Predigt vom 18.7.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SIEBTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
u. Wenschtkirche, 18.7. 2010
Text: Apg 2,42-47

„Jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne“, hat Hermann Hesse gedichtet. Und ich denke,
er hat Recht damit. Wenn etwas neu beginnt, wenn alles noch frisch
und unverbraucht ist, wenn das Neue voller Energie steckt, die jeden
mitreißt, der damit in Berührung kommt, dann sieht es in der Tat
so aus, als ob nichts unmöglich ist, als ob auch die größten Wunder
Wirklichkeit werden könnten. Bei frisch Verliebten oder frisch Verheirateten
ist das so, bei Kindern am ersten Schultag, bei Erwachsenen am ersten
Tag im lang ersehnten Job, ja selbst bei Politikern, die gerade
eine Wahl gewonnen haben.

Aber der Volksmund
sagt ebenfalls zu Recht: Aller Anfang ist schwer. Und deshalb ist
der Zauber, der in jedem Anfang steckt, meist schnell verflogen.
Irgendwann kommt der erste Ehekrach, die erste Fünf, der erste Rüffel,
die erste Koalitionsverhandlung und sorgt für Ernüchterung. Und
dann verblasst, was so verheißungsvoll begann, im Grau des Alltags,
bis einem das anfängliche Glücksgefühl wie ein Märchen vorkommt.

So geht es uns
wohl auch, wenn wir als Christen des Jahres 2010 lesen, was Lukas
in der Apostelgeschichte über die Anfänge der ersten christlichen
Gemeinde schreibt. Wir hören den heutigen Predigttext, Apg 2,42-47:

 

Sie blieben aber
beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im
Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und
es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle
aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle
Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus
unter alle, je nach dem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich
einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort
in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen
und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr
aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

 

Nicht wahr, das
klingt für heutige Ohren in der Tat wie ein Märchen!

„Es geschahen
Zeichen und Wunder durch die Apostel“, und was geschieht heute?
Gemeindehausschließungen, die Trauer und Unmut verursachen. Verfahrensfehler
bei Kündigungen, die viel Geld kosten. Sexueller Missbrauch, der
ignoriert und vertuscht wird, und das – wie wir spätestens seit
der vergangenen Woche wissen – nicht nur in der katholischen Kirche.

„Sie waren beieinander
und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und
teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“ Und
wie steht es heute um den Besitz der Kirche, der Gemeinden und ihrer
Gläubigen? Da ist es ja schon schwer genug die Kindergarten- und
Jugendarbeit in unserem Kirchenkreis solidarisch zu finanzieren.
Oder wichtige diakonische Arbeitsbereiche zu erhalten, die ihre
Kosten nicht wieder einfahren. Und wo übt schon mal jemand echten
Verzicht zugunsten armer Glaubensgeschwister? Gespendet wird doch
nur, solange es nicht wehtut und steuerlich absetzbar ist!

„Sie waren einmütig
beieinander und brachen das Brot hier und dort in den Häusern“ –
und heute? Allein auf dem Gebiet unserer Kirchengemeinde gibt es
mehr als zehn verschiedene Gemeinschaften von Christen, die alle
ihr Eigenleben pflegen. Die meisten von ihnen begegnen sich zwar,
machen manches gemeinsam – in der Allianz, in der Ökumene, vertragen
sich auch schon viel besser als früher, aber nur, solange bestimmte
Themen nicht angesprochen werden: Homosexualität zum Beispiel oder
historisch-kritische Bibelauslegung – schon innerhalb unserer Gemeinde
kämen wir dabei wohl kaum auf einen gemeinsamen Nenner. Und ob evangelische
und katholische Christen je gemeinsam das Brot werden brechen, sprich:
Abendmahl feiern können – hier und dort in den Häusern – das steht
in den Sternen.

