Predigt vom 23.8.2009

GOTTESDIENST FÜR DEN ELFTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

mit Taufe von Charlotte Pielach
und Amelie Bruch
Talkirche, 23.8. 2009
Text: Lk 18,9-14

Jesus sagte zu einigen, die sich anmaßten,
fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:

Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel,
um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der
Pharisäer stand für sich und betete so: „Ich danke dir, Gott, dass
ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher
oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und
gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“ Der Zöllner aber
stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern
schlug an seine Brust und sprach: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht
jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden;
und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Schon mancher fromme Mensch, der eine Predigt
zu diesem Text hörte, stand hinterher für sich und betete so: „Herr,
ich danke dir, dass ich nicht bin wie dieser Pharisäer!“ Denn Pharisäer
haben einen schlechten Ruf, und dieses Gleichnis Jesu scheint das
zu bestätigen: Pharisäer sind selbstgerechte Heuchler, von sich
und ihren frommen Leistungen eingenommen und voll hochnäsiger Verachtung
für all die armen Sünder, denen es nicht gelingt, sich an die Zehn
Gebote zu halten. Aber sie täuschen sich gründlich darin, weil sie
nicht wahrhaben wollen, dass kein Mensch aus eigener Kraft Gott
recht sein kann, sondern letztlich in die Bitte des Zöllners einstimmen
muss: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“

Lange Zeit hat man nicht gesehen, dass Jesus
hier das Bild des Pharisäers bewusst überzeichnet. Man hat aus diesem
Gleichnis und aus anderen Stellen der Evangelien ein Pauschalurteil
über alle Pharisäer, ja über alle frommen Juden gemacht, und man
hat damit fatalen Vorurteilen Vorschub geleistet. Aber diese Vorurteile
sind unfair und falsch. Denn die Pharisäer zur Zeit Jesu waren durchweg
anständige und ehrenwerte Leute, und das meine ich jetzt ganz ohne
Ironie. Für sie war die Torah, das Gesetz des Mose Gottes gute Weisung
für sein Volk. Und sie nahmen es besonders ernst, um sich dieser
großen Gabe würdig zu erweisen – ohne sich deswegen für unfehlbar
zu halten. Sicher wird es unter ihnen auch den einen oder anderen
selbstgerechten Heuchler gegeben haben. Aber sicher nicht häufiger
als, sagen wir mal, unter frommen Siegerländer Gemeinschaftsleuten
oder unter treuen Klafelder Kirchgängern.

Der „Pharisäer“, den Jesus uns hier schildert,
ist also eine Karikatur. Und wie alle guten Karikaturen stellt sie
einen Menschen nicht naturgetreu dar, aber sie hat einen wahren
Kern, der durch die Übertreibung deutlich werden soll. Jesus möchte
den Frommen unter seinen Zuhörern den Spiegel vorhalten. Es ist
durchaus Absicht, wenn sie erst einmal sagen: „Nein, so bin ich
nicht!“ Aber im zweiten Gedankengang sollen sie dann ins Nachdenken
kommen: „Halt: Könnte da nicht doch was dran sein? Hab ich nicht
tatsächlich etwas von einem solchen Pharisäer an mir?“

Und diese Frage lässt uns das Gleichnis bis
zum heutigen Tag stellen – uns, die wir keine frommen Juden sind,
aber mit Ernst Christen sein wollen. Wie gesagt, sind auch wir in
aller Regel keine selbstgerechten Heuchler und wollen es auch nicht
sein. Und doch hockt im Herzen eines jeden von uns ein kleiner „Pharisäer“.
Es braucht nur die passende Gelegenheit, und schon drängt er sich
ans Licht.

Zum Beispiel neulich in der Frauenhilfe: Ich
halte eine kurze Andacht über das doppelte Gebot der Liebe, das
Jesus einem Schriftgelehrten ans Herz legt: „Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen
Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Und ich erinnere daran, dass diese beiden Liebesgebote, nicht von
Jesus stammen, sondern aus dem Alten Testament, also schon jüdische
Gebote waren, bevor sie christliche wurden. Kommentar aus der Runde:
„Aber die halten sich ja nicht dran!“ Und dann kommt das ganze Elend
des Nahostkonflikts zur Sprache: Juden gegen Muslime, Palästinenser
gegen Israelis, Gewalt gegen Gewalt. Irgendjemandem fällt noch ein:
„Im Koran steht doch auch, dass man nicht töten soll, oder?“

Und schon sitzen wir in der „Pharisäer-Falle“:
Wir ereifern uns darüber, dass Angehörige anderer Religionen sich
nicht an ihre eigenen Gebote halten. Wir schütteln die Köpfe über
die Gewaltexzesse im fernen Orient oder im finsteren Afrika, vielleicht
auch in den Problemvierteln unserer Städte. Wir tun dies aus dem
sicheren Schoß eines Landes, in dem seit über sechzig Jahren Frieden
und Wohlstand herrschen, aus der vergleichsweise heilen Welt unserer
Familie, unseres Dorfes, unserer Gemeinde. Wir tun es als Menschen,
die dank Herkunft, Erziehung und Status noch nie mit dem Gesetz
in Konflikt gekommen sind, von gelegentlichen Strafzetteln mal abgesehen.
Wir tun es als Christen, die Gottes Gebote ernst nehmen und nach
Kräften danach leben. Und wir sind so beschäftigt mit der empörenden
Schlechtigkeit anderer Menschen, dass wir ganz vergessen, uns selber
auf den Zahn zu fühlen.

