Predigt vom 6.3.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ESTOMIHI

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
6.3. 2011
Text: Lk 10,38-42

Wenn ich Geburtstagsbesuche
bei älteren Gemeindegliedern mache, komme ich meistens unangemeldet.
Ich mach das so, weil ich dann mit meiner Zeiteinteilung etwas flexibler
bin und weil ich nicht möchte, dass die Besuchten sich verpflichtet
fühlen, sich extra meinetwegen besondere Umstände zu machen. Ich
nehme dann eben ein Stückchen Kuchen, wenn sowieso welcher da ist,
und wenn nicht, ist auch gut (oder besser, jedenfalls für die schlanke
Linie). Meistens klappt das auch ganz gut. Aber manchmal passiert
auch noch, was mir früher öfter widerfahren ist, dass ich nämlich
durch mein Erscheinen genau die hektische Betriebsamkeit auslöse,
die ich eigentlich vermeiden wollte. „Ach du Schreck“, denkt dann
das – meist weibliche – Geburtstagskind, „der Pastor kommt, und
ich bin doch noch gar nicht fein gemacht und hab noch nichts vorbereitet!“
Und dann heißt es: „Ach, Herr Pastor, das ist aber eine Überraschung!
Legen Sie doch ab und setzen sich schon mal ins Wohnzimmer! Ich
mach nur schnell Kaffee und ein paar belegte Brötchen – oder möchten
Sie lieber Kuchen? Dann müsste ich aber noch mal schnell zum Bäcker.
Ich hab zwar schon Torte geholt, aber die sieht so zerdetscht aus,
die kann ich Ihnen nicht anbieten. Bitte, nehmen Sie doch Platz!
Darf ich Ihnen solange ein Gläschen Sekt anbieten oder ein Schnäpschen
vielleicht? Ach, Sie müssen ja noch fahren – na dann vielleicht
ein Glas Saft, oder lieber Tee? Ich kann Ihnen auch Tee machen!
Nehmen Sie doch den Sessel, der ist bequemer. Und entschuldigen
Sie, dass noch nicht alles aufgeräumt ist – ich dachte ja nicht
… – aber jedenfalls schön dass Sie da sind!“ Und dann sitze ich
erst mal ziemlich lange allein im Wohnzimmer herum, bis meine Gastgeberin
all ihren echten und vermeintlichen Pflichten Genüge getan hat.
Dabei hätte es mir doch völlig gereicht, mich in aller Ruhe mit
ihr zu unterhalten. Dazu bleibt dann womöglich gar keine Zeit mehr
– erst recht, wenn zwischendurch noch fünf Gratulanten am Telefon
sind.

Wahrscheinlich
haben Sie ähnliche Situationen auch schon erlebt, entweder als Gast
oder als Gastgeber. Jetzt stellen Sie sich vor, da käme jemand nicht
nur für ein halbes Stündchen am Vormittag, sondern als Übernachtungsbesuch,
und er käme nicht allein, sondern brächte noch ein rundes Dutzend
Freunde mit. Dann können Sie sich ungefähr vorstellen, wie es zuging,
als Jesus mit seinen Jüngern bei Maria und Marta einfiel. Bei Lukas,
in Kapitel 10, können wir es nachlesen:

Als sie aber
weiter zogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen
Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß
Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede
zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und
sie trat hinzu und sprach: „Herr, fragst du nicht danach, dass mich
meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir
helfen soll!“ Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: „Marta,
Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat
das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Nach dem, was
ich eben erzählt habe, kann ich Marta bestens verstehen, und Sie
wahrscheinlich auch. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten Besuch zu
Hause, und an mir bliebe die ganze Arbeit hängen, während meine
Frau gemütlich bei den Gästen sitzt, dann fände ich das auch nicht
so klasse. Aber auf der anderen Seite kann ich auch Maria verstehen:
Man hat ja schließlich nicht alle Tage Jesus zu Gast – da möchte
man natürlich auch hören, was er zu sagen hat! Und ich kann verstehen,
dass Jesus Maria gegenüber Marta in Schutz nimmt. Denn schließlich
hat er mal gesagt, dass er nicht gekommen ist, um sich bedienen
zu lassen, sondern um zu dienen. Und er möchte, dass möglichst viele
etwas von seiner Botschaft mitbekommen, und zwar nicht nur die Männer,
wie es damals üblich war, sondern auch die Frauen.

