GOTTESDIENST FÜR DEN VIERZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS
Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
5.9. 2010
Text: Röm 8,14-17
Letzten Dienstag
war für die neuen Erstklässler der erste Schultag. Wie immer haben
wir aus diesem Anlass gemeinsam mit den Grundschulen ökumenische
Gottesdienste gefeiert. Und es war wieder so, wie ich es auch von
den ersten Schultagen meiner eigenen Kinder kenne: Da saßen sie
in den ersten Reihen mit neuem Ranzen und Schultüte, ein wenig aufgeregt,
aber auch stolz, endlich zu den „Großen“ zu gehören. Und auch die
Gedanken der Eltern, die mit dabei waren, werden ähnliche gewesen,
wie ich sie von mir selber kenne: Da hat das Kind gerade erst laufen
und sprechen gelernt, kurz davor lag es noch in der Wiege, und jetzt
geht es plötzlich schon zur Schule – lernt Lesen, Schreiben, Rechnen,
geht neue Wege, findet neue Freunde, und das alles ohne seine Eltern!
Wie rasend schnell das doch gegangen ist! Heute wird nun schon unsere
zweite Tochter zur Konfirmation angemeldet, und wahrscheinlich sollten
meine Frau und ich uns innerlich schon mal auf Abifeiern, Hochzeiten
und Enkelkinder vorbereiten. Auch der Familie Langenbach kann ich
nur raten, sich auf dieses rasende Tempo gefasst zu machen und die
Zeit mit ihrem Kind gut zu nutzen – sie geht so schnell vorbei!
Aber natürlich
freuen sich Eltern auch über die Fortschritte ihrer Kinder, sind
stolz auf das, was sie schon alles können, und dass sie sich immer
mehr zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Denn wir haben
sie ja lieb, unsere Kinder, und deshalb müssen wir auch lernen,
sie loszulassen – je länger, je mehr. Es wäre schlimm, wenn es nicht
so wäre. Denn wenn wir an unseren Kindern keine Freude hätten, wenn
wir keine Liebe für sie empfinden würden, dann könnten wir ihnen
kaum einen guten Weg ins Leben zu bahnen. Dann würden wir Kinder
nur als die Last empfinden, die sie ja auch sind: eine Last, die
Arbeit, Ärger und Sorgen macht und auf die man gut verzichten könnte.
Und unsere Kinder würden dann sehr schnell merken, dass wir sie
eigentlich gar nicht haben wollen. Sie würden merken, dass wir sie
nicht wirklich lieb haben, sondern sie nur satt und sauber halten
und sie ansonsten unseren Regeln unterwerfen, damit sie uns möglichst
wenig stören. Das selbstverständliche Vertrauen zu ihren Eltern,
das alle Kinder mit auf die Welt bringen, würde dadurch ziemlich
schnell zerstört. Im Grunde wären sie dann keine Kinder mehr, sondern
nur noch Zöglinge. Und aus Zöglingen werden vielleicht Menschen,
die gut funktionieren, weil sie es gewöhnt sind, sich unterzuordnen
und anzupassen; aber es werden daraus keine freien Persönlichkeiten,
die selbst- und verantwortungsbewusst ins Leben gehen.
Leider war diese
Art Erziehung viel zu lange die Regel, und viele Eltern haben sich
auch noch auf Gott berufen, wenn sie ihre Kinder zu Zöglingen degradiert
haben. Sie haben dann zwar vielleicht vom „lieben Gott“ geredet,
aber gemeint haben sie einen strengen Gott, der vor allem will,
dass man ihm gehorsam ist und sich seinen Geboten unterwirft. „Der
liebe Gott sieht alles“, hieß es dann zum Beispiel mit erhobenem
Zeigefinger. Dadurch wollten die Eltern sicherstellen, dass ihre
Kinder auch dann noch parierten, wenn sie selbst mal nicht hinschauen
konnten. Oder man ließ die Kinder beten: „Lieber Heiland mach mich
fromm, dass ich in den Himmel komm!“ – Und „fromm“ zu sein hieß
nur zu oft, brav das zu tun, was die Eltern sagen. Gott sei Dank
sind solche Erziehungsmethoden heute selten geworden. Aber viele,
die es so erlebt und darunter gelitten haben, wollen bis heute nichts
mehr von Glauben und Kirche wissen, weil sie Gott nur als verlängerten
Arm schlechter Erziehungsmethoden kennen gelernt haben – als einen,
vor dem man mindestens genauso Angst haben muss wie vor einer Tracht
Prügel. Mit dem will man natürlich als erwachsener Mensch nichts
mehr zu tun haben.
Der Predigttext
für den heutigen Sonntag redet ganz anders von Gott. In ihm beschreibt
der Apostel Paulus den Christen in Rom das Verhältnis, in dem wir
als Christen zu Gott stehen:
Diejenigen,
die sich vom Geist Gottes leiten lassen, die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass
ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist
der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
Der Geist selbst bezeugt unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben
und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch
mit zur Herrlichkeit erhoben werden.
