Predigt vom 3.10.2010

 

FAMILIENGOTTESDIENST ZUM ERNTEDANKFEST

mit Kindergarten Schießberg
und Jasminweg

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
3.10. 2010
Thema: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ (2.Kor
9,7)

Neulich habe ich
eine Gruppe Konfirmanden anhand von Fotos hier im Haus nach Tieren
suchen lassen. Den Hahn hatten sie schnell (auf dem Kirchturm),
auch der Fisch (an der Taufschale) und die Schlange (auf dem Altarbild)
waren kein Problem. Aber den Fuchs, den haben sie recht lange suchen
müssen. – Weiß hier jemand, wo der Fuchs ist? … Richtig, an der
Wand im Kleinen Saal – vielleicht schaut ihr es euch nachher mal
genauer an!

Wahrscheinlich
konnten sich die Konfis nicht so recht vorstellen, was ein Fuchs
in der Kirche zu suchen hat. Aber der Künstler, von dem der Fuchs
stammt, hat dabei an etwas gedacht, das Jesus mal gesagt hat: „Die
Füchse haben ihren Bau, und die Vögel (die sind da auch zu sehen)
haben Nester, aber ich, der Menschensohn, habe keinen Ort, an dem
ich mich abends schlafen legen kann.“ (Lk 9,58) Und dann sind an
der Wand noch Menschen zu sehen, denen es genauso ging wie Jesus
und wie den Tieren vorhin in der Geschichte vom Apfelbaum: Leute,
die aus ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben wurden, die
nur noch besitzen, was sie tragen können, und die nun ein neues
Zuhause suchen. Vor 65 Jahren, nach dem letzten Krieg, kamen viele
solche Menschen hierher. Sie konnten und durften nicht mehr dort
bleiben, wo sie bisher gelebt hatten – in Ostpreußen oder Schlesien
zum Beispiel. Und sie mussten nun eine neue Bleibe finden, viele
davon hier im Wenscht. Aber wie würden die Alteingesessenen sie
aufnehmen?

Auf dem Bild an
der Wand sind die verschiedenen Möglichkeiten zu sehen: Zwei sitzen
am Tisch am warmen Herd und vor einer dampfenden Schüssel und halten
schützend die Hände darüber: „Alles meins“, heißt das, „ich hab
nichts zu verschenken, und Fremde sind hauptsächlich lästig!“ Wie
die anderen Bäume vorhin. Aber einer macht es anders. Er steht auf,
nimmt einen Teller mit Essen und geht den armen Flüchtlingen entgegen.
„Willkommen“, drückt er damit aus, „ich teile gern mit euch, es
wird schon für alle reichen!“ Auch so ein „fröhlicher Geber“.

Das mit den Flüchtlingen
nach dem Krieg ist jetzt schon lange her. Ihr Kindergartenkinder
müsst schon eure Großeltern oder gar Urgroßeltern fragen, wenn ihr
wissen wollt, wie das war. Aber Gelegenheiten, fröhliche Geber und
Gastgeber zu werden, die gibt es auch für uns heute genug.

Die erste bietet
sich gleich am Ausgang: Da sammeln wir nämlich für den Kindergarten
Jasminweg, der bekanntlich gerade umgebaut wird und wo leider immer
noch nicht klar ist, wie das Ganze finanziert werden kann.

Andere Gelegenheiten
warten jeden Tag auf uns: Menschen, die vielleicht gar nicht immer
unser Geld wollen, sondern die unsere Zeit, unsere Aufmerksamkeit,
unsere Hilfe brauchen. Nicht nur irgendwo in der weiten Welt, sondern
direkt in unserer Nachbarschaft.

Und Menschen bei
uns aufzunehmen und willkommen zu heißen? Gute Gastgeber zu sein
wie der Apfelbaum? Da waren wir schon mal besser: vor 65 Jahren,
als Deutschland am Boden lag, vor 20 Jahren, als es wieder eins
wurde. Heute dagegen kriegt einer großen Beifall, wenn er die idiotische
Behauptung in die Welt setzt, Deutschland würde verdummen, weil
Muslime zu viele Kinder bekommen. „Die sollen sich endlich richtig
integrieren“, heißt es, aber gemeint ist bei vielen: „die passen
nicht zu uns und sollen gefälligst endlich verschwinden!“ Dabei
sind die meisten von ihnen mal als unsere Gäste gekommen, sogar
von uns gerufen, und wir sollten trotz aller Probleme froh sein,
dass sie noch da sind; denn wir werden sie noch brauchen, wenn wir
mal alle alt sind und irgend jemand das Geld für unsere Rente erarbeiten
und uns pflegen muss. Übrigens: die Moschee im Hüttental hat heute
Tag der Offenen Tür und lädt uns alle zu sich ein – vielleicht können
wir von den Muslimen als Gastgebern ja noch was lernen!

Paulus hat das
mit dem „fröhlichen Geben“ übrigens geschrieben, als er in seinen
Gemeinden Spenden für die verarmten Christen in Jerusalem sammelte.
„Von dort ist die Botschaft von Jesus Christus ausgegangen“, sagt
er ihnen, „durch die ihr ehemaligen Heiden nun zum Volk Gottes gehört.
Ihr seid mit Gott im Reinen, ihr habt einen festen Halt an ihm und
er hat euch viele gute Gaben zukommen lassen, und das alles verdankt
ihr auch denen, die von Jerusalem den Weg zu euch gefunden haben.
Da ist es doch nur ein gerechter Ausgleich, wenn ihr ihnen nun materiell
unter die Arme greift.“

Das gilt auch
für uns. Gott hat uns viel geschenkt. Wir haben allen Grund ihm
dankbar zu sein. Und wir können ihm das zeigen, indem wir seine
Gaben weiterverschenken an unsere Mitmenschen. Wir müssen keine
Angst haben, dass wir selber darüber zu kurz kommen. Sondern wir
dürfen erfahren, dass wir durch Geben viel reicher werden als durch
Nehmen und Behalten. So wie der Apfelbaum, der im Winter nicht einsam
war. Oder so wie Paulus es sagt: „Wer wenig sät, wird auch wenig
ernten. Und wer reichlich sät, der wird reichlich ernten.“

Amen.

