PREDIGT FÜR DEN KARFREITAG

 

GOTTESDIENST FÜR DEN KARFREITAG

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
2.4. 2010
Text: 2. Kor 5,19-21

Gott war in
Christus und versöhnte die Welt mit sich selber, indem er ihnen
ihre Sünden nicht zurechnete, und er hat unter uns aufgerichtet
das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi
Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi
Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner
Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit
würden, die vor Gott gilt.

Paulus spricht
von Versöhnung. Aber Versöhnung ist schwer. Das merken wir schon,
wenn wir uns mit jemandem heftig gestritten haben. Es kostet immer
Überwindung, den ersten Schritt zu tun und zu sagen: „Es tut mir
leid. Lass uns die Sache aus der Welt schaffen und uns wieder vertragen!“
So ist das schon beim Streit unter Freunden oder beim Familienkrach.
Wie schwer ist Versöhnung dann erst dort, wo Menschen sich lange
Zeit abgrundtief gehasst haben, wo sie sich Jahrzehnte, wenn nicht
gar Jahrhunderte lang gegenseitig das Schlimmste angetan haben!
Da hinterlässt die Feindschaft so tiefe Gräben, dass sie kaum zu
überwinden sind. Die immer neuen Konflikte zwischen Israelis und
Palästinensern oder der dreißigjährige Krieg in Afghanistan führen
uns das deutlich vor Augen. Aber selbst dort, wo endlich äußerlich
Frieden eingekehrt ist, sind die inneren Wunden noch lange nicht
verheilt. Zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, wo in den verschiedenen
Kriegen der neunziger Jahre weit über 100 000 Menschen starben,
mehr als 2,5 Millionen ihre Heimat verloren und etliche Hauptkriegsverbrecher
immer noch nicht gefasst und verurteilt sind. Oder auch bei den
alten Schlesiern oder Ostpreußen, von denen ja etliche auch hier
bei uns leben. Vielen von ihnen fällt es auch nach mehr als sechzig
Jahren noch schwer, sich mit denen auszusöhnen, die sie auf brutale
Weise aus ihrer Heimat vertrieben haben. Zu lebendig sind immer
noch die Erinnerungen daran. Ich kann ihnen das nicht verübeln.
Genauso wenig kann ich es den Überlebenden der Konzentrationslager
übel nehmen, wenn sie nicht vergessen können und uns Deutsche immer
noch mit tiefem Argwohn betrachten. Manchmal hilft es, wenn eine
neue Generation heranwächst, die den Anlass der Feindschaft nicht
mehr persönlich erlebt hat. Aber manchmal wird die Unversöhnlichkeit
auch von Generation zu Generation weitervererbt. Immer neue Vergeltungsakte
erhalten sie am Leben.

Warum ist das
so? Warum fällt es uns so schwer, Feindschaften zu überwinden und
Versöhnung zu stiften? Aufgrund dessen, was Paulus sagt, möchte
ich dazu folgende These aufstellen: Nur wer selbst versöhnt ist,
kann sich mit anderen versöhnen. Wir merken das ja an uns selber:
Wenn wir mit uns selbst im Reinen sind, dann fällt es uns auch leichter,
friedlich und versöhnlich mit unseren Mitmenschen umzugehen. Aber
das gelingt uns höchstens zum Teil. Ganz versöhnt mit uns selbst
und mit unserer Vergangenheit zu leben, das können wir nicht aus
eigener Kraft. Denn vieles, was wir Falsches denken, sagen und tun,
lässt sich nicht einfach wiedergutmachen, wenn es einmal passiert
ist. Was durch uns geschehen ist, dafür bleiben wir verantwortlich.
Und was daran falsch war, das lastet als Schuld auf uns: auf unserem
Gewissen, auf unserem Verhältnis zu unseren Mitmenschen und auf
unserem Verhältnis zu Gott. Kein sogenannter „Schlussstrich“, keine
Entschuldigung, kein „Tut mir leid“ hebt das alles einfach auf.
So billig kommen wir nicht davon, und im Grunde unseres Herzens
wissen wir das auch.

