PREDIGT FÜR DEN PFINGSTSONNTAG

GOTTESDIENST FÜR DEN PFINGSTSONNTAG

Talkirche, 31.5. 2009
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Barmer Theologische Erklärung

Zu Pfingsten hat die Kirche Geburtstag. Von
jenem ersten Pfingstfest in Jerusalem an gerechnet wird sie heute
wahrscheinlich 1979 Jahre alt – kein rundes Jubiläum, aber doch
wie jedes Jahr ein Grund zum Feiern. Und zum Staunen. Denn auf ein
so langes Erdenleben war sie ja nicht angelegt. Die ersten Christen
rechneten allenfalls mit ein paar Jahren bis zu Jesu Wiederkunft.
Um trotzdem so alt zu werden, musste die Kirche sich vielfältig
wandeln und den jeweiligen Zeiten und Orten anpassen, sie musste
sich aber auch immer wieder auf ihr Wesen, auf den Kern ihres Glaubens
besinnen, um sich nicht in der Welt und an die Welt zu verlieren.

Ein solches Ereignis jährt sich genau heute
zum 75. Mal: Am 31. Mai 1934 wurde auf der ersten Bekenntnissynode
der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen-Gemarke die Barmer
Theologische Erklärung verabschiedet. Gegen die Irrlehre der Deutschen
Christen bekannten sich erstmals reformierte, lutherische und unierte
Christen gemeinsam zu Kernaussagen ihres Glaubens. Der Stellenwert
dieses „Bekenntnisses“ war bald schon wieder umstritten, besonders
bei den Lutheranern. Und doch war den evangelischen Kirchen in Deutschland
damit ein neuer Weg gewiesen, der sie zu ihrer ureigenen Sache rief
und schließlich, Jahrzehnte später, die Trennungen der Reformationszeit
überwand.

Wir sollten uns noch mal vor Augen führen,
wie es dazu kam:

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler
und machte sich sofort daran, alle Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens mit seiner Ideologie der „Volksgemeinschaft“ zu durchdringen.
Alle noch unabhängigen Organisationen sollten mit Staat und Partei
„gleichgeschaltet“ und straff nach dem „Führerprinzip“ organisiert
werden. In den evangelischen Kirchen schien Hitler damit leichtes
Spiel zu haben, denn die meisten ihrer Pfarrer und führenden Persönlichkeiten
waren stramm national und hatten die so genannte „Machtergreifung“
ausdrücklich begrüßt. Sie hielten es von sich aus für das Gebot
der Stunde, die Zersplitterung des deutschen Protestantismus zu
überwinden und eine einheitliche „Reichskirche“ zu schaffen, mit
einem lutherischen „Reichsbischof“ an der Spitze.

Diese Chance zur Gleichschaltung der evangelischen
Kirchen ergriffen die Nazis mit Hilfe der so genannten „Deutschen
Christen“. Die hielten Christentum und Nationalsozialismus für bestens
miteinander vereinbar und betrachteten Adolf Hitler als Werkzeug
Gottes zur Rettung des deutschen Volkes. Bei den ersten deutschlandweiten
Kirchenwahlen im Juli 1933 wurden sie von der NS-Propaganda massiv
unterstützt und errangen so 75 % der Sitze in den Presbyterien und
Synoden. Mit dieser überwältigenden Mehrheit wählten sie Hitlers
„Bevollmächtigten in Kirchenfragen“, den Königsberger Wehrkreispfarrer
Ludwig Müller zum Reichsbischof. Der machte sich sogleich rücksichts-
und charakterlos an das Werk der „Gleichschaltung“: Handstreichartig
wurden Landeskirchen unter deutschchristlicher Führung in die Reichskirche
eingegliedert, die evangelische Jugendarbeit wurde der HJ zum Fraß
vorgeworfen, und Pfarrer jüdischer Herkunft wurden schikaniert und
aus dem Dienst entfernt. Selbst von den radikalsten Äußerungen seiner
Leute, die die Abschaffung des Alten Testaments und die Predigt
eines „arischen Christus“ forderten, distanzierte sich Müller höchstens
halbherzig.