Jesus will allerdings
mit seiner Antwort nicht sagen: Das, was Marta tut, ist weniger
wertvoll. Er will auch nicht sagen, dass Maria die emanzipiertere
Frau ist, weil sie mit den Männern dem Rabbi Jesus zu Füßen sitzt.
Marta ist nämlich keineswegs nur das Heimchen am Herd, sondern sie
ist die Gastgeberin: ihr gehört offenbar das Haus, in das sie Jesus
aufnimmt. Und Gastgeberinnen und Hausbesitzerinnen
waren damals genauso ungewöhnlich wie Schülerinnen eines Rabbi.
Also: nicht, was Marta tut, ist falsch, sondern sie tut es zum falschen
Zeitpunkt. Vor lauter Geschäftigkeit verpasst sie das, was Jesus
auch ihr zu sagen hätte. Sie hat ihn zu Gast und hat doch nichts
davon.

Nun hätte uns
Lukas diese Geschichte wohl nicht überliefert, wenn es für ihn nur
eine nette Begebenheit aus dem Leben Jesu gewesen wäre. Ich denke,
dass er den christlichen Gemeinden seiner Zeit damit etwas sagen
wollte. Denn ein paar Stichworte weisen darauf hin, dass er das
Gemeindeleben seiner Gegenwart mit im Blick hat. Für das „Dienen“
der Marta verwendet Lukas das Wort diakoniva. Wenn Sie dabei
an unser Wort Diakonie denken, dann liegen Sie völlig richtig. diakoniva
war schon zu Lukas’ Zeiten der Fachausdruck für alles, was in den
christlichen Gemeinden an tätiger Nächstenliebe geschah: Arme speisen,
Kranke pflegen, Einsame besuchen, für das äußere Wohl der Gemeinde
sorgen und so weiter und so fort. Und für die „Rede“ Jesu, der Maria
zuhört, verwendet Lukas das Wort lovgoj, und das wird oft
für das Wort Gottes gebraucht. Maria hört also auf das Wort
Gottes, das Jesus verkündigt, während Marta mit vielfältigen diakonischen
Aufgaben beschäftigt ist.

So betrachtet,
gewinnen der Protest Martas und die Antwort Jesu noch eine ganz
neue Dimension. Dann geht es hier um die Frage: Was ist wichtiger
für die Kirche, dass sie Gottes Wort hört oder dass sie sich um
die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen? Eine Frage, die heute
genauso aktuell ist wie damals.

Für Marta und
für alle, die so denken wie sie, ist die Antwort klar: Sie sehen
die viele Arbeit, sie sehen die vielen Menschen mit ihren vielfältigen
Nöten, und sie denken nur noch: helfen! Helfen, so gut es geht und
so viel es geht. Nächstenliebe – das ist es doch, was das Christentum
ausmacht, und das ist es auch, was die Leute von uns Christen erwarten.
Wenn die Kirchen Gutes tun, genießen sie immer noch hohes Ansehen.
Und welcher Christenmensch könnte auch tatenlos zuschauen oder nicht
zumindest ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er all das menschliche
Elend sieht – hier bei uns und überall auf der Welt. Also: Diakonie,
Nächstenliebe, soziales Engagement – das muss sein. Stillsitzen
und Jesus zuhören, das können wir immer noch, wenn alles getan ist,
was in unserer Macht steht. Aber wann ist jemals alles getan?

Auch für Jesus
ist die Antwort klar. Doch er vertritt nicht einfach die entgegen
gesetzte Position. Er sagt nicht: „Es ist wichtig, dass ihr mir
zuhört, und alles andere ist unnötige Betriebsamkeit.“ Er stellt
nur einfach fest: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Das ist
so, und das ist auch nicht falsch. Schließlich hat Jesus selbst
betont: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und er hat nicht
hinzugefügt: „Aber nur, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht!“ Nein,
es darf uns ruhig etwas kosten, für unsere Mitmenschen da zu sein,
und zwar nicht nur Geld. Aber Sorge und Mühe ist nicht alles. Und
vor allem ist Diakonie nicht das entscheidende Kriterium,
das uns zu Nachfolgern Jesu macht. Sie ist nicht das Eine, das wirklich
not tut. Dieses Eine ist das, was Maria macht: Jesus zuhören und
durch ihn auf Gott hören.