Aber wenn wir
selbst nicht den ersten Schritt zur Versöhnung tun können, wer dann?
Ich weiß aus diesem Dilemma nur einen Ausweg. Und dazu ist es notwenig,
dass es wahr ist, was Paulus sagt: Gott selbst hat uns alle mit
sich versöhnt durch Jesus Christus. Er hat den Schlussstrich gezogen,
den wir nicht ziehen können: er hat uns unsere Sünden, unsere Schuld
nicht zugerechnet. Das heißt: Gott macht es nicht so wie wir. Er
rechnet uns nicht unser ganzes Versagen und all unsere Fehler vor
und sagt dann: „So, jetzt bezahle, aber bitte sofort und in bar!“
Er sagt aber auch nicht: „Ist nicht so schlimm, wenn du nicht bezahlen
kannst. Gib mir halt, was du hast, und den Rest vergessen wir!“
Stattdessen sagt er: „Ich weiß um die Höhe deiner Schuld – besser
als du selbst. Ich weiß auch, dass du das niemals alles aufbringen
kannst. Aber du bist mein geliebtes Geschöpf, trotz alledem. Und
deshalb hab ich für dich bezahlt – die ganze Summe!“ Dass unsere
Schuld tatsächlich so groß ist und dass Gott das mit dem Bezahlen
nicht einfach so daher sagt, sondern dass es ihm damit todernst
ist, dafür steht das Kreuz Jesu auf Golgatha. Es ist sozusagen die
rechtsgültige Unterschrift, mit der Gott bestätigt, dass er unsere
gesamten Schulden beglichen hat. Das ist gemeint, wenn Paulus sagt:
„Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht,
damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“

In der kirchlichen
Tradition ist dieser Satz sehr missverständlich, wenn nicht gar
falsch gedeutet worden. Wir finden diese Deutung zum Beispiel in
vielen unserer Gedangbuchlieder. Da heißt es etwa: „Gottes Sohn
ist Mensch geborn, hat versöhnt des Vaters Zorn“ (EG 29) oder: „Du
großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen“ (EG 87). Das klingt
– jedenfalls für heutige Ohren –, als ob Gott einen Sündenbock gebraucht
hätte, an dem er stellvertretend seine Wut über uns auslassen konnte,
dass der zornige Gott nur durch ein blutiges Opfer zu versöhnen
gewesen sei und dass der unschuldige Christus sich selbst als dieses
Opfer zur Verfügung gestellt habe. Eine entsetzliche Vorstellung!
Als ob Gott ein hungriges Raubtier sei, das man nur friedlich stimmen
kann, indem man ihm rohes Fleisch vorwirft! Wenn Präses Schneider
diese Deutung gemeint haben sollte, als er sagte, er könne den Tod
Jesu nicht als Opfer für unsere Sünden verstehen, dann hätte er
Recht. Denn bei Paulus, ja, im ganzen Neuen Testament, steht davon
kein Wort! Paulus sagt nicht: Christus hat den zornigen Gott mit
uns versöhnt, sondern er sagt: Gott war in Christus und hat uns
mit sich versöhnt. Gott war nie unser Feind, aber wir waren seine
Feinde, weil wir so gelebt haben, als ob es ihn nicht gäbe, und
es oft genug immer noch tun. Diese Feindschaft ist zu Ende. Gott
hat sie von sich aus aufgehoben – ohne Vor- und Gegenleistung von
irgend jemandem. Nicht Gottes Zorn offenbart sich am Kreuz Jesu,
sondern seine abgrundtiefe Liebe. Als Jesus stirbt, da erleidet
Gott den Tod mit, den wir sonst sterben müssten: beladen mit unserer
ganzen Schuld, unversöhnt mit uns selbst und der Welt. Gott begleicht
unsere Rechnung, und die ist so hoch, dass sie ihn nicht weniger
als das Leben kostet. So geschieht Versöhnung, ein- für allemal.