Wie wäre es denn, wenn ich nicht in einem
behüteten Elternhaus groß geworden wäre? Wenn ich eine Mutter gehabt
hätte, die es in keiner Beziehung lange aushält und ständig die
Partner wechselt und mich, ihr Kind, als Betriebsunfall betrachtet,
für den sie keine Liebe übrig hat? Wenn ich einen Vater gehabt hätte,
der den Frust über seine Arbeitslosigkeit im Alkohol ertränkt und
dann in seinen Hass auf die Welt und auf sich selbst an Frau und
Kindern auslässt? Wenn ich nie gelernt hätte, mich an Regeln zu
halten und immer vor die Glotze gesetzt und mit Süßigkeiten abgefüttert
worden wäre, um mich ruhig zu halten? Wie würde ich dann wohl jetzt
leben? Was würde aus Charlotte und Amelie werden, wenn sie solche
Eltern hätten? Was für Werte könnten sie später mal ihren eigenen
Kindern weitervermitteln? Und wie könnten sie jemals begreifen,
was die Bibel mit „Liebe“ meint und dass Gott sie lieb hat?

Oder wie wäre es, wenn ich in Israel oder
Palästina leben müsste? Wenn ich ständig Angst haben müsste, dass
der Mann neben mir an der Bushaltestelle einen Sprengstoffgürtel
trägt? Oder von der anderen Seite aus betrachtet: Wenn ich hinter
einer Mauer leben müsste, mindestens so undurchdringlich wie früher
in Berlin, abgeschnitten von der Außenwelt, ohne Chance, im Leben
irgendwie voranzukommen? Würde ich dann die Liebesgebote meiner
heiligen Schrift hoch halten? Oder sprängen mir nicht eher die Aufrufe
zur Gewalt gegen Ungläubige und Unterdrücker ins Auge? Denn die
stehen da ja auch – im Koran und in der Bibel!

Und schließlich? Wie sieht es aus, wenn ich
ehrlich in mich hineinhorche? Wie oft geschehen da in Gedanken und
Worten Dinge, für die andere ins Gefängnis kommen! Und selbst wenn
nicht: Könnte ich die Hand dafür ins Feuer legen, dass das immer
so bleibt? Dass ich mich nicht auf unlauterem Weg bereichern würde,
wenn die Gelegenheit günstig und der Gewinn hoch genug wäre? Kann
ich garantieren, dass ich nie zur Gewalt greifen würde, egal, was
man mir antut? Bin ich mir sicher, dass nichts und niemand meine
Ehe gefährden könnte? Und ist mein Glaube so stark, dass er jeder
Anfechtung standhalten würde?

Solche ehrliche Selbstprüfung ist unbequem
und deshalb unbeliebt. Aber sie ist sehr dazu angetan, uns auf den
Teppich zu holen und den kleinen „Pharisäer“ in uns zum Schweigen
zu bringen. Wir können dann nicht mehr selbstbewusst beten: „Ich
danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute!“ Sondern
höchstens: „Ich danke dir, Gott, dass du mich in Verhältnissen und
mit Menschen hast groß werden lassen, die mich davor bewahrt haben,
zum Räuber, Betrüger, Ehebrecher, Mörder zu werden. Und ich bitte
dich für alle, die dieses große Glück nicht hatten, dass du sie
aus den Teufelskreisen, in denen sie gefangen sind, herausfinden
lässt, dass du ihre Verhältnisse änderst und dass du auch mir zeigst,
was ich dafür tun kann, damit alle Menschen die gleichen Chancen
bekommen.“

Und dann, wenn der „Pharisäer“ in uns schweigt,
dann tun wir gut daran, zum „Zöllner“ zu werden und einzusehen:
„Ich bin kein besserer Mensch als alle anderen auch. Ich mag als
anständig und unbescholten gelten, aber ich weiß, wie oft das nur
Fassade ist und wie wenig ich mir dessen sicher sein kann. Es bringt
mich Gott nicht näher, wenn man mich für einen von den Guten hält.
Kein Weg führt von mir zu ihm. Ich kann nur hoffen, dass er zu mir
kommt, dass er mir Sünder gnädig ist und mich ihm recht sein lässt.“
Jesus sagt, dass diese Hoffnung begründet ist: „Dieser ging gerechtfertigt
hinab in sein Haus“, heißt es im Gleichnis. Und das gilt für jeden,
der es sich sagen lässt – für die Zöllner, aber auch für die Pharisäer.
Dafür steht Jesus selber ein: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen
und nicht die Gerechten.“ Dafür hat er gelebt, dafür ist er gestorben,
dafür hat Gott ihn auferweckt. Und wenn ich das für mich wahr sein
lasse, so, wie es mir von der Taufe an zugesagt ist, dann bleibt
mir zum Schluss nur noch folgendes Gebet: „Ich danke dir, Gott,
dass ich genauso bin wie all die anderen Menschen: ein Mensch, den
du liebst.“

Amen.