Predigt vom 18.7.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SIEBTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
u. Wenschtkirche, 18.7. 2010
Text: Apg 2,42-47

„Jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne“, hat Hermann Hesse gedichtet. Und ich denke,
er hat Recht damit. Wenn etwas neu beginnt, wenn alles noch frisch
und unverbraucht ist, wenn das Neue voller Energie steckt, die jeden
mitreißt, der damit in Berührung kommt, dann sieht es in der Tat
so aus, als ob nichts unmöglich ist, als ob auch die größten Wunder
Wirklichkeit werden könnten. Bei frisch Verliebten oder frisch Verheirateten
ist das so, bei Kindern am ersten Schultag, bei Erwachsenen am ersten
Tag im lang ersehnten Job, ja selbst bei Politikern, die gerade
eine Wahl gewonnen haben.

Aber der Volksmund
sagt ebenfalls zu Recht: Aller Anfang ist schwer. Und deshalb ist
der Zauber, der in jedem Anfang steckt, meist schnell verflogen.
Irgendwann kommt der erste Ehekrach, die erste Fünf, der erste Rüffel,
die erste Koalitionsverhandlung und sorgt für Ernüchterung. Und
dann verblasst, was so verheißungsvoll begann, im Grau des Alltags,
bis einem das anfängliche Glücksgefühl wie ein Märchen vorkommt.

So geht es uns
wohl auch, wenn wir als Christen des Jahres 2010 lesen, was Lukas
in der Apostelgeschichte über die Anfänge der ersten christlichen
Gemeinde schreibt. Wir hören den heutigen Predigttext, Apg 2,42-47:

 

Sie blieben aber
beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im
Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und
es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle
aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle
Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus
unter alle, je nach dem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich
einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort
in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen
und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr
aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

 

Nicht wahr, das
klingt für heutige Ohren in der Tat wie ein Märchen!

„Es geschahen
Zeichen und Wunder durch die Apostel“, und was geschieht heute?
Gemeindehausschließungen, die Trauer und Unmut verursachen. Verfahrensfehler
bei Kündigungen, die viel Geld kosten. Sexueller Missbrauch, der
ignoriert und vertuscht wird, und das – wie wir spätestens seit
der vergangenen Woche wissen – nicht nur in der katholischen Kirche.

„Sie waren beieinander
und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und
teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“ Und
wie steht es heute um den Besitz der Kirche, der Gemeinden und ihrer
Gläubigen? Da ist es ja schon schwer genug die Kindergarten- und
Jugendarbeit in unserem Kirchenkreis solidarisch zu finanzieren.
Oder wichtige diakonische Arbeitsbereiche zu erhalten, die ihre
Kosten nicht wieder einfahren. Und wo übt schon mal jemand echten
Verzicht zugunsten armer Glaubensgeschwister? Gespendet wird doch
nur, solange es nicht wehtut und steuerlich absetzbar ist!

„Sie waren einmütig
beieinander und brachen das Brot hier und dort in den Häusern“ –
und heute? Allein auf dem Gebiet unserer Kirchengemeinde gibt es
mehr als zehn verschiedene Gemeinschaften von Christen, die alle
ihr Eigenleben pflegen. Die meisten von ihnen begegnen sich zwar,
machen manches gemeinsam – in der Allianz, in der Ökumene, vertragen
sich auch schon viel besser als früher, aber nur, solange bestimmte
Themen nicht angesprochen werden: Homosexualität zum Beispiel oder
historisch-kritische Bibelauslegung – schon innerhalb unserer Gemeinde
kämen wir dabei wohl kaum auf einen gemeinsamen Nenner. Und ob evangelische
und katholische Christen je gemeinsam das Brot werden brechen, sprich:
Abendmahl feiern können – hier und dort in den Häusern – das steht
in den Sternen.

„Und fanden Wohlwollen
bei dem ganzen Volk“ – auch davon kann nach allem Gesagten keine
Rede sein, das versteht sich von selbst. Dass innerhalb eines halben
Jahres die beiden angesehensten Bischöfinnen unserer Kirche sich
zum Rücktritt veranlasst sahen – aufgrund vergleichsweise kleiner,
im Falle von Maria Jepsen noch nicht mal erwiesener Fehler – das
mag man hochanständig oder übertrieben finden, es zeigt aber auf
jeden Fall, wie stark den Kirchen zur Zeit der Wind ins Gesicht
bläst und wie schlecht selbst anerkanntes Führungspersonal dem standhalten
kann.

Nun ist es natürlich
richtig, dass Lukas in diesen Versen ein Idealbild der Urgemeinde
zeichnet. Mit der real existierenden Gemeinde von Jerusalem war
es schon damals nicht zur Deckung zu bringen. Auch da gab es schon
Streit in der Diakonie – Stichwort: Versorgung der Witwen – und
Streit um Glaubensfragen, etwa darum, ob Christen weiter im Tempel
Opfer darbringen sollen oder nicht. Und der „Kommunismus“ hat auch
damals in Jerusalem nicht wirklich funktioniert. Erstens gab es
manche, die dann doch heimlich ihren Teil für sich behielten – abschreckendes
Beispiel: Ananias und Saphira – und zweitens, war die Gemeinde bald
so verarmt, dass Paulus in seinen Gemeinden für sie Sammeln  gehen
musste.

Aber auch diese
ernüchternden Tatsachen helfen uns nicht weiter. Denn im Grunde
geben wir dem Autor der Apostelgeschichte ja Recht: Eine ideale
Gemeinde, eine Kirche, die wirklich eins zu eins umsetzt, was Jesus
wollte, die müsste tatsächlich so aussehen, wie Lukas sie beschreibt:
beständig, einmütig, freigebig und fröhlich und damit ein Leuchtstern
und Anziehungspunkt für alle Menschen. Dieses Ideal ist nun mal
in der Welt, und wir messen uns daran und werden daran gemessen,
ob wir wollen oder nicht. Der Satz „Christen sind doch auch nur
Menschen“ ist zwar unbestreitbar richtig, aber als Entschuldigung
oder Selbsttröstung hilft er uns gar nichts.

„Mann, ist das
eine frustrierende Predigt heute“, denken Sie jetzt vielleicht,
und bis jetzt bin ich geneigt, Ihnen Recht zu geben. Denn bis jetzt
habe ich das Ideal, das Lukas zeichnet, in der Tat so verstanden,
dass man sich daran nur Frust holen kann. Ich habe nämlich so getan,
als könnten Ideal und Wirklichkeit deckungsgleich werden. Ideale
sind aber gar nicht als Beschreibung von Wirklichkeit gedacht –
weder vergangener, noch gegenwärtiger noch zukünftiger. Wenn wir
sie so verstehen, können wir nur an ihnen scheitern und enden als
gebrochene Existenzen oder als Zyniker.

Nein, Ideale sind
nicht von dieser Welt und werden es niemals sein. Aber sie können
uns die Richtung weisen, in die es gehen soll. Sie können uns ein
Ansporn sein, uns ihnen so weit wie möglich zu nähern, auch wenn
wir wissen, dass wir sie nie erreichen können. So ist es auch mit
diesem Idealbild einer christlichen Gemeinde. Es gab sie so nie,
und es wird sie auf Erden so nicht geben. Aber die Richtung stimmt,
und darauf kommt es an.