Nun könnte man
natürlich fragen: Weshalb ist das so wichtig? Warum lange reden
und zuhören, wenn ich doch weiß, wo Not am Mann ist und was getan
werden muss? Vielleicht macht es ein schlichter Vergleich deutlich:
Wenn ich mein Auto anlasse, die Bremse löse und aufs Gas trete,
dann fährt es los. Und es fährt und fährt, fünf- sechshundert Kilometer
weit, wenn es sein muss, auch auf vollen Touren. Aber irgendwann
bleibt die Kiste stehen, und alles Gasgeben bringt sie nicht wieder
zum Laufen – es sei denn, ich hab rechtzeitig getankt.

So ähnlich ist
es auch mit unserem Christenleben: Unser Glaube, unser Vertrauen
auf Gott ist die Triebkraft für unser Handeln. Und diese Triebkraft
erneuert sich genauso wenig von selbst wie das Benzin im Tank. Glaube
kommt aus dem Hören auf Gott. Und wenn wir wirklich aus unserem
Glauben heraus handeln wollen, dann müssen wir uns von Gott immer
neu füllen lassen. Sonst laufen wir eines Tages leer. Wir funktionieren
dann vielleicht noch und machen uns immer noch viel Sorge und Mühe,
aber es kommt nichts mehr dabei heraus. Wir ziehen dann keinen Gewinn
mehr aus dem, was wir tun, und irgendwann brechen wir entweder zusammen
oder geben es auf.

Allmählich hat
sich das herum gesprochen in unserer betriebsamen, aber oft so lieb-
und lustlosen Kirche. Und deshalb fragen heute wieder mehr Christinnen
und Christen nach dem guten Teil, das Maria erwählt hat. Man nennt
es heute meistens nicht mehr Hören auf Gott oder auf Jesus sondern
„Spiritualität“ – klingt irgendwie moderner. Aber gemeint ist damit
im Grunde das Gleiche. Gemeint sind Möglichkeiten, wie man Gott
begegnen und sich bei ihm neue Kraft holen kann. Gelegenheiten,
bei denen man mal nicht für andere da sein muss, sondern einfach
sich selbst und dem eigenen Glauben etwas Gutes tun kann. Solche
Gelegenheiten gibt es öfter, als wir denken. Zum Beispiel jetzt,
wo wir gemeinsam Gottesdienst feiern. Der Gottesdienst bietet uns
eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, aufzuatmen und uns dafür offen
zu halten, dass Gott zu uns spricht – vielleicht durch die Predigt,
vielleicht durch das Abendmahl, vielleicht durch einen Moment der
Stille, vielleicht auch durch die Begegnung mit anderen Christinnen
und Christen. Aber es gibt auch andere Gelegenheiten, wo man Gott
begegnen kann – besondere und alltägliche. Gelegenheiten, bei denen
Gott uns ins Herz sieht und alles, was vor Augen ist, gleichgültig
wird, so wie es Sophias Taufspruch sagt. Ich denke, wir müssen jeder
selbst herausfinden, bei welchen Gelegenheiten wir Gottes
Nähe besonders spüren, was uns für unseren Glauben besonders gut
tut. Entscheidend ist nur, dass unser Glaube solche Möglichkeiten
zum Auftanken hat. Sonst geht er ein, oder er geht in hektischer
Aktivität unter. Wohl uns, wenn Gott es mit uns so weit nicht kommen
lässt. Wohl uns, wenn uns das „gute Teil“ niemand wegnimmt, auch
wir selber nicht.

Amen.

 

Predigt vom 27.2.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
SEXAGESIMAE

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
27.2. 2011
Text: Mk 4,26-29

Ab und zu werde
ich gefragt, warum ich eigentlich Pastor geworden bin. Ich erzähle
dann meistens von meinem Werdegang, meinen Gaben und Interessen
und den Entscheidungen und Wendepunkten, die mich schließlich in
diesen Beruf gebracht haben. Aber wenn es nach den Vorstellungen
ginge, die sich manche Leute vom Pastorenleben machen, könnte die
Antwort auch ganz kurz sein: Ich bin Pastor geworden, weil ich schon
immer gern einen bequemen und trotzdem leidlich gut bezahlten Job
haben wollte. Wie das kommt? Na, richtig arbeiten muss ich doch
nur sonntags vormittags. Ansonsten kann ich es mir in meinem Studierzimmer
gemütlich machen und tiefsinnigen theologischen Gedanken nachhängen.
Und wenn mir nach Gesellschaft ist, dann besuche ich eben ein paar
Gemeindeglieder zum Geburtstag – natürlich nur die, die ich besonders
mag – und lass mich zu Kaffee und Kuchen einladen. Wer wirklich
dringend meine Hilfe braucht, kann ja kommen oder anrufen.
Ansonsten lass ich den lieben Gott einen guten Mann sein und lass
ihn dafür sorgen, dass seine Kirche nicht untergeht.