 

Predigt vom 05.09.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
5.9. 2010
Text: Röm 8,14-17

Letzten Dienstag
war für die neuen Erstklässler der erste Schultag. Wie immer haben
wir aus diesem Anlass gemeinsam mit den Grundschulen ökumenische
Gottesdienste gefeiert. Und es war wieder so, wie ich es auch von
den ersten Schultagen meiner eigenen Kinder kenne: Da saßen sie
in den ersten Reihen mit neuem Ranzen und Schultüte, ein wenig aufgeregt,
aber auch stolz, endlich zu den „Großen“ zu gehören. Und auch die
Gedanken der Eltern, die mit dabei waren, werden ähnliche gewesen,
wie ich sie von mir selber kenne: Da hat das Kind gerade erst laufen
und sprechen gelernt, kurz davor lag es noch in der Wiege, und jetzt
geht es plötzlich schon zur Schule – lernt Lesen, Schreiben, Rechnen,
geht neue Wege, findet neue Freunde, und das alles ohne seine Eltern!
Wie rasend schnell das doch gegangen ist! Heute wird nun schon unsere
zweite Tochter zur Konfirmation angemeldet, und wahrscheinlich sollten
meine Frau und ich uns innerlich schon mal auf Abifeiern, Hochzeiten
und Enkelkinder vorbereiten. Auch der Familie Langenbach kann ich
nur raten, sich auf dieses rasende Tempo gefasst zu machen und die
Zeit mit ihrem Kind gut zu nutzen – sie geht so schnell vorbei!

Aber natürlich
freuen sich Eltern auch über die Fortschritte ihrer Kinder, sind
stolz auf das, was sie schon alles können, und dass sie sich immer
mehr zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Denn wir haben
sie ja lieb, unsere Kinder, und deshalb müssen wir auch lernen,
sie loszulassen – je länger, je mehr. Es wäre schlimm, wenn es nicht
so wäre. Denn wenn wir an unseren Kindern keine Freude hätten, wenn
wir keine Liebe für sie empfinden würden, dann könnten wir ihnen
kaum einen guten Weg ins Leben zu bahnen. Dann würden wir Kinder
nur als die Last empfinden, die sie ja auch sind: eine Last, die
Arbeit, Ärger und Sorgen macht und auf die man gut verzichten könnte.
Und unsere Kinder würden dann sehr schnell merken, dass wir sie
eigentlich gar nicht haben wollen. Sie würden merken, dass wir sie
nicht wirklich lieb haben, sondern sie nur satt und sauber halten
und sie ansonsten unseren Regeln unterwerfen, damit sie uns möglichst
wenig stören. Das selbstverständliche Vertrauen zu ihren Eltern,
das alle Kinder mit auf die Welt bringen, würde dadurch ziemlich
schnell zerstört. Im Grunde wären sie dann keine Kinder mehr, sondern
nur noch Zöglinge. Und aus Zöglingen werden vielleicht Menschen,
die gut funktionieren, weil sie es gewöhnt sind, sich unterzuordnen
und anzupassen; aber es werden daraus keine freien Persönlichkeiten,
die selbst- und verantwortungsbewusst ins Leben gehen.

Leider war diese
Art Erziehung viel zu lange die Regel, und viele Eltern haben sich
auch noch auf Gott berufen, wenn sie ihre Kinder zu Zöglingen degradiert
haben. Sie haben dann zwar vielleicht vom „lieben Gott“ geredet,
aber gemeint haben sie einen strengen Gott, der vor allem will,
dass man ihm gehorsam ist und sich seinen Geboten unterwirft. „Der
liebe Gott sieht alles“, hieß es dann zum Beispiel mit erhobenem
Zeigefinger. Dadurch wollten die Eltern sicherstellen, dass ihre
Kinder auch dann noch parierten, wenn sie selbst mal nicht hinschauen
konnten. Oder man ließ die Kinder beten: „Lieber Heiland mach mich
fromm, dass ich in den Himmel komm!“ – Und „fromm“ zu sein hieß
nur zu oft, brav das zu tun, was die Eltern sagen. Gott sei Dank
sind solche Erziehungsmethoden heute selten geworden. Aber viele,
die es so erlebt und darunter gelitten haben, wollen bis heute nichts
mehr von Glauben und Kirche wissen, weil sie Gott nur als verlängerten
Arm schlechter Erziehungsmethoden kennen gelernt haben – als einen,
vor dem man mindestens genauso Angst haben muss wie vor einer Tracht
Prügel. Mit dem will man natürlich als erwachsener Mensch nichts
mehr zu tun haben.

Der Predigttext
für den heutigen Sonntag redet ganz anders von Gott. In ihm beschreibt
der Apostel Paulus den Christen in Rom das Verhältnis, in dem wir
als Christen zu Gott stehen:

Diejenigen,
die sich vom Geist Gottes leiten lassen, die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass
ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist
der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
Der Geist selbst bezeugt unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben
und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch
mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

Paulus gebraucht
hier ein Bild aus dem gesellschaftlichen Leben seiner Zeit. Damals
bestand eine Familie nicht nur aus Vater, Mutter, Kind, sondern
aus viel mehr Menschen: dem Hausvater als Familienoberhaupt – das
war eben damals noch ganz selbstverständlich –, seiner Frau, seinen
Kindern, vielleicht noch seinen alten Eltern und auch aus Bediensteten
und Sklaven – je nachdem, ob und wie viele man sich von denen leisten
konnte. Paulus vergleicht nun die Kinder, vor allem die Söhne, und
die Sklaven miteinander: Beide gehören zur Familie, beide sind vom
Hausvater abhängig. Sie haben ihn zu respektieren und müssen ihm
gehorchen. Aber die Sklaven sind zu nichts anderem bestimmt als
Sklaven zu sein und zu bleiben. Die Söhne dagegen werden eines Tages
das Erbe ihres Vaters antreten und selbst Hausväter sein und über
Sklaven gebieten. Die einen stehen in der Familie nur in einem Arbeitsverhältnis,
die anderen in einem Vertrauensverhältnis. Die einen haben das Familienoberhaupt
mit „Herr“ anzureden, die anderen dürfen „Vater“ oder sogar „Papa“
zu ihm sagen.

Dieses Bild wendet
nun Paulus auf das Verhältnis der Christen zu Gott an: Wir stehen
zu Gott nicht in einem Sklavenverhältnis, sagt er, sondern in einem
Kindschaftsverhältnis. Wir gehören zu seinen Erben und dürfen ihn
Vater nennen. Heute sind wir es gewohnt, Gott so anzureden. Aber
damals muss das seltsam geklungen haben: Wir arme, kleine Menschen
sollen Kinder Gottes sein, Adoptivkinder sozusagen? Wir sollen uns
nicht vor ihm in den Staub werfen wie vor den Bildern unserer bisherigen
Götter, sondern vertrauensvoll „lieber Vater“ zu ihm sagen? Und
wir sollen sogar seine Erben sein? Aber Gott stirbt doch nicht,
und wir können doch nicht an seiner Statt Gott werden!