Das ist also die
Botschaft von Karfreitag und Ostern: Die Welt ist mit Gott versöhnt.
Aber das muss die Welt nun auch erfahren. Paulus und seine Mitarbeiter
leben für nichts anderes: „So sind wir nun Botschafter an Christi
Statt“, sagt er, „denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun
an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Bis heute werden
alle Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche bei ihrer Ordination
auf diesen Auftrag verpflichtet, und in der Tat hat unsereins nichts
Dringenderes zu tun. Aber der Auftrag gilt nicht nur für Pfarrer:
alle Christen sind mit ihrem Reden und Handeln „Botschafter an Christi
Statt“, jeder an seinem Platz, jeder auf seine Weise. Über dieses
Botschafterdasein sagt Paulus zweierlei: zum Einen, was der Inhalt
der Botschaft ist, und zum Anderen, wie wir sie vorbringen sollen.

Der Inhalt lautet
schlicht und knapp: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Man könnte
sich fragen, wozu das noch nötig ist, wenn die Versöhnung doch schon
geschehen ist. Aber Gott möchte eben, dass wir die Hand auch ergreifen,
die er zur Versöhnung ausgestreckt hat. Er möchte, dass wir es für
uns ganz persönlich wahr sein lassen, was er für uns getan hat.
Nicht er braucht das, sondern wir, damit wir darüber froh werden
und unser Leben sich ändert.

Und was ist, wenn
wir Gottes Hand nicht ergreifen? Zieht er sie dann zurück? Bläst
er die Versöhnung ab? Ich glaube nicht, dass er das tut. Gott hat
sich mit uns versöhnt, sagt Paulus. Das bleibt gültig, ob wir wollen
oder nicht. Sonst müsste er ja alles, was damals mit Jesus geschehen
ist, wieder rückgängig machen. Aber wir würden weiter als unversöhnte
und unversöhnliche Menschen durch die Welt laufen, obwohl das gar
nicht sein müsste. Es wäre, als ob wir ein großes Geschenk unausgepackt
liegen lassen würden: wir haben es, aber wir haben nichts davon.
Und das wäre doch absoluter Unsinn, oder?

Nun zum anderen,
zum Wie. „Wir bitten an Christi Statt“, sagt Paulus. Das heißt:
wir können niemanden zwingen, unserer Botschaft Glauben zu schenken,
und wir sollten es auch nicht versuchen – weder durch Gewalt – körperliche
oder seelische –, noch durch Geld, noch durch gute Worte, und auch
nicht durch Showeffekte. Wir können nur durch Wort und Tat bezeugen,
dass die Welt mit Gott versöhnt ist – überzeugen muss Gott selbst
durch seinen heiligen Geist.

Und wie machen
wir das mit dem Bezeugen? Ich denke, ganz schlicht dadurch, dass
wir als versöhnte und versöhnliche Menschen leben. Dazu gehört zuerst,
dass wir mit uns selbst versöhnt sind, dass wir uns selbst so annehmen
können, wie wir sind: mit unseren Fehlern und unserer Unvollkommenheit,
mit all den Verletzungen an Leib und Seele, die das Leben uns geschlagen
hat. Und wenn uns das gelingt, dann fällt es uns, denke ich, auch
leichter, anderen die Hand zur Versöhnung zu reichen, ihnen zu vergeben
und uns vergeben zu lassen. Je öfter das geschieht, desto mehr wird
davon sichtbar, dass unsere Welt keine andere ist als die, die Gott
schon längst mit sich versöhnt hat.

Ich weiß, dass
das alles leichter gesagt als getan ist. Ich weiß, wie schwer es
mir fällt, mit mir selbst und anderen ins Reine zu kommen. Deshalb
möchte ich mich so oft wie möglich daran erinnern lassen, dass ich
mit Gott längst versöhnt bin und das er mich zum Botschafter seiner
Versöhnung macht. Und dann bitte ich ihn, dass er seine versöhnende
Kraft durch mich wirken lässt. Gott wird mir und Ihnen diese Bitte
nicht abschlagen. Und wo dann jeder von uns mit der Versöhnung beginnen
muss, das wissen wir alle selber am besten.

Amen.