Wenn wir in diese
Richtung gehen wollen, wenn wir wollen, dass Menschen spüren, welches
Ideal uns beseelt, dann tun wir am besten das, was Lukas im ersten
Satz des Textes sagt: fest halten an der Lehre der Apostel, der
Gemeinschaft, dem Brotbrechen und dem Gebet. Zu jedem dieser vier
Stichworte seien mir noch ein paar Sätze vergönnt.

Erstes Stichwort:
Lehre der Apostel – das ist für uns heute die Bibel, die heilige
Schrift Alten und Neuen Testaments. Erfahrungen mit Gott aus einem
Jahrtausend Menschheitsgeschichte haben sich in ihr niedergeschlagen.
Das ist ein Schatz, der auch ganz objektiv nicht seinesgleichen
hat. Was wir hier alles über Gott und die Welt erfahren, das ist
noch längst nicht ausgelotet. Immer noch gibt es Neues zu entdecken,
und Altvertrautes zu bewahren, das seinen Wert nie verliert. Wenn
unsere Kirche also noch einmal einen neuen Aufbruch erleben soll,
dann muss er aus der Bibel erwachsen – so wie es bei allen Aufbrüchen
der Kirchengeschichte gewesen ist. Die Kraft dazu hat sie allemal
– wir müssen sie ihr nur zutrauen.

Zweites Stichwort:
Gemeinschaft – die war vielleicht nie so wertvoll wie heute, wo
zunehmend jeder für sich und jeder gegen jeden steht. Ich glaube,
der Tag ist nicht mehr fern, an dem viele Menschen den grenzenlosen
Individualismus satt haben und uns Christen fragen: Wie geht das,
mit anderen zu leben, miteinander zu teilen und einander etwas mitzuteilen,
gemeinsam stärker zu sein als allein? Gut, wenn wir es ihnen dann
noch sagen können! Wenn wir Ihnen Gemeinschaft vorleben, wo einer
des andern Last trägt und einer des andern Freude teilt. Wenn unsere
Gemeinschaft einladend und auf Zuwachs angelegt ist. Und wenn wir
sie spüren lassen, dass es niemand anders als Gott selbst ist, der
unsere Gemeinschaft zusammenhält.

Damit bin ich
schon beim dritten Stichwort: beim Brotbrechen. Denn das Abendmahl
ist das Herz unserer Gemeinschaft. Hier ist Gott in Christus selbst
in unserer Mitte. Hier lässt er uns schmecken und sehen, wie freundlich
er ist. Hier wird seine Liebe, sein Trost, seine Vergebung sinnlich
erfahrbar. Eigentlich feiern wir es dafür viel zu selten, und viel
zu wenige von uns nehmen daran teil. – Wissen Sie was ich toll fände?
Wenn wir, wenn schon nicht täglich, dann wenigstens jeden Sonntag
miteinander Abendmahl feiern würden (das immerhin können wir von
unseren katholischen Geschwistern lernen). Wenn wir endlich die
falschen reformierten Skrupel ablegen würden, dass wir oder irgendein
Mitchrist womöglich unwürdig sein könnte, am Mahl des Herrn teilzunehmen.
Wenn wir unsere Kinder aus innerer Überzeugung am Abendmahl teilnehmen
ließen, damit sie in die Gemeinschaft der Glaubenden hineinwachsen,
zu der sie durch die Taufe schon gehören. Wenn an unseren Abendmählern
deutlicher würde, dass wir dabei nicht eines Verstorbenen gedenken,
sondern unseren lebendigen, auferstanden Herrn in unserer Mitte
feiern – nicht durch aufgesetzte Fröhlichkeit, aber mit sichtbarer
„Freude und lauterem Herzen“, wie es im Text heißt. Und natürlich,
wenn endlich alle christlichen Konfessionen ohne Wenn und Aber am
Tisch des Herrn vereint wären.

Jetzt bin ich
allerdings schon wieder dabei, ins Träumen zu kommen. Wenn es dabei
nicht bleiben soll, dann braucht es noch das vierte Stichwort: das
Gebet. Das heißt: mit Gott in Verbindung bleiben  – als Einzelner
und als Gemeinde. Mit ihm reden und Antwort von ihm erwarten. Und
uns offen halten für sein Wirken. Denn wenn Gott durch seinen guten
heiligen Geist nicht das Gelingen gibt, dann taugt das Ideal noch
nicht mal als Ansporn. Auch im Text ist es der Herr selber, der
täglich die Geretteten hinzufügt. Dass er das tun will, das hat
er uns versprochen. Und an dieses Versprechen dürfen wir ihn jederzeit
erinnern.

Amen.

Predigtext zu Christi Himmelfahrt

GOTTESDIENST FÜR CHRISTI HIMMELFAHRT

Klafelder Markt, 13.5. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Apg 1,3-12

Nach seinem
Leiden zeigte sich Jesus den Aposteln durch viele Beweise als der
Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und
redete mit ihnen vom Reich Gottes. Und als er mit ihnen zusammen
aß, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten
auf die Verheißung des Vaters, „die ihr“, so sprach er, „von mir
gehört habt; denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt
mit dem heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen.“

Die nun zusammengekommen
waren, fragten ihn und sprachen: „Herr, wirst du in dieser Zeit
wieder aufrichten das Reich für Israel?“ Er sprach aber zu ihnen:
„Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater
in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des heiligen
Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und ihr werdet meine
Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis
an das Ende der Erde.“ Und als er das gesagt hatte, sahen sie, wie
er aufgehoben wurde, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen
weg.

Und als sie
ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen
zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: „Ihr Männer von Galiläa,
was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch
weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr
ihn habt gen Himmel fahren sehen.“ Da kehrten sie nach Jerusalem
zurück vom Ölberg, der nahe bei Jerusalem liegt.

An einem Satz
bin ich hängen geblieben, als ich mich mit diesem Abschnitt aus
der Apostelgeschichte beschäftigt habe. Er steht ziemlich am Ende
des Textes. Da werden die Apostel von zwei Männern in weißen Gewändern
gefragt: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum
Himmel?“