Paulus hätte auf
solche Fragen geantwortet: Es geht auch gar nicht darum, dass ihr
Gott werden sollt. Es geht vielmehr darum, dass Gott Mensch geworden
ist. Jesus kam von Gott her und war doch ein Mensch wie wir. Deshalb
ist er zugleich Gottes Sohn und unser Bruder. Jesus ist der, den
Gott zum Erben eingesetzt hat. Ihn hat er erhöht und zum Herrn der
Welt gemacht. Aber wir, die an Jesus Christus glauben, sind seine
Geschwister, und deshalb erben wir mit ihm zusammen. Und sozusagen
als Anzahlung auf das Erbe hat er uns seinen Geist gegeben. Wir
können in der Gewissheit leben, dass wir unlöslich mit Gott verbunden
sind wie ein Kind mit seinen Eltern. Und deshalb können wir ihn
voll Vertrauen als unseren Vater anreden – so wie Jesus es tat und
es uns mit dem Vaterunser beigebracht hat.

Genau darum geht
es auch bei der Taufe. Als der kleine Finn eben getauft wurde, da
hat Gott ihm wie zuvor uns allen zugesprochen: „Du bist mein liebes
Kind. Ich habe dich genauso lieb wie Jesus, meinen Sohn, und ich
möchte mit dir genauso eng verbunden sein, wie ich mit ihm verbunden
bin.“ Seitdem gilt für uns, dass wir außer unseren leiblichen Eltern
auch noch einen guten Vater im Himmel haben. Und so wie man die
Taufe nicht rückgängig machen kann, so bleibt Gott auch dann unser
himmlischer Vater, wenn wir nicht so gute Eltern hatten, wie wir
es uns gewünscht hätten und wie sie vielleicht auch sein wollten,
aber nicht konnten. Für Gott ist kein Mensch nur das unabänderliche
Ergebnis seiner Erziehung, ob sie nun eher gelungen oder eher danebengegangen
ist. Ich wünsche Finn und allen Kindern, die getauft werden, dass
sie von ihrem guten himmlischen Vater etwas erfahren in ihrem Leben.
Und ich wünsche seinen Eltern und Paten und uns Erwachsenen allen,
dass wir ihn nie vergessen und an ihm festhalten können trotz allem,
was uns von ihm weg zieht und was gegen ihn zu sprechen scheint.

Und wie gesagt:
Gott ist nicht der Vater, vor dessen Tracht Prügel man Angst haben
muss, wenn er abends nach Hause kommt. Er ist nicht der Vater, vor
dessen strengem Blick man sich mit schlechtem Gewissen verstecken
muss. Er ist auch nicht der Vater, für den seine Kinder eine lästige
Verpflichtung sind, für die man bestenfalls einen flüchtigen Gute-Nacht-Kuss
und ein paar Euro Taschengeld übrig hat. Und erst recht nicht der,
den sein Kind nie wirklich kennen gelernt hat, weil er eines Tages
plötzlich weg war und womöglich nicht mal Unterhalt zahlt. Nein,
wir alle sind Gottes Wunschkinder. Er hat unsere Geburt herbeigesehnt
und freut sich darüber, dass wir da sind. Er möchte, dass wir selbstbewusste,
freie Menschen werden, dass wir das Beste aus den Gaben machen,
die er uns mitgegeben hat. Er lässt uns erwachsen werden, auch wenn
unsere Wege dann von ihm wegführen. Er ist aber auch immer bereit,
uns mit offenen Armen zu empfangen, wenn wir bei ihm Zuflucht suchen.
Als leiblicher Vater möchte ich mir diesen Vater im Himmel zum Vorbild
nehmen – übrigens auch seine mütterlichen Züge, obwohl von denen
in der Bibel seltener die Rede ist. Und ich möchte darauf vertrauen,
dass meine Kinder dadurch trotz meiner Fehler erfahren, dass Gott
sie liebt.

Amen.


 

Predigt vom 18.7.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SIEBTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
u. Wenschtkirche, 18.7. 2010
Text: Apg 2,42-47

„Jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne“, hat Hermann Hesse gedichtet. Und ich denke,
er hat Recht damit. Wenn etwas neu beginnt, wenn alles noch frisch
und unverbraucht ist, wenn das Neue voller Energie steckt, die jeden
mitreißt, der damit in Berührung kommt, dann sieht es in der Tat
so aus, als ob nichts unmöglich ist, als ob auch die größten Wunder
Wirklichkeit werden könnten. Bei frisch Verliebten oder frisch Verheirateten
ist das so, bei Kindern am ersten Schultag, bei Erwachsenen am ersten
Tag im lang ersehnten Job, ja selbst bei Politikern, die gerade
eine Wahl gewonnen haben.

Aber der Volksmund
sagt ebenfalls zu Recht: Aller Anfang ist schwer. Und deshalb ist
der Zauber, der in jedem Anfang steckt, meist schnell verflogen.
Irgendwann kommt der erste Ehekrach, die erste Fünf, der erste Rüffel,
die erste Koalitionsverhandlung und sorgt für Ernüchterung. Und
dann verblasst, was so verheißungsvoll begann, im Grau des Alltags,
bis einem das anfängliche Glücksgefühl wie ein Märchen vorkommt.

So geht es uns
wohl auch, wenn wir als Christen des Jahres 2010 lesen, was Lukas
in der Apostelgeschichte über die Anfänge der ersten christlichen
Gemeinde schreibt. Wir hören den heutigen Predigttext, Apg 2,42-47:

 

Sie blieben aber
beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im
Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und
es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle
aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle
Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus
unter alle, je nach dem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich
einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort
in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen
und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr
aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

 

Nicht wahr, das
klingt für heutige Ohren in der Tat wie ein Märchen!

„Es geschahen
Zeichen und Wunder durch die Apostel“, und was geschieht heute?
Gemeindehausschließungen, die Trauer und Unmut verursachen. Verfahrensfehler
bei Kündigungen, die viel Geld kosten. Sexueller Missbrauch, der
ignoriert und vertuscht wird, und das – wie wir spätestens seit
der vergangenen Woche wissen – nicht nur in der katholischen Kirche.