Paulus gebraucht
hier ein Bild aus dem gesellschaftlichen Leben seiner Zeit. Damals
bestand eine Familie nicht nur aus Vater, Mutter, Kind, sondern
aus viel mehr Menschen: dem Hausvater als Familienoberhaupt – das
war eben damals noch ganz selbstverständlich –, seiner Frau, seinen
Kindern, vielleicht noch seinen alten Eltern und auch aus Bediensteten
und Sklaven – je nachdem, ob und wie viele man sich von denen leisten
konnte. Paulus vergleicht nun die Kinder, vor allem die Söhne, und
die Sklaven miteinander: Beide gehören zur Familie, beide sind vom
Hausvater abhängig. Sie haben ihn zu respektieren und müssen ihm
gehorchen. Aber die Sklaven sind zu nichts anderem bestimmt als
Sklaven zu sein und zu bleiben. Die Söhne dagegen werden eines Tages
das Erbe ihres Vaters antreten und selbst Hausväter sein und über
Sklaven gebieten. Die einen stehen in der Familie nur in einem Arbeitsverhältnis,
die anderen in einem Vertrauensverhältnis. Die einen haben das Familienoberhaupt
mit „Herr“ anzureden, die anderen dürfen „Vater“ oder sogar „Papa“
zu ihm sagen.
Dieses Bild wendet
nun Paulus auf das Verhältnis der Christen zu Gott an: Wir stehen
zu Gott nicht in einem Sklavenverhältnis, sagt er, sondern in einem
Kindschaftsverhältnis. Wir gehören zu seinen Erben und dürfen ihn
Vater nennen. Heute sind wir es gewohnt, Gott so anzureden. Aber
damals muss das seltsam geklungen haben: Wir arme, kleine Menschen
sollen Kinder Gottes sein, Adoptivkinder sozusagen? Wir sollen uns
nicht vor ihm in den Staub werfen wie vor den Bildern unserer bisherigen
Götter, sondern vertrauensvoll „lieber Vater“ zu ihm sagen? Und
wir sollen sogar seine Erben sein? Aber Gott stirbt doch nicht,
und wir können doch nicht an seiner Statt Gott werden!
Paulus hätte auf
solche Fragen geantwortet: Es geht auch gar nicht darum, dass ihr
Gott werden sollt. Es geht vielmehr darum, dass Gott Mensch geworden
ist. Jesus kam von Gott her und war doch ein Mensch wie wir. Deshalb
ist er zugleich Gottes Sohn und unser Bruder. Jesus ist der, den
Gott zum Erben eingesetzt hat. Ihn hat er erhöht und zum Herrn der
Welt gemacht. Aber wir, die an Jesus Christus glauben, sind seine
Geschwister, und deshalb erben wir mit ihm zusammen. Und sozusagen
als Anzahlung auf das Erbe hat er uns seinen Geist gegeben. Wir
können in der Gewissheit leben, dass wir unlöslich mit Gott verbunden
sind wie ein Kind mit seinen Eltern. Und deshalb können wir ihn
voll Vertrauen als unseren Vater anreden – so wie Jesus es tat und
es uns mit dem Vaterunser beigebracht hat.
Genau darum geht
es auch bei der Taufe. Als der kleine Finn eben getauft wurde, da
hat Gott ihm wie zuvor uns allen zugesprochen: „Du bist mein liebes
Kind. Ich habe dich genauso lieb wie Jesus, meinen Sohn, und ich
möchte mit dir genauso eng verbunden sein, wie ich mit ihm verbunden
bin.“ Seitdem gilt für uns, dass wir außer unseren leiblichen Eltern
auch noch einen guten Vater im Himmel haben. Und so wie man die
Taufe nicht rückgängig machen kann, so bleibt Gott auch dann unser
himmlischer Vater, wenn wir nicht so gute Eltern hatten, wie wir
es uns gewünscht hätten und wie sie vielleicht auch sein wollten,
aber nicht konnten. Für Gott ist kein Mensch nur das unabänderliche
Ergebnis seiner Erziehung, ob sie nun eher gelungen oder eher danebengegangen
ist. Ich wünsche Finn und allen Kindern, die getauft werden, dass
sie von ihrem guten himmlischen Vater etwas erfahren in ihrem Leben.
Und ich wünsche seinen Eltern und Paten und uns Erwachsenen allen,
dass wir ihn nie vergessen und an ihm festhalten können trotz allem,
was uns von ihm weg zieht und was gegen ihn zu sprechen scheint.
Und wie gesagt:
Gott ist nicht der Vater, vor dessen Tracht Prügel man Angst haben
muss, wenn er abends nach Hause kommt. Er ist nicht der Vater, vor
dessen strengem Blick man sich mit schlechtem Gewissen verstecken
muss. Er ist auch nicht der Vater, für den seine Kinder eine lästige
Verpflichtung sind, für die man bestenfalls einen flüchtigen Gute-Nacht-Kuss
und ein paar Euro Taschengeld übrig hat. Und erst recht nicht der,
den sein Kind nie wirklich kennen gelernt hat, weil er eines Tages
plötzlich weg war und womöglich nicht mal Unterhalt zahlt. Nein,
wir alle sind Gottes Wunschkinder. Er hat unsere Geburt herbeigesehnt
und freut sich darüber, dass wir da sind. Er möchte, dass wir selbstbewusste,
freie Menschen werden, dass wir das Beste aus den Gaben machen,
die er uns mitgegeben hat. Er lässt uns erwachsen werden, auch wenn
unsere Wege dann von ihm wegführen. Er ist aber auch immer bereit,
uns mit offenen Armen zu empfangen, wenn wir bei ihm Zuflucht suchen.
Als leiblicher Vater möchte ich mir diesen Vater im Himmel zum Vorbild
nehmen – übrigens auch seine mütterlichen Züge, obwohl von denen
in der Bibel seltener die Rede ist. Und ich möchte darauf vertrauen,
dass meine Kinder dadurch trotz meiner Fehler erfahren, dass Gott
sie liebt.
Amen.
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