Nein, hab ich
mir gedacht, als ich das gelesen habe, eines kann man uns Christen
heute in Deutschland, in Siegen, in Geisweid bestimmt nicht nachsagen:
dass wir dastehen und in den Himmel starren – nicht einmal dann,
wenn wir freien Blick auf den Himmel haben wie heute hier auf dem
Klafelder Markt. Der Vorwurf, dass wir wie so ein geistlicher Hans-guck-in-die-Luft
durch die Gegend laufen, der würde uns nicht treffen. Wir schauen
vielleicht mit verklärtem Blick in die Vergangenheit, als das Abendland
noch christlich war (jedenfalls dem Anschein nach) und die Menschen
noch besser zusammenhielten. Wir richten unser Augenmerk auf unseren
Alltag: auf die tägliche Routine im Haushalt, am Arbeitsplatz, in
unseren Gemeinden. Wir blicken sorgenvoll auf die roten Zahlen in
den öffentlichen Haushalten – nicht nur in Griechenland –, auf den
wachsenden Egoismus und das schwindende Verantwortungsbewusstsein
vieler Menscheln. Und wir sehen zu, wie wir uns da selbst möglichst
unbeschadet durchschlagen. Aber wir lassen uns bestimmt nicht dabei
erwischen, dass wir sehnsüchtige Blicke gen Himmel werfen wie die
Apostel damals. „Jesus, geh nicht weg“, sagen diese Blicke. „Wie
sollen wir denn ohne dich zurecht kommen? Komm doch wieder, wir
brauchen dich!“ Ähnliche Worte sprechen wir zwar auch noch. Wir
beten „Dein Reich komme“ und „Dein Wille geschehe wie im Himmel,
so auf Erden“. Aber wenn wir das tun, klingt nur selten echte Sehnsucht
mit. Als evangelischer Christ deutscher Zunge bleibt man eben auch
in Glaubensdingen lieber nüchtern und realistisch – erst recht,
wenn man auch noch aus dem Siegerland kommt. Und deshalb rechnen
wir im Grunde unseres Herzens eher nicht damit, dass der Himmel
eingreift und uns von allen Sorgen befreit. Wenn wir uns dieser
Einbildung hingeben würden, so denken wir, dann würde uns das nur
davon abhalten, entschieden zu handeln und unsere Probleme tatkräftig
anzupacken.

Nein, zum Himmel
schauen wir nicht. Insofern befolgen wir die Weisung der beiden
Männer in den weißen Gewändern. Aber wenn wir das so tun, wie ich
es eben beschrieben habe, dann haben wir vergessen, warum wir nicht
zum Himmel zu schauen brauchen. Das steht in V.8 des Predigttextes.
Zweierlei gibt Jesus seinen Aposteln dort mit für die Zeit, wenn
er nicht mehr bei ihnen ist: „Ihr werdet die Kraft des heiligen
Geistes empfangen, der auf euch kommen wird – das ist das eine.
Und „ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa
und Samarien und bis an das Ende der Erde“ – das ist das andere.

Zunächst das erste:
„Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen“. Kein Befehl
ist das, kein Auftrag, sondern eine Verheißung. Lukas erzählt im
nächsten Kapitel seiner Apostelgeschichte, wie diese Verheißung
in Erfüllung geht. Da weht der Geist Gottes wie eine frische Brise
durch die Reihen der Apostel und begeistert sie für die Sache des
auferstandenen Christus. Und diese Begeisterung fließt über: Sie
müssen reden von dem, was sie erfüllt. Alle können sie verstehen,
jeder in seiner Sprache. Und viele lassen sich anstecken von Gottes
Geist, von dem Vertrauen darauf, dass in Christus Heil und Leben
zu finden ist.

Warum ist davon
bei uns Allianz-Christen hier und heute so wenig zu spüren? Warum
weht der heilige Geist so kräftig in Brasilien oder in Südkorea,
während er bei uns höchstens ein laues Lüftchen ist? Warum findet
spürbare Begeisterung bei uns vielleicht bei der Fußball-WM statt
oder bei Popkonzerten, aber nicht im Gottesdienst? Sicher, Gottes
Geist weht, wo er will, und wir können ihn nicht herbeizwingen,
erst recht nicht durch künstliche Stimmungsmache und aufgesetzte
Fröhlichkeit. Aber die Verheißung Jesu gilt doch auch uns. Warum
geschieht dann so wenig?

Verhindern können
wir das Wirken des heiligen Geistes nicht, denn es ist ja das Wirken
Gottes. Aber Paulus sagt einmal, dass man den Geist „dämpfen“ kann.
Ich glaube, genau das ist unser Problem. So wie wir unsere Wohnungen
gegen Schall und Kälte isolieren, so isolieren wir oft, wenn auch
ungewollt, unser Christsein gegen den Geist Gottes. Gottlob schaffen
wir das nie vollständig. Sonst gäbe es uns schon nicht mehr. Trotzdem
haben wir es auf diesem Gebiet zu einiger Perfektion gebracht. Wenn
zum Beispiel irgendeine Veränderung ansteht, die neue Bewegung in
unser festgefahrenes Glaubens- und Gemeindeleben bringen könnte,
dann sagen wir erst einmal: „Das haben wir doch noch nie gemacht!“
Dann tragen wir alles zusammen, was dagegen spricht, einschließlich
passender oder passend gemachter Bibelstellen, und anschließend
machen wir weiter wie bisher, solange es irgend geht. Wenn’s dann
wirklich nicht mehr geht, ist die Chance des Neuen meist verpasst.

Eine erfolgreiche
Isolierung gegen den heiligen Geist erreichen wir auch durch die
Einrichtung möglichst vieler Gremien – nach dem Motto: „Wenn ich
nicht mehr weiter weiß, dann gründ ich einen Arbeitskreis.“ Oder
einen Ausschuss. Oder eine Interessengemeinschaft. Oder ein Gesprächsforum.
Und so weiter und so fort. Da wird dann jeder gute Neuansatz so
lange hin- und hergewälzt und zerredet und auf geduldiges Papier
geschrieben, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt. Und die Beteiligten
haben sich dabei so zerstritten, dass in Zukunft keiner mehr dem
anderen über den Weg traut und alle sich gegenseitig nur noch im
Weg stehen. So läuft es jedenfalls oft bei Kirchens. In freien Werken
und Gemeinden ist das wahrscheinlich alles ganz anders – oder doch
nicht? Na, dann willkommen im Club der Leidensgenossen! Kein Wunder,
dass da keine Begeisterung aufkommen kann.

Können wir dagegen
etwas tun?  Ich denke ja. Wir könnten zum Beispiel damit anfangen,
dass wir bei viel versprechenden Neuanfängen die Bedenken klein
und die Chancen groß schreiben und mit Mut und Gottvertrauen neue
Aufbrüche wagen. Und wenn wir selber am Alten hängen und damit zufrieden
sind, dann sollten wir wenigstens andere nicht hindern, neue Wege
zu beschreiten. Und bei unseren vielen Diskussionen sollten wir
die Sache Jesu Christi in den Mittelpunkt stellen und nicht unsere
Eigeninteressen und unser gegenseitiges Misstrauen. Und vor allem
sollten wir nicht beides miteinander verwechseln. Könnte ja sein,
dass wir dann schneller fertig sind und dass mehr dabei herauskommt.
Das alles sind nur Ansätze zum Umdenken. Aber dazu müsste das, was
an heiligem Geist zu uns durchdringt, eigentlich genügend Antriebskraft
liefern. Gott gebe, dass wir uns darauf einlassen.