„Sie waren beieinander
und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und
teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“ Und
wie steht es heute um den Besitz der Kirche, der Gemeinden und ihrer
Gläubigen? Da ist es ja schon schwer genug die Kindergarten- und
Jugendarbeit in unserem Kirchenkreis solidarisch zu finanzieren.
Oder wichtige diakonische Arbeitsbereiche zu erhalten, die ihre
Kosten nicht wieder einfahren. Und wo übt schon mal jemand echten
Verzicht zugunsten armer Glaubensgeschwister? Gespendet wird doch
nur, solange es nicht wehtut und steuerlich absetzbar ist!

„Sie waren einmütig
beieinander und brachen das Brot hier und dort in den Häusern“ –
und heute? Allein auf dem Gebiet unserer Kirchengemeinde gibt es
mehr als zehn verschiedene Gemeinschaften von Christen, die alle
ihr Eigenleben pflegen. Die meisten von ihnen begegnen sich zwar,
machen manches gemeinsam – in der Allianz, in der Ökumene, vertragen
sich auch schon viel besser als früher, aber nur, solange bestimmte
Themen nicht angesprochen werden: Homosexualität zum Beispiel oder
historisch-kritische Bibelauslegung – schon innerhalb unserer Gemeinde
kämen wir dabei wohl kaum auf einen gemeinsamen Nenner. Und ob evangelische
und katholische Christen je gemeinsam das Brot werden brechen, sprich:
Abendmahl feiern können – hier und dort in den Häusern – das steht
in den Sternen.

„Und fanden Wohlwollen
bei dem ganzen Volk“ – auch davon kann nach allem Gesagten keine
Rede sein, das versteht sich von selbst. Dass innerhalb eines halben
Jahres die beiden angesehensten Bischöfinnen unserer Kirche sich
zum Rücktritt veranlasst sahen – aufgrund vergleichsweise kleiner,
im Falle von Maria Jepsen noch nicht mal erwiesener Fehler – das
mag man hochanständig oder übertrieben finden, es zeigt aber auf
jeden Fall, wie stark den Kirchen zur Zeit der Wind ins Gesicht
bläst und wie schlecht selbst anerkanntes Führungspersonal dem standhalten
kann.

Nun ist es natürlich
richtig, dass Lukas in diesen Versen ein Idealbild der Urgemeinde
zeichnet. Mit der real existierenden Gemeinde von Jerusalem war
es schon damals nicht zur Deckung zu bringen. Auch da gab es schon
Streit in der Diakonie – Stichwort: Versorgung der Witwen – und
Streit um Glaubensfragen, etwa darum, ob Christen weiter im Tempel
Opfer darbringen sollen oder nicht. Und der „Kommunismus“ hat auch
damals in Jerusalem nicht wirklich funktioniert. Erstens gab es
manche, die dann doch heimlich ihren Teil für sich behielten – abschreckendes
Beispiel: Ananias und Saphira – und zweitens, war die Gemeinde bald
so verarmt, dass Paulus in seinen Gemeinden für sie Sammeln  gehen
musste.

Aber auch diese
ernüchternden Tatsachen helfen uns nicht weiter. Denn im Grunde
geben wir dem Autor der Apostelgeschichte ja Recht: Eine ideale
Gemeinde, eine Kirche, die wirklich eins zu eins umsetzt, was Jesus
wollte, die müsste tatsächlich so aussehen, wie Lukas sie beschreibt:
beständig, einmütig, freigebig und fröhlich und damit ein Leuchtstern
und Anziehungspunkt für alle Menschen. Dieses Ideal ist nun mal
in der Welt, und wir messen uns daran und werden daran gemessen,
ob wir wollen oder nicht. Der Satz „Christen sind doch auch nur
Menschen“ ist zwar unbestreitbar richtig, aber als Entschuldigung
oder Selbsttröstung hilft er uns gar nichts.

„Mann, ist das
eine frustrierende Predigt heute“, denken Sie jetzt vielleicht,
und bis jetzt bin ich geneigt, Ihnen Recht zu geben. Denn bis jetzt
habe ich das Ideal, das Lukas zeichnet, in der Tat so verstanden,
dass man sich daran nur Frust holen kann. Ich habe nämlich so getan,
als könnten Ideal und Wirklichkeit deckungsgleich werden. Ideale
sind aber gar nicht als Beschreibung von Wirklichkeit gedacht –
weder vergangener, noch gegenwärtiger noch zukünftiger. Wenn wir
sie so verstehen, können wir nur an ihnen scheitern und enden als
gebrochene Existenzen oder als Zyniker.

Nein, Ideale sind
nicht von dieser Welt und werden es niemals sein. Aber sie können
uns die Richtung weisen, in die es gehen soll. Sie können uns ein
Ansporn sein, uns ihnen so weit wie möglich zu nähern, auch wenn
wir wissen, dass wir sie nie erreichen können. So ist es auch mit
diesem Idealbild einer christlichen Gemeinde. Es gab sie so nie,
und es wird sie auf Erden so nicht geben. Aber die Richtung stimmt,
und darauf kommt es an.

Wenn wir in diese
Richtung gehen wollen, wenn wir wollen, dass Menschen spüren, welches
Ideal uns beseelt, dann tun wir am besten das, was Lukas im ersten
Satz des Textes sagt: fest halten an der Lehre der Apostel, der
Gemeinschaft, dem Brotbrechen und dem Gebet. Zu jedem dieser vier
Stichworte seien mir noch ein paar Sätze vergönnt.

Erstes Stichwort:
Lehre der Apostel – das ist für uns heute die Bibel, die heilige
Schrift Alten und Neuen Testaments. Erfahrungen mit Gott aus einem
Jahrtausend Menschheitsgeschichte haben sich in ihr niedergeschlagen.
Das ist ein Schatz, der auch ganz objektiv nicht seinesgleichen
hat. Was wir hier alles über Gott und die Welt erfahren, das ist
noch längst nicht ausgelotet. Immer noch gibt es Neues zu entdecken,
und Altvertrautes zu bewahren, das seinen Wert nie verliert. Wenn
unsere Kirche also noch einmal einen neuen Aufbruch erleben soll,
dann muss er aus der Bibel erwachsen – so wie es bei allen Aufbrüchen
der Kirchengeschichte gewesen ist. Die Kraft dazu hat sie allemal
– wir müssen sie ihr nur zutrauen.

Zweites Stichwort:
Gemeinschaft – die war vielleicht nie so wertvoll wie heute, wo
zunehmend jeder für sich und jeder gegen jeden steht. Ich glaube,
der Tag ist nicht mehr fern, an dem viele Menschen den grenzenlosen
Individualismus satt haben und uns Christen fragen: Wie geht das,
mit anderen zu leben, miteinander zu teilen und einander etwas mitzuteilen,
gemeinsam stärker zu sein als allein? Gut, wenn wir es ihnen dann
noch sagen können! Wenn wir Ihnen Gemeinschaft vorleben, wo einer
des andern Last trägt und einer des andern Freude teilt. Wenn unsere
Gemeinschaft einladend und auf Zuwachs angelegt ist. Und wenn wir
sie spüren lassen, dass es niemand anders als Gott selbst ist, der
unsere Gemeinschaft zusammenhält.