Das ging nun aber vielen zu weit – selbst
solchen, die politisch gegen das Nazi-Regime nichts einzuwenden
hatten. In der Kirche der altpreußischen Union, deren offizielle
Organe fest in der Hand der „Deutschen Christen“ waren, bildeten
sich freie Synoden, die ungeschmälert an Schrift und Bekenntnis
als Grundlage der Kirche festhalten wollten. Gemeinsam mit den noch
nicht gleichgeschalteten süddeutschen Landeskirchen erhoben sie
den Anspruch, die wahre „Deutsche Evangelische Kirche“ zu sein.
Um diesem Anspruch eine solide theologische und juristische Grundlage
zu verleihen, berief man für den 29. Mai eine Reichs-Bekenntnissynode
nach Barmen ein. 139 Delegierte aus fast allen deutschen Landeskirchen
kamen dort zusammen, darunter immerhin 55 Nichttheologen, allerdings
nur eine einzige Frau. Der Text der „Theologischen Erklärung“ stammte
hauptsächlich von dem reformierten Theologen Karl Barth, war aber
sorgfältig mit den beiden Lutheranern Hans Asmussen und Thomas Breit
abgestimmt. Trotzdem wurde auf der Synode noch viel darüber diskutiert
und am Wortlaut gefeilt. Am Ende nahmen die Delegierten die Erklärung
aber einstimmig an.

Es ging ihnen dabei ausdrücklich um eine innerkirchliche
Auseinandersetzung und nicht um politischen Widerstand. Auch die
Gestapo sah es so und ließ die Synode deshalb gewähren. Mancher
hätte sich auch schon damals und im Rückblick erst recht deutlichere
Worte gegen die Judenverfolgung gewünscht (nur das Problem der „nichtarischen“
Pfarrer tauchte mal am Rande auf). Aber immerhin war es eine klare
und deutliche Absage an die Deutschen Christen und dadurch auch
eine Absage an den totalitären Staat. „Wir verwerfen die falsche
Lehre“, heißt es in der 5. These, „als solle und könne der Staat
über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
menschlichen Lebens werden“. Christ und zugleich überzeugter Nazi
zu sein, das ging auf der Basis der Barmer Erklärung nicht mehr.

Nun kann man sich freilich fragen, was uns
das alles noch angeht. Die Hitlerei ist längst zu Ende und die „Deutschen
Christen“ sind zu Recht in der Versenkung verschwunden. Trotzdem
gehören die Barmer Thesen immer noch zu den Bekenntnisgrundlagen
der meisten evangelischen Landeskirchen, und das ist gut. Denn so,
wie sie formuliert sind, in enger Anlehnung an Worte der Bibel,
weisen sie über die konkrete Situation von damals hinaus und können
auch für uns wichtige Orientierung bieten. An ein paar Beispielen
möchte ich das noch kurz erläutern.

„Jesus Christus, wie er uns in der heiligen
Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören,
dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“
So lautet die grundlegende erste Barmer These unter Berufung auf
Johannes 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand
kommt zum Vater denn durch mich.“ Und sie fügt hinzu: „Wir verwerfen
die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer
Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch
andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes
Offenbarung anerkennen.“

Hochaktuell ist die Frage, was das eigentlich
für unseren Dialog mit anderen Religionen bedeutet. Um es vorweg
zu sagen: Ich halte es für dringend notwendig, dass wir diesen Dialog
führen – friedlich, gleichberechtigt und offen für das, was wir
über andere und von anderen lernen können. Aber wir sollten dabei
nicht hinter dem Berg halten, wo das Herz unseres christlichen Glaubens
schlägt, was und wer für uns die Wahrheit und das Leben ist. Natürlich
werden Juden oder Muslime daran Kritik üben – sonst müssten sie
ja Christen werden – , aber wenn wir uns ihnen gegenüber nicht klar
und deutlich zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes bekennen,
wie sollen sie uns dann ernst nehmen und wissen, wofür wir stehen?

