diakonie
noch auf irgendeinem anderen Arbeitsfeld.

Und dann ist mir
noch ein letztes an diesem Text wichtig: Was der auferstandene Jesus
über den Auftrag seiner Jünger zu sagen hat, beginnt und endet mit
einer Zusage: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“
und: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ Einer Kirche,
die das nicht vergisst, der muss um ihre Zukunft nicht bange sein.
Nur sollte sie sich Gedanken machen, wo denn in ihr etwas von diesem
„ich bin bei euch“ spürbar wird – auch für Menschen, die nicht schon
immer dazu gehören. Dazu kann sie etwas beitragen, durch die Gestaltung
ihrer Gottesdienste oder ihrer Diakonie zum Beispiel, vor allem
aber, indem sie Gottes Zusage beim Wort nimmt und immer wieder um
seine Gegenwart bittet. Wir können darauf vertrauen, dass Gott solche
Bitten nicht enttäuschen wird.

Amen.