Damit bin ich
schon beim dritten Stichwort: beim Brotbrechen. Denn das Abendmahl
ist das Herz unserer Gemeinschaft. Hier ist Gott in Christus selbst
in unserer Mitte. Hier lässt er uns schmecken und sehen, wie freundlich
er ist. Hier wird seine Liebe, sein Trost, seine Vergebung sinnlich
erfahrbar. Eigentlich feiern wir es dafür viel zu selten, und viel
zu wenige von uns nehmen daran teil. – Wissen Sie was ich toll fände?
Wenn wir, wenn schon nicht täglich, dann wenigstens jeden Sonntag
miteinander Abendmahl feiern würden (das immerhin können wir von
unseren katholischen Geschwistern lernen). Wenn wir endlich die
falschen reformierten Skrupel ablegen würden, dass wir oder irgendein
Mitchrist womöglich unwürdig sein könnte, am Mahl des Herrn teilzunehmen.
Wenn wir unsere Kinder aus innerer Überzeugung am Abendmahl teilnehmen
ließen, damit sie in die Gemeinschaft der Glaubenden hineinwachsen,
zu der sie durch die Taufe schon gehören. Wenn an unseren Abendmählern
deutlicher würde, dass wir dabei nicht eines Verstorbenen gedenken,
sondern unseren lebendigen, auferstanden Herrn in unserer Mitte
feiern – nicht durch aufgesetzte Fröhlichkeit, aber mit sichtbarer
„Freude und lauterem Herzen“, wie es im Text heißt. Und natürlich,
wenn endlich alle christlichen Konfessionen ohne Wenn und Aber am
Tisch des Herrn vereint wären.

Jetzt bin ich
allerdings schon wieder dabei, ins Träumen zu kommen. Wenn es dabei
nicht bleiben soll, dann braucht es noch das vierte Stichwort: das
Gebet. Das heißt: mit Gott in Verbindung bleiben  – als Einzelner
und als Gemeinde. Mit ihm reden und Antwort von ihm erwarten. Und
uns offen halten für sein Wirken. Denn wenn Gott durch seinen guten
heiligen Geist nicht das Gelingen gibt, dann taugt das Ideal noch
nicht mal als Ansporn. Auch im Text ist es der Herr selber, der
täglich die Geretteten hinzufügt. Dass er das tun will, das hat
er uns versprochen. Und an dieses Versprechen dürfen wir ihn jederzeit
erinnern.

Amen.

Predigtext zu Christi Himmelfahrt

GOTTESDIENST FÜR CHRISTI HIMMELFAHRT

Klafelder Markt, 13.5. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Apg 1,3-12

Nach seinem
Leiden zeigte sich Jesus den Aposteln durch viele Beweise als der
Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und
redete mit ihnen vom Reich Gottes. Und als er mit ihnen zusammen
aß, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten
auf die Verheißung des Vaters, „die ihr“, so sprach er, „von mir
gehört habt; denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt
mit dem heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen.“

Die nun zusammengekommen
waren, fragten ihn und sprachen: „Herr, wirst du in dieser Zeit
wieder aufrichten das Reich für Israel?“ Er sprach aber zu ihnen:
„Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater
in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des heiligen
Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und ihr werdet meine
Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis
an das Ende der Erde.“ Und als er das gesagt hatte, sahen sie, wie
er aufgehoben wurde, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen
weg.

Und als sie
ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen
zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: „Ihr Männer von Galiläa,
was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch
weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr
ihn habt gen Himmel fahren sehen.“ Da kehrten sie nach Jerusalem
zurück vom Ölberg, der nahe bei Jerusalem liegt.

An einem Satz
bin ich hängen geblieben, als ich mich mit diesem Abschnitt aus
der Apostelgeschichte beschäftigt habe. Er steht ziemlich am Ende
des Textes. Da werden die Apostel von zwei Männern in weißen Gewändern
gefragt: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum
Himmel?“

Nein, hab ich
mir gedacht, als ich das gelesen habe, eines kann man uns Christen
heute in Deutschland, in Siegen, in Geisweid bestimmt nicht nachsagen:
dass wir dastehen und in den Himmel starren – nicht einmal dann,
wenn wir freien Blick auf den Himmel haben wie heute hier auf dem
Klafelder Markt. Der Vorwurf, dass wir wie so ein geistlicher Hans-guck-in-die-Luft
durch die Gegend laufen, der würde uns nicht treffen. Wir schauen
vielleicht mit verklärtem Blick in die Vergangenheit, als das Abendland
noch christlich war (jedenfalls dem Anschein nach) und die Menschen
noch besser zusammenhielten. Wir richten unser Augenmerk auf unseren
Alltag: auf die tägliche Routine im Haushalt, am Arbeitsplatz, in
unseren Gemeinden. Wir blicken sorgenvoll auf die roten Zahlen in
den öffentlichen Haushalten – nicht nur in Griechenland –, auf den
wachsenden Egoismus und das schwindende Verantwortungsbewusstsein
vieler Menscheln. Und wir sehen zu, wie wir uns da selbst möglichst
unbeschadet durchschlagen. Aber wir lassen uns bestimmt nicht dabei
erwischen, dass wir sehnsüchtige Blicke gen Himmel werfen wie die
Apostel damals. „Jesus, geh nicht weg“, sagen diese Blicke. „Wie
sollen wir denn ohne dich zurecht kommen? Komm doch wieder, wir
brauchen dich!“ Ähnliche Worte sprechen wir zwar auch noch. Wir
beten „Dein Reich komme“ und „Dein Wille geschehe wie im Himmel,
so auf Erden“. Aber wenn wir das tun, klingt nur selten echte Sehnsucht
mit. Als evangelischer Christ deutscher Zunge bleibt man eben auch
in Glaubensdingen lieber nüchtern und realistisch – erst recht,
wenn man auch noch aus dem Siegerland kommt. Und deshalb rechnen
wir im Grunde unseres Herzens eher nicht damit, dass der Himmel
eingreift und uns von allen Sorgen befreit. Wenn wir uns dieser
Einbildung hingeben würden, so denken wir, dann würde uns das nur
davon abhalten, entschieden zu handeln und unsere Probleme tatkräftig
anzupacken.