Wenn das geschieht,
wenn wir uns der Kraft des heiligen Geistes nicht entgegenstemmen,
sondern uns von ihr tragen lassen, dann wird auch das zweite wahr,
was Jesus sagt: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in
ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ Auch das
ist kein „Missionsbefehl“, sondern eine Verheißung. Die Apostelgeschichte
erzählt, wie sie Stück für Stück in Erfüllung geht, wie die Apostel
die Botschaft von Jesus Christus zuerst nach Jerusalem, dann nach
ganz Palästina und schließlich in alle Welt bringen. Aber die Geschichte
geht noch weiter. In der Bibel endet sie damit, dass Paulus nach
Rom kommt. Aber Rom ist ja nicht das Ende der Erde. Heute wissen
wir, dass die Erde eine Kugel ist. Also hat sie im Prinzip unendlich
viele Enden. Und an einem Ende leben wir: jeder von uns als einzelner
Christenmensch und wir zusammen als Gemeinde und als Evangelische
Allianz. Dass wir an unserem Ende der Erde seine Zeugen sein werden,
heute ganz konkret hier auf dem Klafelder Markt, das ist die Verheißung
Jesu an uns. Und wenn wir der Kraft des heiligen Geistes vertrauen,
dann wird sie sich auch durch uns erfüllen. Dann werden auch die
Menschen hier in Geisweid und Umgebung merken, dass es dort Christen
gibt, die begeistert sind von dem, was sie glauben, und die dabei
doch eine Sprache sprechen, die sie verstehen. Und sie werden sich
anstecken lassen von unserer Begeisterung. Ist das zuviel versprochen?
Ich denke, wir sollten es mal darauf ankommen lassen.

Jetzt ist aus
meiner Himmelfahrtspredigt unversehens eine Pfingstpredigt geworden.
Aber das schadet nichts. Denn Christi Himmelfahrt heißt ja eben
nicht, dass Jesus Christus nun weit weg ist – egal, ob wir das eher
beruhigend oder eher traurig fänden. Sondern es heißt, dass er durch
den heiligen Geist auf neue Weise zu uns kommt – so, wie ich es
eben zu beschreiben versucht habe. Ein Kanon in unserem Gesangbuch
beschreibt es etwas kürzer: „Der Himmel geht über allen auf, auf
alle über, über allen auf.“ Dass wir das nicht nur singen, sondern
dass es auch geschieht, das gebe Gott.

Amen.

PREDIGT FÜR DEN KARFREITAG

 

GOTTESDIENST FÜR DEN KARFREITAG

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
2.4. 2010
Text: 2. Kor 5,19-21

Gott war in
Christus und versöhnte die Welt mit sich selber, indem er ihnen
ihre Sünden nicht zurechnete, und er hat unter uns aufgerichtet
das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi
Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi
Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner
Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit
würden, die vor Gott gilt.

Paulus spricht
von Versöhnung. Aber Versöhnung ist schwer. Das merken wir schon,
wenn wir uns mit jemandem heftig gestritten haben. Es kostet immer
Überwindung, den ersten Schritt zu tun und zu sagen: „Es tut mir
leid. Lass uns die Sache aus der Welt schaffen und uns wieder vertragen!“
So ist das schon beim Streit unter Freunden oder beim Familienkrach.
Wie schwer ist Versöhnung dann erst dort, wo Menschen sich lange
Zeit abgrundtief gehasst haben, wo sie sich Jahrzehnte, wenn nicht
gar Jahrhunderte lang gegenseitig das Schlimmste angetan haben!
Da hinterlässt die Feindschaft so tiefe Gräben, dass sie kaum zu
überwinden sind. Die immer neuen Konflikte zwischen Israelis und
Palästinensern oder der dreißigjährige Krieg in Afghanistan führen
uns das deutlich vor Augen. Aber selbst dort, wo endlich äußerlich
Frieden eingekehrt ist, sind die inneren Wunden noch lange nicht
verheilt. Zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, wo in den verschiedenen
Kriegen der neunziger Jahre weit über 100 000 Menschen starben,
mehr als 2,5 Millionen ihre Heimat verloren und etliche Hauptkriegsverbrecher
immer noch nicht gefasst und verurteilt sind. Oder auch bei den
alten Schlesiern oder Ostpreußen, von denen ja etliche auch hier
bei uns leben. Vielen von ihnen fällt es auch nach mehr als sechzig
Jahren noch schwer, sich mit denen auszusöhnen, die sie auf brutale
Weise aus ihrer Heimat vertrieben haben. Zu lebendig sind immer
noch die Erinnerungen daran. Ich kann ihnen das nicht verübeln.
Genauso wenig kann ich es den Überlebenden der Konzentrationslager
übel nehmen, wenn sie nicht vergessen können und uns Deutsche immer
noch mit tiefem Argwohn betrachten. Manchmal hilft es, wenn eine
neue Generation heranwächst, die den Anlass der Feindschaft nicht
mehr persönlich erlebt hat. Aber manchmal wird die Unversöhnlichkeit
auch von Generation zu Generation weitervererbt. Immer neue Vergeltungsakte
erhalten sie am Leben.

Warum ist das
so? Warum fällt es uns so schwer, Feindschaften zu überwinden und
Versöhnung zu stiften? Aufgrund dessen, was Paulus sagt, möchte
ich dazu folgende These aufstellen: Nur wer selbst versöhnt ist,
kann sich mit anderen versöhnen. Wir merken das ja an uns selber:
Wenn wir mit uns selbst im Reinen sind, dann fällt es uns auch leichter,
friedlich und versöhnlich mit unseren Mitmenschen umzugehen. Aber
das gelingt uns höchstens zum Teil. Ganz versöhnt mit uns selbst
und mit unserer Vergangenheit zu leben, das können wir nicht aus
eigener Kraft. Denn vieles, was wir Falsches denken, sagen und tun,
lässt sich nicht einfach wiedergutmachen, wenn es einmal passiert
ist. Was durch uns geschehen ist, dafür bleiben wir verantwortlich.
Und was daran falsch war, das lastet als Schuld auf uns: auf unserem
Gewissen, auf unserem Verhältnis zu unseren Mitmenschen und auf
unserem Verhältnis zu Gott. Kein sogenannter „Schlussstrich“, keine
Entschuldigung, kein „Tut mir leid“ hebt das alles einfach auf.
So billig kommen wir nicht davon, und im Grunde unseres Herzens
wissen wir das auch.

Aber wenn wir
selbst nicht den ersten Schritt zur Versöhnung tun können, wer dann?
Ich weiß aus diesem Dilemma nur einen Ausweg. Und dazu ist es notwenig,
dass es wahr ist, was Paulus sagt: Gott selbst hat uns alle mit
sich versöhnt durch Jesus Christus. Er hat den Schlussstrich gezogen,
den wir nicht ziehen können: er hat uns unsere Sünden, unsere Schuld
nicht zugerechnet. Das heißt: Gott macht es nicht so wie wir. Er
rechnet uns nicht unser ganzes Versagen und all unsere Fehler vor
und sagt dann: „So, jetzt bezahle, aber bitte sofort und in bar!“
Er sagt aber auch nicht: „Ist nicht so schlimm, wenn du nicht bezahlen
kannst. Gib mir halt, was du hast, und den Rest vergessen wir!“
Stattdessen sagt er: „Ich weiß um die Höhe deiner Schuld – besser
als du selbst. Ich weiß auch, dass du das niemals alles aufbringen
kannst. Aber du bist mein geliebtes Geschöpf, trotz alledem. Und
deshalb hab ich für dich bezahlt – die ganze Summe!“ Dass unsere
Schuld tatsächlich so groß ist und dass Gott das mit dem Bezahlen
nicht einfach so daher sagt, sondern dass es ihm damit todernst
ist, dafür steht das Kreuz Jesu auf Golgatha. Es ist sozusagen die
rechtsgültige Unterschrift, mit der Gott bestätigt, dass er unsere
gesamten Schulden beglichen hat. Das ist gemeint, wenn Paulus sagt:
„Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht,
damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“