Sie meinen, diese
Vorstellung sei vielleicht doch ein bisschen naiv? Da wären doch
noch die Konfirmandenarbeit, die Kindergärten, die Taufen, Trauungen,
Beerdigungen, die Frauenkreise und Seniorenclubs, die Glaubens-
und Bibelgespräche, die Seelsorge, nicht nur an Alten und Kranken,
die Sitzungen und Besprechungen, der Verwaltungskram und, und, und?
Sie haben ja recht. Und ich kann Sie beruhigen: Ich bin mir
völlig im Klaren darüber, dass ich keinen bequemen Job habe und
bin trotzdem gern Pastor. Nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung
kann man sich das Pastorendasein so gemütlich vorstellen, wie ich
es eben beschrieben habe.

Wenn ich es also
hätte bequem haben wollen, dann hätte ich einen anderen Beruf ergreifen
müssen. Bauer zum Beispiel. Die haben’s wirklich gut! Jedenfalls,
wenn es sich mit der Landwirtschaft so verhält wie in dem Gleichnis,
das heute Predigttext ist. Jesus hat es erzählt, und der Evangelist
Markus hat es aufgeschrieben. Es steht in Markus 4,26-29:

Und er sprach:
Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land
wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht
auf und wächst, ohne dass er’s weiß. Von selbst bringt die Erde
Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen
in der Ähre. Wenn aber die Frucht es gestattet, so schickt er alsbald
die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Das ist doch nun
wirklich ein beschauliches Leben, oder? Im Frühjahr wird gesät.
Dann überlässt man das Korn sich selbst und genießt den Sommer.
Im Herbst braucht man dann nur noch zu ernten. Und dann sagt Jesus
auch noch: so ist das Reich Gottes. So verwirklicht sich Gottes
neue Welt, seine Herrschaft über die Erde: ganz von selbst, ohne
viel Arbeit und Mühe. Da frage ich mich dann ja wieder, ob ich als
Pastor und „Reich-Gottes-Arbeiter“ nicht einfach doch eine ruhige
Kugel schieben könnte.

Nun sitzen hier
im Gottesdienst wahrscheinlich keine echten Landwirte. Aber viele
wissen noch von früher, wie es da so zugeht, und viele haben einen
Garten, ich ja auch. Deshalb wissen wir alle: So einfach, wie Jesus
sich das anscheinend vorstellt, geht es beim Getreideanbau auch
nicht zu. Da muss man erst mal pflügen und eggen und düngen, ehe
man säen kann. Und dann muss man womöglich noch Unkraut jäten oder
gar – „grüne Hähne“ bitte weghören! – Herbizide und Pestizide versprühen.
Das alles war sicher schon mal anstrengender, als es noch keine
Maschinen gab, aber viel Arbeit ist es immer noch, trotz technischem
Fortschritt. Erst wenn man das alles getan hat, und wenn es dann
noch genug Regen und Sonnenschein gibt und nicht hagelt, dann hat
man Chancen auf eine ordentliche Ernte. Von wegen beschauliches
Landleben!

Aber ich denke,
wir sollten bei dem Gleichnis noch etwas genauer hinschauen. Jesus
ist zwar kein Bauer, sondern Handwerker. Aber er ist auf dem Land
groß geworden, und er wird schon mitbekommen haben, was es da alles
zu tun gab. Trotzdem lässt er die menschliche Arbeit hier weitgehend
beiseite. Und das hat auch seinen Sinn. Denn so lenkt Jesus unser
Augenmerk auf den einen entscheidenden Vorgang, ohne den es kein
Getreide geben würde. Und für den sorgt nicht der Bauer, sondern
die Natur. Alles, was das Saatkorn braucht, um eine volle Getreideähre
hervorzubringen, alles das steckt schon in ihm drin. Es braucht
nur einen geeigneten Boden, dazu Wasser, Luft und Sonne, dann wird
es sich entfalten. Wir können ein wenig nachhelfen, damit das alles
in der richtigen Mischung zusammenkommt. Aber das Wachstum selbst,
das können wir nicht machen. Es geschieht von allein, sagt Jesus
– „automatisch“ steht da im griechischen Text.