Nein, zum Himmel
schauen wir nicht. Insofern befolgen wir die Weisung der beiden
Männer in den weißen Gewändern. Aber wenn wir das so tun, wie ich
es eben beschrieben habe, dann haben wir vergessen, warum wir nicht
zum Himmel zu schauen brauchen. Das steht in V.8 des Predigttextes.
Zweierlei gibt Jesus seinen Aposteln dort mit für die Zeit, wenn
er nicht mehr bei ihnen ist: „Ihr werdet die Kraft des heiligen
Geistes empfangen, der auf euch kommen wird – das ist das eine.
Und „ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa
und Samarien und bis an das Ende der Erde“ – das ist das andere.

Zunächst das erste:
„Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen“. Kein Befehl
ist das, kein Auftrag, sondern eine Verheißung. Lukas erzählt im
nächsten Kapitel seiner Apostelgeschichte, wie diese Verheißung
in Erfüllung geht. Da weht der Geist Gottes wie eine frische Brise
durch die Reihen der Apostel und begeistert sie für die Sache des
auferstandenen Christus. Und diese Begeisterung fließt über: Sie
müssen reden von dem, was sie erfüllt. Alle können sie verstehen,
jeder in seiner Sprache. Und viele lassen sich anstecken von Gottes
Geist, von dem Vertrauen darauf, dass in Christus Heil und Leben
zu finden ist.

Warum ist davon
bei uns Allianz-Christen hier und heute so wenig zu spüren? Warum
weht der heilige Geist so kräftig in Brasilien oder in Südkorea,
während er bei uns höchstens ein laues Lüftchen ist? Warum findet
spürbare Begeisterung bei uns vielleicht bei der Fußball-WM statt
oder bei Popkonzerten, aber nicht im Gottesdienst? Sicher, Gottes
Geist weht, wo er will, und wir können ihn nicht herbeizwingen,
erst recht nicht durch künstliche Stimmungsmache und aufgesetzte
Fröhlichkeit. Aber die Verheißung Jesu gilt doch auch uns. Warum
geschieht dann so wenig?

Verhindern können
wir das Wirken des heiligen Geistes nicht, denn es ist ja das Wirken
Gottes. Aber Paulus sagt einmal, dass man den Geist „dämpfen“ kann.
Ich glaube, genau das ist unser Problem. So wie wir unsere Wohnungen
gegen Schall und Kälte isolieren, so isolieren wir oft, wenn auch
ungewollt, unser Christsein gegen den Geist Gottes. Gottlob schaffen
wir das nie vollständig. Sonst gäbe es uns schon nicht mehr. Trotzdem
haben wir es auf diesem Gebiet zu einiger Perfektion gebracht. Wenn
zum Beispiel irgendeine Veränderung ansteht, die neue Bewegung in
unser festgefahrenes Glaubens- und Gemeindeleben bringen könnte,
dann sagen wir erst einmal: „Das haben wir doch noch nie gemacht!“
Dann tragen wir alles zusammen, was dagegen spricht, einschließlich
passender oder passend gemachter Bibelstellen, und anschließend
machen wir weiter wie bisher, solange es irgend geht. Wenn’s dann
wirklich nicht mehr geht, ist die Chance des Neuen meist verpasst.

Eine erfolgreiche
Isolierung gegen den heiligen Geist erreichen wir auch durch die
Einrichtung möglichst vieler Gremien – nach dem Motto: „Wenn ich
nicht mehr weiter weiß, dann gründ ich einen Arbeitskreis.“ Oder
einen Ausschuss. Oder eine Interessengemeinschaft. Oder ein Gesprächsforum.
Und so weiter und so fort. Da wird dann jeder gute Neuansatz so
lange hin- und hergewälzt und zerredet und auf geduldiges Papier
geschrieben, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt. Und die Beteiligten
haben sich dabei so zerstritten, dass in Zukunft keiner mehr dem
anderen über den Weg traut und alle sich gegenseitig nur noch im
Weg stehen. So läuft es jedenfalls oft bei Kirchens. In freien Werken
und Gemeinden ist das wahrscheinlich alles ganz anders – oder doch
nicht? Na, dann willkommen im Club der Leidensgenossen! Kein Wunder,
dass da keine Begeisterung aufkommen kann.

Können wir dagegen
etwas tun?  Ich denke ja. Wir könnten zum Beispiel damit anfangen,
dass wir bei viel versprechenden Neuanfängen die Bedenken klein
und die Chancen groß schreiben und mit Mut und Gottvertrauen neue
Aufbrüche wagen. Und wenn wir selber am Alten hängen und damit zufrieden
sind, dann sollten wir wenigstens andere nicht hindern, neue Wege
zu beschreiten. Und bei unseren vielen Diskussionen sollten wir
die Sache Jesu Christi in den Mittelpunkt stellen und nicht unsere
Eigeninteressen und unser gegenseitiges Misstrauen. Und vor allem
sollten wir nicht beides miteinander verwechseln. Könnte ja sein,
dass wir dann schneller fertig sind und dass mehr dabei herauskommt.
Das alles sind nur Ansätze zum Umdenken. Aber dazu müsste das, was
an heiligem Geist zu uns durchdringt, eigentlich genügend Antriebskraft
liefern. Gott gebe, dass wir uns darauf einlassen.

Wenn das geschieht,
wenn wir uns der Kraft des heiligen Geistes nicht entgegenstemmen,
sondern uns von ihr tragen lassen, dann wird auch das zweite wahr,
was Jesus sagt: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in
ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ Auch das
ist kein „Missionsbefehl“, sondern eine Verheißung. Die Apostelgeschichte
erzählt, wie sie Stück für Stück in Erfüllung geht, wie die Apostel
die Botschaft von Jesus Christus zuerst nach Jerusalem, dann nach
ganz Palästina und schließlich in alle Welt bringen. Aber die Geschichte
geht noch weiter. In der Bibel endet sie damit, dass Paulus nach
Rom kommt. Aber Rom ist ja nicht das Ende der Erde. Heute wissen
wir, dass die Erde eine Kugel ist. Also hat sie im Prinzip unendlich
viele Enden. Und an einem Ende leben wir: jeder von uns als einzelner
Christenmensch und wir zusammen als Gemeinde und als Evangelische
Allianz. Dass wir an unserem Ende der Erde seine Zeugen sein werden,
heute ganz konkret hier auf dem Klafelder Markt, das ist die Verheißung
Jesu an uns. Und wenn wir der Kraft des heiligen Geistes vertrauen,
dann wird sie sich auch durch uns erfüllen. Dann werden auch die
Menschen hier in Geisweid und Umgebung merken, dass es dort Christen
gibt, die begeistert sind von dem, was sie glauben, und die dabei
doch eine Sprache sprechen, die sie verstehen. Und sie werden sich
anstecken lassen von unserer Begeisterung. Ist das zuviel versprochen?
Ich denke, wir sollten es mal darauf ankommen lassen.