In der kirchlichen
Tradition ist dieser Satz sehr missverständlich, wenn nicht gar
falsch gedeutet worden. Wir finden diese Deutung zum Beispiel in
vielen unserer Gedangbuchlieder. Da heißt es etwa: „Gottes Sohn
ist Mensch geborn, hat versöhnt des Vaters Zorn“ (EG 29) oder: „Du
großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen“ (EG 87). Das klingt
– jedenfalls für heutige Ohren –, als ob Gott einen Sündenbock gebraucht
hätte, an dem er stellvertretend seine Wut über uns auslassen konnte,
dass der zornige Gott nur durch ein blutiges Opfer zu versöhnen
gewesen sei und dass der unschuldige Christus sich selbst als dieses
Opfer zur Verfügung gestellt habe. Eine entsetzliche Vorstellung!
Als ob Gott ein hungriges Raubtier sei, das man nur friedlich stimmen
kann, indem man ihm rohes Fleisch vorwirft! Wenn Präses Schneider
diese Deutung gemeint haben sollte, als er sagte, er könne den Tod
Jesu nicht als Opfer für unsere Sünden verstehen, dann hätte er
Recht. Denn bei Paulus, ja, im ganzen Neuen Testament, steht davon
kein Wort! Paulus sagt nicht: Christus hat den zornigen Gott mit
uns versöhnt, sondern er sagt: Gott war in Christus und hat uns
mit sich versöhnt. Gott war nie unser Feind, aber wir waren seine
Feinde, weil wir so gelebt haben, als ob es ihn nicht gäbe, und
es oft genug immer noch tun. Diese Feindschaft ist zu Ende. Gott
hat sie von sich aus aufgehoben – ohne Vor- und Gegenleistung von
irgend jemandem. Nicht Gottes Zorn offenbart sich am Kreuz Jesu,
sondern seine abgrundtiefe Liebe. Als Jesus stirbt, da erleidet
Gott den Tod mit, den wir sonst sterben müssten: beladen mit unserer
ganzen Schuld, unversöhnt mit uns selbst und der Welt. Gott begleicht
unsere Rechnung, und die ist so hoch, dass sie ihn nicht weniger
als das Leben kostet. So geschieht Versöhnung, ein- für allemal.

Das ist also die
Botschaft von Karfreitag und Ostern: Die Welt ist mit Gott versöhnt.
Aber das muss die Welt nun auch erfahren. Paulus und seine Mitarbeiter
leben für nichts anderes: „So sind wir nun Botschafter an Christi
Statt“, sagt er, „denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun
an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Bis heute werden
alle Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche bei ihrer Ordination
auf diesen Auftrag verpflichtet, und in der Tat hat unsereins nichts
Dringenderes zu tun. Aber der Auftrag gilt nicht nur für Pfarrer:
alle Christen sind mit ihrem Reden und Handeln „Botschafter an Christi
Statt“, jeder an seinem Platz, jeder auf seine Weise. Über dieses
Botschafterdasein sagt Paulus zweierlei: zum Einen, was der Inhalt
der Botschaft ist, und zum Anderen, wie wir sie vorbringen sollen.

Der Inhalt lautet
schlicht und knapp: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Man könnte
sich fragen, wozu das noch nötig ist, wenn die Versöhnung doch schon
geschehen ist. Aber Gott möchte eben, dass wir die Hand auch ergreifen,
die er zur Versöhnung ausgestreckt hat. Er möchte, dass wir es für
uns ganz persönlich wahr sein lassen, was er für uns getan hat.
Nicht er braucht das, sondern wir, damit wir darüber froh werden
und unser Leben sich ändert.

Und was ist, wenn
wir Gottes Hand nicht ergreifen? Zieht er sie dann zurück? Bläst
er die Versöhnung ab? Ich glaube nicht, dass er das tut. Gott hat
sich mit uns versöhnt, sagt Paulus. Das bleibt gültig, ob wir wollen
oder nicht. Sonst müsste er ja alles, was damals mit Jesus geschehen
ist, wieder rückgängig machen. Aber wir würden weiter als unversöhnte
und unversöhnliche Menschen durch die Welt laufen, obwohl das gar
nicht sein müsste. Es wäre, als ob wir ein großes Geschenk unausgepackt
liegen lassen würden: wir haben es, aber wir haben nichts davon.
Und das wäre doch absoluter Unsinn, oder?

Nun zum anderen,
zum Wie. „Wir bitten an Christi Statt“, sagt Paulus. Das heißt:
wir können niemanden zwingen, unserer Botschaft Glauben zu schenken,
und wir sollten es auch nicht versuchen – weder durch Gewalt – körperliche
oder seelische –, noch durch Geld, noch durch gute Worte, und auch
nicht durch Showeffekte. Wir können nur durch Wort und Tat bezeugen,
dass die Welt mit Gott versöhnt ist – überzeugen muss Gott selbst
durch seinen heiligen Geist.

Und wie machen
wir das mit dem Bezeugen? Ich denke, ganz schlicht dadurch, dass
wir als versöhnte und versöhnliche Menschen leben. Dazu gehört zuerst,
dass wir mit uns selbst versöhnt sind, dass wir uns selbst so annehmen
können, wie wir sind: mit unseren Fehlern und unserer Unvollkommenheit,
mit all den Verletzungen an Leib und Seele, die das Leben uns geschlagen
hat. Und wenn uns das gelingt, dann fällt es uns, denke ich, auch
leichter, anderen die Hand zur Versöhnung zu reichen, ihnen zu vergeben
und uns vergeben zu lassen. Je öfter das geschieht, desto mehr wird
davon sichtbar, dass unsere Welt keine andere ist als die, die Gott
schon längst mit sich versöhnt hat.

Ich weiß, dass
das alles leichter gesagt als getan ist. Ich weiß, wie schwer es
mir fällt, mit mir selbst und anderen ins Reine zu kommen. Deshalb
möchte ich mich so oft wie möglich daran erinnern lassen, dass ich
mit Gott längst versöhnt bin und das er mich zum Botschafter seiner
Versöhnung macht. Und dann bitte ich ihn, dass er seine versöhnende
Kraft durch mich wirken lässt. Gott wird mir und Ihnen diese Bitte
nicht abschlagen. Und wo dann jeder von uns mit der Versöhnung beginnen
muss, das wissen wir alle selber am besten.

Amen.

 

Predigt vom 21.3.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
JUDIKA

Wenschtkirche, 21.3. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Hebr 5,7-9

Christus hat
in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem
Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten
konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt,
Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die
ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

Es ist eine erstaunliche
Aussage, die in diesem kurzen, aber schwierigen Text steckt. Der
allmächtige und allwissende Gott lernt etwas dazu. In seinem Sohn
Jesus Christus begibt er sich in die Schule des Leidens.