„Und fanden Wohlwollen
bei dem ganzen Volk“ – auch davon kann nach allem Gesagten keine
Rede sein, das versteht sich von selbst. Dass innerhalb eines halben
Jahres die beiden angesehensten Bischöfinnen unserer Kirche sich
zum Rücktritt veranlasst sahen – aufgrund vergleichsweise kleiner,
im Falle von Maria Jepsen noch nicht mal erwiesener Fehler – das
mag man hochanständig oder übertrieben finden, es zeigt aber auf
jeden Fall, wie stark den Kirchen zur Zeit der Wind ins Gesicht
bläst und wie schlecht selbst anerkanntes Führungspersonal dem standhalten
kann.

Nun ist es natürlich
richtig, dass Lukas in diesen Versen ein Idealbild der Urgemeinde
zeichnet. Mit der real existierenden Gemeinde von Jerusalem war
es schon damals nicht zur Deckung zu bringen. Auch da gab es schon
Streit in der Diakonie – Stichwort: Versorgung der Witwen – und
Streit um Glaubensfragen, etwa darum, ob Christen weiter im Tempel
Opfer darbringen sollen oder nicht. Und der „Kommunismus“ hat auch
damals in Jerusalem nicht wirklich funktioniert. Erstens gab es
manche, die dann doch heimlich ihren Teil für sich behielten – abschreckendes
Beispiel: Ananias und Saphira – und zweitens, war die Gemeinde bald
so verarmt, dass Paulus in seinen Gemeinden für sie Sammeln  gehen
musste.

Aber auch diese
ernüchternden Tatsachen helfen uns nicht weiter. Denn im Grunde
geben wir dem Autor der Apostelgeschichte ja Recht: Eine ideale
Gemeinde, eine Kirche, die wirklich eins zu eins umsetzt, was Jesus
wollte, die müsste tatsächlich so aussehen, wie Lukas sie beschreibt:
beständig, einmütig, freigebig und fröhlich und damit ein Leuchtstern
und Anziehungspunkt für alle Menschen. Dieses Ideal ist nun mal
in der Welt, und wir messen uns daran und werden daran gemessen,
ob wir wollen oder nicht. Der Satz „Christen sind doch auch nur
Menschen“ ist zwar unbestreitbar richtig, aber als Entschuldigung
oder Selbsttröstung hilft er uns gar nichts.

„Mann, ist das
eine frustrierende Predigt heute“, denken Sie jetzt vielleicht,
und bis jetzt bin ich geneigt, Ihnen Recht zu geben. Denn bis jetzt
habe ich das Ideal, das Lukas zeichnet, in der Tat so verstanden,
dass man sich daran nur Frust holen kann. Ich habe nämlich so getan,
als könnten Ideal und Wirklichkeit deckungsgleich werden. Ideale
sind aber gar nicht als Beschreibung von Wirklichkeit gedacht –
weder vergangener, noch gegenwärtiger noch zukünftiger. Wenn wir
sie so verstehen, können wir nur an ihnen scheitern und enden als
gebrochene Existenzen oder als Zyniker.

Nein, Ideale sind
nicht von dieser Welt und werden es niemals sein. Aber sie können
uns die Richtung weisen, in die es gehen soll. Sie können uns ein
Ansporn sein, uns ihnen so weit wie möglich zu nähern, auch wenn
wir wissen, dass wir sie nie erreichen können. So ist es auch mit
diesem Idealbild einer christlichen Gemeinde. Es gab sie so nie,
und es wird sie auf Erden so nicht geben. Aber die Richtung stimmt,
und darauf kommt es an.

Wenn wir in diese
Richtung gehen wollen, wenn wir wollen, dass Menschen spüren, welches
Ideal uns beseelt, dann tun wir am besten das, was Lukas im ersten
Satz des Textes sagt: fest halten an der Lehre der Apostel, der
Gemeinschaft, dem Brotbrechen und dem Gebet. Zu jedem dieser vier
Stichworte seien mir noch ein paar Sätze vergönnt.