Genauso, sagt
Jesus, ist es auch mit dem Reich Gottes, das er verkündigt. Auch
das Reich Gottes wächst von selbst, ohne menschliches Zutun. Das
heißt allerdings nicht, dass Jesus uns ein Vorbild der Bequemlichkeit
liefert. Im Gegenteil: auch er hat alle Hände voll zu tun. Er ist
ständig unterwegs, predigt, lehrt, redet mit den Menschen, heilt
ihre Krankheiten, segnet ihre Kinder. So wie der Bauer seinen Samen,
so streut er in Wort und Tat die Botschaft aus, dass Gott nahe ist
– mit seiner Liebe und seinem Heil, mit seiner Gerechtigkeit und
seinem Gericht. Mehr kann Jesus nicht tun. Er kann das Reich Gottes
nicht herbeizwingen, nicht mit Geld und guten Worten, und erst recht
nicht mit Gewalt. Er kann nur warten, dass seine Saat aufgeht und
Frucht bringt. Aber er ist voller Zuversicht, dass sie das tun wird.
Denn er weiß, was in ihr steckt. Er weiß, welche Energien seine
Botschaft freisetzt, wenn sie in einem Menschen auf fruchtbaren
Boden fällt. Erst verändert sie ihn selbst, dann seine Umgebung,
und schließlich die ganze Welt. Und dann ist die Ernte da, dann
ist das Reich Gottes Wirklichkeit.

Das Vertrauen,
das Jesus in seine Botschaft setzt, beeindruckt mich immer wieder.
Aber ich frage mich unwillkürlich, woher er eigentlich diese Zuversicht
nimmt. Denn wenn Gottes neue Welt ganz von selbst wächst und gedeiht,
wieso ist sie dann immer noch nicht da? Wieso kommt die Botschaft
Jesu nur bei so wenigen an? Und warum geht dann so viel schief,
auch bei denen, die sich auf die Botschaft Jesu einlassen? Anscheinend
haben schon die Evangelisten Matthäus und Lukas so gedacht. Sie
haben sonst fast das ganze Markts-Evangelium übernommen, aber dieses
Gleichnis haben sie weggelassen. Matthäus hat es bezeichnender Weise
durch das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen ersetzt.

Schon Matthäus
und Lukas hatten also Grund, das Gleichnis zu optimistisch zu finden.
Wir Heutigen natürlich erst recht. Wir haben ja oft das Gefühl,
dass wir säen und säen, aber die Saat einfach nicht aufgehen will.
7500 Gemeindeglieder haben wir immer noch – 200 davon kommen im
Schnitt sonntags zum Gottesdienst – Heiligabend und Ähnliches mitgerechnet.
70 Konfis werden wir dieses Jahr konfirmieren, aber wenn 10 davon
nach der Konfirmation noch irgendwo mitmachen, ist das viel. Ein
paar hundert Handzettel wurden verteilt, um Außenstehende und Randsiedler
der Gemeinde zum Glaubenskurs einzuladen – gekommen sind etwa 12,
und die gehören doch eher zu den Insidern. Im Vergleich mit anderen
sind diese Zahlen gar nicht schlecht, aber als Verhältnis von Saat
und Ernte sind sie doch eher deprimierend. Dabei hat sich in letzter
Zeit eine Menge getan bei Kirchens. Vielerorts geht es längst nicht
mehr so verstaubt und fantasielos zu wie vielleicht noch vor zwanzig
Jahren. Trotz Finanzkrise war das kirchliche Angebot wahrscheinlich
noch nie so bunt, so vielfältig und so einladend wie heute. Aber
die Zahl der Christen, die sich ihres Glaubens bewusst sind und
danach leben, wird scheinbar unaufhaltsam kleiner. Und von so hehren
Zielen wie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, die
ja auch zur Vision vom Reich Gottes gehören, habe ich jetzt noch
gar nicht geredet.

Wie kommt das?
Weshalb sieht es so aus, als seien wir von Gottes neuer Welt weiter
entfernt als je zuvor? Die Antworten darauf sind verschieden. Die
einen sagen: Wir arbeiten immer noch zu wenig. Wir müssten uns noch
mehr für dies oder jenes engagieren, wir müssten mehr auf diese
oder jene Menschen zugehen. Andere sagen, wir machen zuviel unnötige
Arbeit. Wir sollten uns auf das Wesentliche besinnen, mehr Wert
auf klare Verkündigung legen als auf Offenheit und Vielfalt. Wieder
andere sagen, das Saatgut ist schlecht: zu alt, zu trocken, zu schwer
verdaulich. Passt nicht zu der fröhlich-bunten Fassade, die wir
so gern davor aufbauen. Und noch andere sagen, der Boden ist ausgelaugt:
Materialismus und Egoismus prägen unsere Gesellschaft, und daraus
kann eben keine Gottes- und Nächstenliebe wachsen.