Jetzt ist aus
meiner Himmelfahrtspredigt unversehens eine Pfingstpredigt geworden.
Aber das schadet nichts. Denn Christi Himmelfahrt heißt ja eben
nicht, dass Jesus Christus nun weit weg ist – egal, ob wir das eher
beruhigend oder eher traurig fänden. Sondern es heißt, dass er durch
den heiligen Geist auf neue Weise zu uns kommt – so, wie ich es
eben zu beschreiben versucht habe. Ein Kanon in unserem Gesangbuch
beschreibt es etwas kürzer: „Der Himmel geht über allen auf, auf
alle über, über allen auf.“ Dass wir das nicht nur singen, sondern
dass es auch geschieht, das gebe Gott.

Amen.

PREDIGT FÜR DEN KARFREITAG

 

GOTTESDIENST FÜR DEN KARFREITAG

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
2.4. 2010
Text: 2. Kor 5,19-21

Gott war in
Christus und versöhnte die Welt mit sich selber, indem er ihnen
ihre Sünden nicht zurechnete, und er hat unter uns aufgerichtet
das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi
Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi
Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner
Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit
würden, die vor Gott gilt.

Paulus spricht
von Versöhnung. Aber Versöhnung ist schwer. Das merken wir schon,
wenn wir uns mit jemandem heftig gestritten haben. Es kostet immer
Überwindung, den ersten Schritt zu tun und zu sagen: „Es tut mir
leid. Lass uns die Sache aus der Welt schaffen und uns wieder vertragen!“
So ist das schon beim Streit unter Freunden oder beim Familienkrach.
Wie schwer ist Versöhnung dann erst dort, wo Menschen sich lange
Zeit abgrundtief gehasst haben, wo sie sich Jahrzehnte, wenn nicht
gar Jahrhunderte lang gegenseitig das Schlimmste angetan haben!
Da hinterlässt die Feindschaft so tiefe Gräben, dass sie kaum zu
überwinden sind. Die immer neuen Konflikte zwischen Israelis und
Palästinensern oder der dreißigjährige Krieg in Afghanistan führen
uns das deutlich vor Augen. Aber selbst dort, wo endlich äußerlich
Frieden eingekehrt ist, sind die inneren Wunden noch lange nicht
verheilt. Zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, wo in den verschiedenen
Kriegen der neunziger Jahre weit über 100 000 Menschen starben,
mehr als 2,5 Millionen ihre Heimat verloren und etliche Hauptkriegsverbrecher
immer noch nicht gefasst und verurteilt sind. Oder auch bei den
alten Schlesiern oder Ostpreußen, von denen ja etliche auch hier
bei uns leben. Vielen von ihnen fällt es auch nach mehr als sechzig
Jahren noch schwer, sich mit denen auszusöhnen, die sie auf brutale
Weise aus ihrer Heimat vertrieben haben. Zu lebendig sind immer
noch die Erinnerungen daran. Ich kann ihnen das nicht verübeln.
Genauso wenig kann ich es den Überlebenden der Konzentrationslager
übel nehmen, wenn sie nicht vergessen können und uns Deutsche immer
noch mit tiefem Argwohn betrachten. Manchmal hilft es, wenn eine
neue Generation heranwächst, die den Anlass der Feindschaft nicht
mehr persönlich erlebt hat. Aber manchmal wird die Unversöhnlichkeit
auch von Generation zu Generation weitervererbt. Immer neue Vergeltungsakte
erhalten sie am Leben.

Warum ist das
so? Warum fällt es uns so schwer, Feindschaften zu überwinden und
Versöhnung zu stiften? Aufgrund dessen, was Paulus sagt, möchte
ich dazu folgende These aufstellen: Nur wer selbst versöhnt ist,
kann sich mit anderen versöhnen. Wir merken das ja an uns selber:
Wenn wir mit uns selbst im Reinen sind, dann fällt es uns auch leichter,
friedlich und versöhnlich mit unseren Mitmenschen umzugehen. Aber
das gelingt uns höchstens zum Teil. Ganz versöhnt mit uns selbst
und mit unserer Vergangenheit zu leben, das können wir nicht aus
eigener Kraft. Denn vieles, was wir Falsches denken, sagen und tun,
lässt sich nicht einfach wiedergutmachen, wenn es einmal passiert
ist. Was durch uns geschehen ist, dafür bleiben wir verantwortlich.
Und was daran falsch war, das lastet als Schuld auf uns: auf unserem
Gewissen, auf unserem Verhältnis zu unseren Mitmenschen und auf
unserem Verhältnis zu Gott. Kein sogenannter „Schlussstrich“, keine
Entschuldigung, kein „Tut mir leid“ hebt das alles einfach auf.
So billig kommen wir nicht davon, und im Grunde unseres Herzens
wissen wir das auch.

Aber wenn wir
selbst nicht den ersten Schritt zur Versöhnung tun können, wer dann?
Ich weiß aus diesem Dilemma nur einen Ausweg. Und dazu ist es notwenig,
dass es wahr ist, was Paulus sagt: Gott selbst hat uns alle mit
sich versöhnt durch Jesus Christus. Er hat den Schlussstrich gezogen,
den wir nicht ziehen können: er hat uns unsere Sünden, unsere Schuld
nicht zugerechnet. Das heißt: Gott macht es nicht so wie wir. Er
rechnet uns nicht unser ganzes Versagen und all unsere Fehler vor
und sagt dann: „So, jetzt bezahle, aber bitte sofort und in bar!“
Er sagt aber auch nicht: „Ist nicht so schlimm, wenn du nicht bezahlen
kannst. Gib mir halt, was du hast, und den Rest vergessen wir!“
Stattdessen sagt er: „Ich weiß um die Höhe deiner Schuld – besser
als du selbst. Ich weiß auch, dass du das niemals alles aufbringen
kannst. Aber du bist mein geliebtes Geschöpf, trotz alledem. Und
deshalb hab ich für dich bezahlt – die ganze Summe!“ Dass unsere
Schuld tatsächlich so groß ist und dass Gott das mit dem Bezahlen
nicht einfach so daher sagt, sondern dass es ihm damit todernst
ist, dafür steht das Kreuz Jesu auf Golgatha. Es ist sozusagen die
rechtsgültige Unterschrift, mit der Gott bestätigt, dass er unsere
gesamten Schulden beglichen hat. Das ist gemeint, wenn Paulus sagt:
„Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht,
damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“