Ein anderes Beispiel: „Die christliche Kirche“,
so lautet die dritte These, „ist die Gemeinde von Brüdern („Geschwistern“,
würden wir heute sagen), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament
durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat
mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie
mit ihrer Ordnung … zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist.
… Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt
ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel
der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen
überlassen.“

Niemand wird heute noch eine evangelische
Kirche nach dem „Führerprinzip“ organisieren wollen. Aber trotzdem
stehen wir immer wieder in der Gefahr, die Form der Verkündigung
oder der Kirchenordnung als bloße Verpackung zu sehen und sie unbedacht
dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Wir leben in einer Zeit, in
der die Wirtschaft das Maß aller Dinge ist? Dann muss auch die Kirche
mit Management-Methoden auf Vordermann gebracht werden. Wir leben
in einer Spaß- und Erlebnisgesellschaft? Dann muss auch Kirche „Event-Charakter“
haben, um für den besonderen Kick zu sorgen. Wir leben in einer
Zeit des Individualismus, in der sich verbindliche Gemeinschaften
immer mehr auflösen und wo auch der Glaube zu einer diffusen Privatsache
verkümmert? Dann darf auch die Kirche keinem mehr zu nahe treten
mit unbequemen Ansprüchen und Forderungen. Sonst treten die Leute
womöglich aus, und uns fehlt die Kirchensteuer – da liegen unsere
Gleichschaltungs-Gefahren!

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich
bin froh über die Vielfalt unserer Kirche und will aus ihr keine
„Christliche Versammlung“ machen, bei der alles streng nach dem
Wortlaut (nicht unbedingt nach dem Geist) der Bibel reguliert ist.
Aber wenn wir immer nur kopf- und geistlos dem Zeitgeist hinterher
hecheln, sind wir nur noch peinlich. Eine Kirche, die den Leuten
nach dem Mund redet und ihnen keinerlei (Denk)Anstoß mehr bietet,
ist wird nicht mehr gebraucht. Abgesehen davon ist es ja noch nicht
mal das, was die Leute von uns wollen. Sie wollen wissen, wofür
wir stehen, sie suchen Orientierung, sie wollen, dass wir klare
Positionen beziehen, und sei es, um sich darüber ärgern zu können.
Mit dem ganzen Reichtum der biblischen Überlieferung hätten wir
ihnen dabei eine Menge zu bieten. Wir sollten es ihnen nicht vorenthalten.

Und noch ein letztes Beispiel: „Die Schrift
sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat,
in der noch nicht erlösten Welt … nach dem Maß menschlicher Einsicht
und menschlichen Vermögens … für Recht und Frieden zu sorgen. Die
Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser
seiner Anordnungen an. Sie erinnert an Gottes Reich, Gottes Gebot
und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden
und Regierten.“ Das sagt die fünfte Barmer These angesichts einer
Diktatur, deren totalitärer, menschenverachtender Charakter schon
erkennbar war. Ob man damals mehr und anderes hätte sagen müssen,
darüber kann man streiten. Nicht bestreiten kann man, dass wir heute
viel mehr Grund haben, so zu reden. Wir leben in einem freien und
friedlichen Land mit einer demokratischen Verfassung und einer verlässlichen
Rechtsordnung. Wo wir trotzdem etwas zu kritisieren haben, dürfen
wir das tun, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Und wenn
wir etwas verändern wollen, haben wir viele Möglichkeiten, uns dafür
einzusetzen. Beste Bedingungen also, um als evangelische Kirche
die Regierenden an Gottes Gebot zu erinnern. Dann, so finde ich,
sollten wir das aber nicht nur den Hubers oder Käßmanns überlassen,
die das ja im Großen und Ganzen ordentlich machen, sondern auch
selber in Wort und Tat Stellung beziehen, wo es nötig ist. Kein
Christ muss zum Beispiel sonntags einkaufen. Keiner muss mit umweltbewusstem
Handeln warten, bis es entsprechende Gesetze und Vorschriften gibt.
Keiner muss Produkte kaufen, die von indischen Kindern oder südamerikanischen
Bauern für Hungerlöhne hergestellt wurden. Und wir müssen auch nicht
in das billige Genörgel über „die da oben“ einstimmen, wenn wir
selbst nicht bereit sind, es besser zu machen.

Wir merken schon: Das, was die Barmer Theologische
Erklärung von der Bibel her zu sagen hat, ist auch nach 75 Jahren
nicht überholt. Wir dürfen getrost annehmen, dass der Heilige Geist
am Werk war, als 139 sehr verschieden geprägte evangelische Christen
sich darüber einig wurden und sie einstimmig verabschiedeten – fast
so ein Sprachenwunder wie zu Pfingsten in Jerusalem. Möge der frische
Geisteswind von damals auch zu uns herüberwehen und uns dorthin
treiben, wo Menschen unser Bekenntnis brauchen – in Wort und Tat.

Amen.