Erstes Stichwort:
Lehre der Apostel – das ist für uns heute die Bibel, die heilige
Schrift Alten und Neuen Testaments. Erfahrungen mit Gott aus einem
Jahrtausend Menschheitsgeschichte haben sich in ihr niedergeschlagen.
Das ist ein Schatz, der auch ganz objektiv nicht seinesgleichen
hat. Was wir hier alles über Gott und die Welt erfahren, das ist
noch längst nicht ausgelotet. Immer noch gibt es Neues zu entdecken,
und Altvertrautes zu bewahren, das seinen Wert nie verliert. Wenn
unsere Kirche also noch einmal einen neuen Aufbruch erleben soll,
dann muss er aus der Bibel erwachsen – so wie es bei allen Aufbrüchen
der Kirchengeschichte gewesen ist. Die Kraft dazu hat sie allemal
– wir müssen sie ihr nur zutrauen.

Zweites Stichwort:
Gemeinschaft – die war vielleicht nie so wertvoll wie heute, wo
zunehmend jeder für sich und jeder gegen jeden steht. Ich glaube,
der Tag ist nicht mehr fern, an dem viele Menschen den grenzenlosen
Individualismus satt haben und uns Christen fragen: Wie geht das,
mit anderen zu leben, miteinander zu teilen und einander etwas mitzuteilen,
gemeinsam stärker zu sein als allein? Gut, wenn wir es ihnen dann
noch sagen können! Wenn wir Ihnen Gemeinschaft vorleben, wo einer
des andern Last trägt und einer des andern Freude teilt. Wenn unsere
Gemeinschaft einladend und auf Zuwachs angelegt ist. Und wenn wir
sie spüren lassen, dass es niemand anders als Gott selbst ist, der
unsere Gemeinschaft zusammenhält.

Damit bin ich
schon beim dritten Stichwort: beim Brotbrechen. Denn das Abendmahl
ist das Herz unserer Gemeinschaft. Hier ist Gott in Christus selbst
in unserer Mitte. Hier lässt er uns schmecken und sehen, wie freundlich
er ist. Hier wird seine Liebe, sein Trost, seine Vergebung sinnlich
erfahrbar. Eigentlich feiern wir es dafür viel zu selten, und viel
zu wenige von uns nehmen daran teil. – Wissen Sie was ich toll fände?
Wenn wir, wenn schon nicht täglich, dann wenigstens jeden Sonntag
miteinander Abendmahl feiern würden (das immerhin können wir von
unseren katholischen Geschwistern lernen). Wenn wir endlich die
falschen reformierten Skrupel ablegen würden, dass wir oder irgendein
Mitchrist womöglich unwürdig sein könnte, am Mahl des Herrn teilzunehmen.
Wenn wir unsere Kinder aus innerer Überzeugung am Abendmahl teilnehmen
ließen, damit sie in die Gemeinschaft der Glaubenden hineinwachsen,
zu der sie durch die Taufe schon gehören. Wenn an unseren Abendmählern
deutlicher würde, dass wir dabei nicht eines Verstorbenen gedenken,
sondern unseren lebendigen, auferstanden Herrn in unserer Mitte
feiern – nicht durch aufgesetzte Fröhlichkeit, aber mit sichtbarer
„Freude und lauterem Herzen“, wie es im Text heißt. Und natürlich,
wenn endlich alle christlichen Konfessionen ohne Wenn und Aber am
Tisch des Herrn vereint wären.

Jetzt bin ich
allerdings schon wieder dabei, ins Träumen zu kommen. Wenn es dabei
nicht bleiben soll, dann braucht es noch das vierte Stichwort: das
Gebet. Das heißt: mit Gott in Verbindung bleiben  – als Einzelner
und als Gemeinde. Mit ihm reden und Antwort von ihm erwarten. Und
uns offen halten für sein Wirken. Denn wenn Gott durch seinen guten
heiligen Geist nicht das Gelingen gibt, dann taugt das Ideal noch
nicht mal als Ansporn. Auch im Text ist es der Herr selber, der
täglich die Geretteten hinzufügt. Dass er das tun will, das hat
er uns versprochen. Und an dieses Versprechen dürfen wir ihn jederzeit
erinnern.

Amen.