Damit wir erfassen
können, was daran so erstaunlich ist, müssen wir uns zunächst ein
paar Gedanken darüber machen, was das denn ist, die „Schule des
Leidens“. Auf jeden Fall ist es ein altmodischer Ausdruck. Heute
wird er nur noch selten verwendet, besonders in Nachrufen auf Verstorbene,
wo man sich gern ein bisschen feierlicher ausdrückt als sonst. Wenn
man da über jemanden sagt, dass er oder sie durch die Schule des
Leidens gehen musste, dann meint man, dass der oder die Betreffende
viel Schweres durchmachen musste.

Wie gesagt – es
ist ein altmodischer Ausdruck; denn vom Leiden hören, sehen und
reden wir ja heute gern so wenig wie möglich. Es gab mal eine Zeit,
da war das anders. Da fand das Leiden auch bei uns noch in der Öffentlichkeit
statt, und niemand konnte daran vorbei. Damals, 1945 folgende, hatte
jeder die zerstörten Häuser vor Augen und die Schrecken der Bombennächte
noch in den Gliedern. Auch wer den Krieg heil überlebt hatte, sah
doch täglich die Versehrten auf ihren Krücken, die Vertriebenen
auf ihrer Suche nach einer neuen Bleibe, die ausgemergelten Gestalten,
die nichts zu beißen und wenig Hoffnung hatten. Wer von Ihnen alt
genug ist, um sich daran zu erinnern, hat die Bilder sicher noch
im Kopf. Aber nun kennen wir so etwas schon lange nur noch aus dem
Fernsehen. Heute findet das Leiden weitgehend unter Ausschluss der
Öffentlichkeit statt. Wer leidet, tut es oft für sich allein – höchstens
ein paar nahe Angehörige leiden noch mit. Alle anderen verdrängen,
so gut sie können, dass es so etwas wie Leid und Schmerzen gibt
und dass es sie selbst einmal treffen könnte. Damit Sie mich nicht
falsch verstehen: Natürlich bin ich heilfroh über den langjährigen
Frieden und Wohlstand, der manche Art von Leiden bei uns kaum noch
vorkommen lässt. Ich freue mich für jeden Menschen, dem Leid und
Schmerzen erspart bleiben, und ich bin dankbar für all die Möglichkeiten,
die uns heute helfen, sie zu lindern. Das Problem ist nur: je fremder
uns das Leiden wird, desto weniger können wir damit umgehen, wenn
es uns dann doch begegnet. Dass man mit Leid und Schmerzen leben
kann, ja dass man durch Leiden sogar etwas lernen kann, dieser Gedanke
ist uns fern gerückt. Und deshalb ist „Schule des Leidens“ ein altmodischer
Ausdruck.

Aber was könnte
das denn nun sein, was man in der Schule des Leidens lernen kann?
Eine alte und immer noch beliebte Antwort auf diese Frage lautet:
Man muss vor allem lernen, sich die Angst und den Schmerz nicht
anmerken zu lassen. „Lerne leiden, ohne zu klagen“, hieß es zu Großvaters
Zeiten, „ein richtiger Junge weint nicht“, sagten meine Eltern,
„immer cool bleiben“ – heißt es heute. Mir fällt dazu der reiche
Bankier auf der Titanic ein. Als das Schiff sank, zog er seinen
Smoking an und bestellte sich eine Flasche Champagner, um wenigstens
wie ein Gentleman zu ertrinken. Oder ich denke an den Mann, den
ich mal kannte, der bis zu seinem Tod den Optimisten und starken
Beschützter seiner kranken Frau spielte, obwohl er selbst viel kränker
war als sie. Dieser Hang zur Selbstbeherrschung um jeden Preis ist
uns Männern anscheinend nicht auszutreiben. Frauen billigt man meistens
etwas mehr Gefühlsäußerungen zu, aber richtige „Heulsusen“ oder
„Klageweiber“ werden auch nicht gemocht. Dabei wissen wir doch eigentlich,
dass es uns nicht gut tut, wenn wir alles Unangenehme überspielen
oder in uns hineinfressen.

Aber „cool bleiben“
war es nicht, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. Denn im Text
heißt es: „Er hat Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit
Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte“. Mir fallen
dazu Szenen aus den Evangelien ein: Jesus, der am Grab seines Freundes
Lazarus in Tränen ausbricht; Jesus im Garten Getsemane, der vor
Todesangst Blut und Wasser schwitzt und Gott anfleht, ihm dieses
Schicksal zu ersparen; Jesus am Kreuz, der mit letzter Kraft seine
Verzweiflung hinaus schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“. Nichts steht da von gespielter Gelassenheit und
vorgetäuschtem Gleichmut, nur etwas vom nackten, ehrlichen Aufschrei
eines gequälten Menschen. Und im Hebräerbrief heißt es, dass Jesus
gerade so Gott in Ehren hielt. Denn er verzichtete auf alle Versuche,
Haltung zu bewahren und selbst mit allem fertig zu werden. Sein
Hilfeschrei galt dem, der als einziger Halt geben kann, wenn alles
zusammenbricht: er galt Gott, der in ihn vom Tod erretten konnte.

Und dieser Hilfeschrei
wurde erhört, sagt der Text. Aber stimmt das denn? Mag ja sein,
dass Gott ihn retten konnte, aber er hat es doch gerade nicht getan!
Nichts ist Jesus erspart geblieben bis zum bitteren Ende. Sein Tod
bestätigt doch anscheinend das, was viele für die wahre Lehre aus
der Schule des Leidens halten: Wenn’s dir ganz dreckig geht und
du wirklich am Ende bist, dann hilft dir keiner mehr. Dann bist
du ganz allein mit deiner Angst und deinem Schmerz. Und dann kannst
du noch so sehr zu Gott um Hilfe schreien – du wirst keine Antwort
bekommen. In Wahrheit ist da nämlich gar keiner, der dich hört.
Viele machen diese Erfahrung, und ich merke immer wieder, dass ich
kaum dagegen anreden kann. Denn ich weiß ja auch nicht, warum Gott
zu so viel unsäglichem Leid einfach schweigt.

Trotzdem: der
Text redet davon, dass Jesus erhört worden ist, und ich möchte versuchen,
zu verstehen, wie das gemeint ist. Vielleicht besteht die Erhörung
in dem, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. „Christus hat durch
sein Leiden Gehorsam gelernt“, sagt der Hebräerbrief. Auch das klingt
hart in unseren Ohren. Ich muss an Sklaven und Zwangsarbeiter denken,
die solange misshandelt werden, bis sie vor ihren Unterdrückern
kuschen, weil ihr Wille gebrochen ist. Hat Jesus so durch Leiden
Gehorsam gelernt? Dann hätten diejenigen recht, die unseren Gott
für einen Sadisten halten, den nur ein blutiges Opfer zufrieden
stellen kann. Aber man kann es auch anders lesen: Jesus hat in seinem
Leiden gelernt, auf Gott zu hören, ihm zu vertrauen und sich ganz
auf ihn zu verlassen. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“,
sagt der betende Jesus im Garten Getsemane. So hatte er bisher gelebt:
in einer ganz unmittelbaren Beziehung zu Gott, ganz eins mit dem
Willen Gottes für diese Welt. Dass er diese Beziehung zu Gott durchgehalten
hat, auch im Leiden und Sterben bis hin zum letzten Schrei am Kreuz,
das war der Gehorsam, den er gelernt hat. Und das war auch die Erhörung
seiner Gebete, seine „Errettung vom Tode“. Denn wer tot ist, hat
keine Beziehungen mehr, auch keine Beziehung zu Gott. Vor dieser
Beziehungslosigkeit hat Gott Jesus bewahrt. Er hat nicht zugelassen,
dass der Tod und die Gottverlassenheit über ihn das letzte Wort
behalten. Darum geht es, wenn wir bekennen, dass Jesus lebt, weil
Gott ihn von den Toten auferweckt hat