In der kirchlichen
Tradition ist dieser Satz sehr missverständlich, wenn nicht gar
falsch gedeutet worden. Wir finden diese Deutung zum Beispiel in
vielen unserer Gedangbuchlieder. Da heißt es etwa: „Gottes Sohn
ist Mensch geborn, hat versöhnt des Vaters Zorn“ (EG 29) oder: „Du
großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen“ (EG 87). Das klingt
– jedenfalls für heutige Ohren –, als ob Gott einen Sündenbock gebraucht
hätte, an dem er stellvertretend seine Wut über uns auslassen konnte,
dass der zornige Gott nur durch ein blutiges Opfer zu versöhnen
gewesen sei und dass der unschuldige Christus sich selbst als dieses
Opfer zur Verfügung gestellt habe. Eine entsetzliche Vorstellung!
Als ob Gott ein hungriges Raubtier sei, das man nur friedlich stimmen
kann, indem man ihm rohes Fleisch vorwirft! Wenn Präses Schneider
diese Deutung gemeint haben sollte, als er sagte, er könne den Tod
Jesu nicht als Opfer für unsere Sünden verstehen, dann hätte er
Recht. Denn bei Paulus, ja, im ganzen Neuen Testament, steht davon
kein Wort! Paulus sagt nicht: Christus hat den zornigen Gott mit
uns versöhnt, sondern er sagt: Gott war in Christus und hat uns
mit sich versöhnt. Gott war nie unser Feind, aber wir waren seine
Feinde, weil wir so gelebt haben, als ob es ihn nicht gäbe, und
es oft genug immer noch tun. Diese Feindschaft ist zu Ende. Gott
hat sie von sich aus aufgehoben – ohne Vor- und Gegenleistung von
irgend jemandem. Nicht Gottes Zorn offenbart sich am Kreuz Jesu,
sondern seine abgrundtiefe Liebe. Als Jesus stirbt, da erleidet
Gott den Tod mit, den wir sonst sterben müssten: beladen mit unserer
ganzen Schuld, unversöhnt mit uns selbst und der Welt. Gott begleicht
unsere Rechnung, und die ist so hoch, dass sie ihn nicht weniger
als das Leben kostet. So geschieht Versöhnung, ein- für allemal.

Das ist also die
Botschaft von Karfreitag und Ostern: Die Welt ist mit Gott versöhnt.
Aber das muss die Welt nun auch erfahren. Paulus und seine Mitarbeiter
leben für nichts anderes: „So sind wir nun Botschafter an Christi
Statt“, sagt er, „denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun
an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Bis heute werden
alle Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche bei ihrer Ordination
auf diesen Auftrag verpflichtet, und in der Tat hat unsereins nichts
Dringenderes zu tun. Aber der Auftrag gilt nicht nur für Pfarrer:
alle Christen sind mit ihrem Reden und Handeln „Botschafter an Christi
Statt“, jeder an seinem Platz, jeder auf seine Weise. Über dieses
Botschafterdasein sagt Paulus zweierlei: zum Einen, was der Inhalt
der Botschaft ist, und zum Anderen, wie wir sie vorbringen sollen.

Der Inhalt lautet
schlicht und knapp: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Man könnte
sich fragen, wozu das noch nötig ist, wenn die Versöhnung doch schon
geschehen ist. Aber Gott möchte eben, dass wir die Hand auch ergreifen,
die er zur Versöhnung ausgestreckt hat. Er möchte, dass wir es für
uns ganz persönlich wahr sein lassen, was er für uns getan hat.
Nicht er braucht das, sondern wir, damit wir darüber froh werden
und unser Leben sich ändert.

Und was ist, wenn
wir Gottes Hand nicht ergreifen? Zieht er sie dann zurück? Bläst
er die Versöhnung ab? Ich glaube nicht, dass er das tut. Gott hat
sich mit uns versöhnt, sagt Paulus. Das bleibt gültig, ob wir wollen
oder nicht. Sonst müsste er ja alles, was damals mit Jesus geschehen
ist, wieder rückgängig machen. Aber wir würden weiter als unversöhnte
und unversöhnliche Menschen durch die Welt laufen, obwohl das gar
nicht sein müsste. Es wäre, als ob wir ein großes Geschenk unausgepackt
liegen lassen würden: wir haben es, aber wir haben nichts davon.
Und das wäre doch absoluter Unsinn, oder?

Nun zum anderen,
zum Wie. „Wir bitten an Christi Statt“, sagt Paulus. Das heißt:
wir können niemanden zwingen, unserer Botschaft Glauben zu schenken,
und wir sollten es auch nicht versuchen – weder durch Gewalt – körperliche
oder seelische –, noch durch Geld, noch durch gute Worte, und auch
nicht durch Showeffekte. Wir können nur durch Wort und Tat bezeugen,
dass die Welt mit Gott versöhnt ist – überzeugen muss Gott selbst
durch seinen heiligen Geist.

Und wie machen
wir das mit dem Bezeugen? Ich denke, ganz schlicht dadurch, dass
wir als versöhnte und versöhnliche Menschen leben. Dazu gehört zuerst,
dass wir mit uns selbst versöhnt sind, dass wir uns selbst so annehmen
können, wie wir sind: mit unseren Fehlern und unserer Unvollkommenheit,
mit all den Verletzungen an Leib und Seele, die das Leben uns geschlagen
hat. Und wenn uns das gelingt, dann fällt es uns, denke ich, auch
leichter, anderen die Hand zur Versöhnung zu reichen, ihnen zu vergeben
und uns vergeben zu lassen. Je öfter das geschieht, desto mehr wird
davon sichtbar, dass unsere Welt keine andere ist als die, die Gott
schon längst mit sich versöhnt hat.

Ich weiß, dass
das alles leichter gesagt als getan ist. Ich weiß, wie schwer es
mir fällt, mit mir selbst und anderen ins Reine zu kommen. Deshalb
möchte ich mich so oft wie möglich daran erinnern lassen, dass ich
mit Gott längst versöhnt bin und das er mich zum Botschafter seiner
Versöhnung macht. Und dann bitte ich ihn, dass er seine versöhnende
Kraft durch mich wirken lässt. Gott wird mir und Ihnen diese Bitte
nicht abschlagen. Und wo dann jeder von uns mit der Versöhnung beginnen
muss, das wissen wir alle selber am besten.

Amen.