Aber nun noch
einmal zurück zum Anfang. Da habe ich gesagt, dass Gott selber sich
in die „Schule des Leidens“ begeben hat. Und dabei bleibe ich auch.
Denn es ist ja nicht irgendein Mensch, der hier durch Leiden Gehorsam
lernt, sondern es ist der Sohn Gottes. Und das heißt: Gott selbst
geht diesen Weg durch Leiden und Tod, den wir alle beschreiten müssen.
Wenn das stimmt, dann hat die Passionsgeschichte nicht nur Bedeutung
für den einen Menschen Jesus, sondern für alle Menschen, die Gott
geschaffen hat. Dann ist es Gott, der für uns am Kreuz stirbt, damit
wir leben können. Deshalb heißt es am Schluss des Textes: „Als er
vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber
des ewigen Heils geworden.“ Dem Gott, an den wir glauben, ist in
der Tat nichts Menschliches fremd, auch kein menschliches Leid,
denn er hat das alles am eigenen Leib erfahren. Gerade dann, wenn
Angst und Schmerzen über uns zusammenzuschlagen drohen, wenn Gott
ganz weit weg zu sein scheint, dann ist er uns in Wirklichkeit besonders
nahe – eine rettende Insel, auf die wir uns flüchten können, eine
Hand, die uns aus dem Strudel zieht. Wohl dem, der diese Hand ergreifen
kann, und sei es nur mit einem Verzweiflungsschrei, wie ihn Jesus
am Kreuz ausstieß. Ich weiß, dass ich damit nicht alle Leidenden
trösten kann und dass auch nicht alle Leidenden es so erleben. Aber
ich weiß auch von vielen, die diese Nähe Gottes erfahren haben –
im Krieg, auf der Flucht, in einer schweren Krankheit, auch auf
dem Sterbebett. Und ich kann nur hoffen und darum beten, dass mir
und Ihnen diese Erfahrung nicht versagt bleibt. Ich möchte das zum
Schluss dieser Predigt tun mit einer Liedstrophe von Paul Gerhardt:

„Wenn ich einmal soll scheiden,
so
scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden,
so
tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um
das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner
Angst und Pein.“

Amen.

 

Predigt vom 14.2.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG ESTOMIHI

Talkirche, 14.2. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
1. Kor 13

Im Fernsehen gab es mal eine Sendung,
die hieß „Wa(h)re Liebe“.  Mit „Liebe“ war dabei Sex in allen
Variationen gemeint – musste man nicht gesehen haben. Aber den Titel,
den fand ich ziemlich genial. Denn er brachte, wie ich finde, gut
zum Ausdruck, wie es heutzutage um die Liebe bestellt ist. Das H
von „wahre Liebe“ war nämlich in Klammern gesetzt, und damit wird
der Ausdruck doppeldeutig: Entweder meint er die wahre, die echte,
die wirkliche Liebe oder er meint die Liebe als Ware, die gekauft
und verkauft wird und mit der man Geld verdienen kann. Und er stellt
wohl auch einen Zusammenhang zwischen beidem her: Je mehr Menschen
nach der wahren Liebe suchen, desto besser kann man mit der Ware
Liebe Geld verdienen. Und umgekehrt: Je mehr die Liebe zur Ware
verkommt, desto bedrängender wird die Frage, was denn wahre Liebe
ist.

Die Liebe wird zur Ware – wenn man
das hört, denkt man erst mal an Sex-Shops, Erotik-Messen und Rotlichtviertel.
Aber dass der Kommerz heutzutage über alles geht, betrifft ja nicht
nur die Erotik. Auch die so genannte Nächstenliebe ist mehr und
mehr zum Handelsgut geworden – geschäftsmäßig betrieben und kostenneutral
abgerechnet. Als Beispiel nenne ich nur die häusliche Krankenpflege:
Früher war das in jedem Fall Sache der nächsten Angehörigen – und
die taten und tun es mal freiwillig, mal eher notgedrungen, aber
auf jeden Fall umsonst. Dann gab es die gute alte Gemeindeschwester
– meist als Diakonisse zu selbstlosem Dienen bereit und zur Genügsamkeit
verpflichtet. Aber wer will das schon noch, und deshalb ist diese
Art inzwischen weitgehend ausgestorben. Heute haben wir stattdessen
ambulante Pflegedienste. Die sind fachlich besser qualifiziert als
die alten Schwestern und für die Angehörigen auf jeden Fall eine
Entlastung, aber sie müssen sich auch rechnen. Da bleibt oft nicht
mehr viel Zeit für die einzelnen Pflegebedürftigen, denn Zeit ist
Geld. Wahrscheinlich geht das nicht anders heutzutage, auch nicht
in der kirchlichen Diakonie. Aber trotzdem ist mir nicht ganz wohl
dabei: Kann es denn sein, dass wir Christen unsere organisierte
Nächstenliebe nur noch über GmbHs betreiben, auch wenn sie sich
gemeinnützig nennen?

Bleibt also die Frage, was das denn
nun ist, wahre Liebe. Was ist wahre Liebe, wenn man sich Sex aller
Arten kaufen kann und die Ehescheidungsrate bei vierzig Prozent
liegt? Was ist wahre Nächstenliebe, wenn wir alles Achtgeben auf
andere entweder ersatzlos streichen oder bezahlten Profis überlassen?

Der heutige Predigttext scheint darauf
Antwort zu geben. Nicht umsonst ist er in unseren Bibeln mit „Das
Hohelied der Liebe“ überschrieben. Und das ist immer noch ziemlich
gefragt.. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe…“ – das kennt
man noch, auch wenn man sonst nicht mehr viel von der Bibel weiß.
Und wer von uns, die wir die Bibel schätzen, lässt sich nicht immer
wieder gern von diesem Lobpreis der Liebe in den Bann ziehen?

Aber Vorsicht! Gerade weil der Text
so schön ist, verführt er uns leicht zum „Abheben“. Wir geraten
beim Lesen oder Hören ins Schwärmen und denken uns: „Hach ja, genauso
ist das mit der Liebe!“ – und ansonsten ändert sich gar nichts.
Aber Paulus möchte keine fromme Schnulze singen, er möchte auch
keine schöngeistige Festrede halten. Er hat eine Gemeinde vor Augen,
in der es handfesten Krach gibt. Und alles, was er über die Liebe
schreibt, hat es ganz konkret mit dem Krach in Korinth zu tun.  Deshalb
ist das „Hohelied der Liebe“ auch ganz und gar nicht lieb gemeint.
Im Gegenteil: Wenn wir es ernst nehmen wollen, dann müssen wir bereit
sein, uns radikal in Frage stellen zu lassen – gerade mit dem, was
wir für unsere guten Seiten, ja für die guten Seiten unseres Christseins
halten. Hören wir also noch mal genau hin:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen
redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder
eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und
wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben,
so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so
wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und
ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre
mir’s nichts nütze.

Wie radikal das ist, das merke ich,
wenn ich es versuchsweise auf mich selber anwende:

Nehmen wir mal an, ich hätte einen
Weg gefunden, wie ich ganz normalen Menschen von heute das Evangelium
so verkünden könnte, dass sie es wirklich verstehen. Nehmen wir
an, sie würden in Scharen in meine Gottesdienste strömen, weil sie
spüren, dass ich ihnen Wichtiges zu sagen habe. Nehmen wir an, sie
würden mich gern als Seelsorger in Anspruch nehmen, weil sie sich
von mir so gut verstanden fühlen und das Gespräch mit mir als große
Hilfe erleben: Wenn ich es nicht aus Liebe zu diesen Menschen täte,
wenn ich es nur täte, um bewundert zu werden, wenn ich es nur täte,
damit die Kirche ihre Steuerzahler behält oder wiedergewinnt – dann
wäre auch meine beste Predigt nur leeres Wortgeklingel und ich selbst
wäre ein gefährlicher Demagoge.

Nehmen wir mal an, ich würde ernst
nehmen, was Jesus dem reichen Jüngling sagt: „Geh hin, verkaufe
alles, was du hast, und gib es den Armen!“ Nehmen wir an, ich würde
meinen sicheren Posten mit A13 und Pensionsanspruch aufgeben, meinen
ganzen Hausrat verkaufen und das Geld an „Brot für die Welt“ spenden.
Nehmen wir an, ich würde dann irgendwo in die Slums von Rio oder
Kalkutta gehen und meine ganze Kraft den Ärmsten der Armen widmen.
Wenn ich es nicht aus Liebe zu diesen Menschen täte, wenn ich es
nur täte, um mich selbst zu bestätigen, wenn ich es nur täte, um
mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, wenn ich es nur täte um ein
Zeichen zu setzen, dann wäre das nichts wert – gar nichts.

Wir sollten uns also gut überlegen,
warum wir als Christen dies oder jenes tun. Tun wir es aus Zwang,
aus Pflichtgefühl, aus Gewissensnot – oder aus Liebe? Tun wir es
für uns selbst, für den Pastor oder die Kirche oder wirklich für
unsere Mitmenschen und damit für Gott? Mir fällt es schwer zu sagen,
dass wir es sonst lassen sollten. Denn dann bliebe bestimmt viel
Gutes ungetan. Doch wir sollten uns diese kritischen Fragen gefallen
lassen und unser Handeln an ihnen prüfen.

Aber wie sieht sie denn nun konkret
aus, die Liebe? Paulus beschreibt sie so:

Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht
sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht
das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht
zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich
aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft
alles, sie duldet alles.

Über jede einzelne dieser Aussagen
könnte man lange reden. Aber für eine Predigt wäre das „zuviel auf
einen Bissen“, wie Luther sagt. Deshalb stattdessen ein Beispiel
– es ist nicht besonders spektakulär, aber es hat mich trotzdem
beeindruckt. In meiner ersten Gemeinde in Bochum gab es eine alte
Frau, die ich öfter besucht habe. Sie lebte in einem kleinen Hinterhäuschen,
kaum größer und stabiler als eine Gartenlaube. Sie war blind und
fast taub und konnte auch nicht mehr laufen. Aber sie hatte viel
zu erzählen. Seit sie vierzehn war, hatte sie hart arbeiten müssen:
erst in der Landwirtschaft ihres Großvaters, später für den Unterhalt
ihrer Familie. Im Krieg hatte sie alles verloren, als ihr Haus zerbombt
wurde. Trotzdem hatte sie noch die halbe Verwandtschaft mit durchgebracht.
Ihr Mann war Bergmann und früh gestorben; vorher hatte sie ihn mit
seiner Staublunge jahrzehntelang gepflegt. Und auch danach lebte
sie nur für ihre Kinder, Enkel, Urenkel und gönnte sich selber nichts.
Wahrlich kein leichtes Leben! Doch wenn man sie fragte, wie sie
das alles bloß geschafft habe, dann sagte sie: „Mit viel Liebe!
Denn mit Liebe kommt man weiter als mit Schimpfen und mit Jammern.“
Und so einfach und schlicht, wie sie das sagte, musste man es ihr
einfach glauben.

Die Liebe hört niemals auf, sagt
Paulus, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden
aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen
ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn
aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie
ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde,
tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel
ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne
ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Auch zu diesem Abschnitt gäbe es
viel zu sagen. Ich möchte mich wieder auf Eines beschränken. Paulus
sagt, dass die Liebe niemals aufhört. Stimmt das denn? Wer kann
denn seinen Ehepartner, seine Kinder, seine Mitmenschen immer nur
lieben, auch wenn sie einem das Leben schwer machen? Wer meint,
dass er das kann, sollte jedenfalls niemals eine Familie gründen
oder einen sozialen Beruf ergreifen. Dass die Liebe niemals aufhört,
kann Paulus nur sagen, weil er von der Liebe Gottes redet. Gott
wird zwar in diesem Kapitel kein einziges Mal erwähnt, aber trotzdem
ist er gegenwärtig bei allem, was Paulus über die Liebe sagt. Denn
was wir uns unter wahrer Liebe vorstellen, das ist doch ungefähr
folgendes: Wenn ich einen anderen wirklich liebe, dann nehme ich
ihn genauso, wie er ist – sonst würde ich ja nicht gerade diesen
bestimmten Menschen lieben. Aber wenn der andere das spürt, dass
ich ihn gerade so lieb habe, wie er ist, wenn ich bei ihm auf Gegenliebe
stoße, dann wird gerade das ihn verändern. Liebe und Gegenliebe
machen andere Menschen aus uns. Und was bei uns Menschen immer nur
Stückwerk bleibt, das ist bei Gott vollkommen. Er liebt uns so,
wie wir sind, ohne Bedingungen und Gegenleistungen. Und er lässt
sich davon nicht abbringen, auch wenn er bei uns auf keine Gegenliebe
stößt. Wenn es ihm aber gelingt, uns von seiner Liebe zu überzeugen,
so dass wir sie erwidern, dann verändert sich unser ganzes Leben.
Dann werden wir etwas davon spüren, was Paulus an einer anderen
Stelle sagt: dass die Liebe Gottes ausgegossen ist in unser Herz.
Und dann gelingt es uns vielleicht, dass wir mit viel Liebe die
Schwierigkeiten unseres Lebens meistern, so wie die alte Frau, von
der ich erzählt habe. Dann kann über ihrem und unserem Leben der
Satz stehen, mit dem Paulus sein „Hohes Lied der Liebe“ abschließt:
Nun
aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe
ist die größte unter ihnen.

Amen.