Ich glaube, dass
diese Antworten drei Dinge gemeinsam haben. Erstens ist an allen
etwas dran. Zweitens werden sie alle falsch, wenn man eine davon
für die einzig richtige hält. Und drittens treffen sie alle nicht
den Kern. Denn sie reden alle davon, was wir tun oder lassen müssen.
Wenn aber Jesus Recht hat, dann sorgen ja nicht wir sondern Gott
dafür, dass seine Botschaft Erfolg hat. An ihn müssen wir also unsere
Fragen richten, und von ihm müssen wir die Antwort erwarten. Und
das Gleichnis will uns die Gewissheit geben, dass wir die auch bekommen
werden.

Vielleicht könnte
sie ungefähr so lauten: Auch die Bauern machen sich seit Jahrtausenden
Gedanken, wie sie ihre Arbeit optimieren können. Aber trotzdem bleiben
sie darauf angewiesen, dass der eine entscheidende Vorgang funktioniert,
den sie nicht machen können: dass aus einem Saatkorn ein Getreidehalm
mit voller Ähre wird. Und so ist es auch mit uns und dem Reich Gottes:
Wir können uns noch so abstrampeln, wir können noch so klar und
deutlich und zeitgemäß von Gott reden und Zeichen seiner Gegenwart
setzen: wir werden es nie in der Hand haben, dass das bei den Menschen
auch ankommt und sie verändert. Denn das ist der eine, entscheidende
Vorgang, der nicht in unserer Macht steht. Dafür sorgt Gott selbst,
niemand sonst. In diesem Sinne können wir tatsächlich gelassen bleiben
und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Diese gelassene
Zuversicht, die will uns Jesus mit seinem Gleichnis vermitteln.

Gut, dass uns
wenigstens ein Evangelist dieses Gleichnis überliefert hat. Denn
es bedeutet eine ungeheure Entlastung für alle, die ihren christlichen
Glauben in Wort und Tat umsetzen wollen – sei es im privaten, im
öffentlichen oder im Gemeindeleben, sei es haupt-, neben- oder ehrenamtlich.
Denn Jesus spricht uns damit zu: Das, was ihr als Christen sagt
oder tut, das hat Wirkung. Es kommt bei anderen an, und es
setzt etwas in Bewegung. Oft geschieht es im Verborgenen, ohne dass
ihr es wisst. Aber früher oder später kommt es zum Vorschein. Vielleicht
muss zum Beispiel ein Kind erst erwachsen werden, ehe es die christliche
Erziehung seiner Eltern zu schätzen lernt. Vielleicht müssen wir
noch lange Zeichen setzen für Frieden und Gerechtigkeit, bis die
Früchte endlich sichtbar werden. Vielleicht müssen wir noch lange
Wissen über das Christentum vermitteln, bis aus diesem Wissen lebendiger
Glaube wird. Und vielleicht müssen wir auch in unserer persönlichen
Beziehung zu Gott lange Durststrecken überwinden. Aber dass diese
Mühen nicht vergeblich sind, darauf können wir uns verlassen. Spätestens,
wenn Gott die Ernte einfährt, werden wir wissen – und staunen -,
was aus unserer Saat geworden ist.

Amen.

 

Predigten aus Klafeld

 

Predigten aus Klafeld zum Nachlesen:

>>>>> Die gewünschte Predigt einfach anklicken <<<<<

>>>>> Die gewünschte Predigt einfach anklicken <<<<<

 

Predigt vom 16.1.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
SONNTAG NACH EPIPHANIAS

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
16.1. 2011
Text: Ex 33,17-23

Gestern war mal
wieder Konfi-Blocktag. Am Anfang lag hier in der Kirche ein großes
Fragezeichen in der Mitte, und die Konfis sollten sich dazu überlegen:
„Wenn ich Gott etwas fragen könnte, was wäre das?“ Meine Blocktagsgruppe
ist erst nächsten Samstag dran, deshalb weiß ich nicht, was gestern
so für Fragen gekommen sind. Aber wahrscheinlich waren es ähnliche
wie die, die wir letztes Jahr notiert haben: „Wer oder was bist
du überhaupt, Gott? Und wo bist du? Wie bist du entstanden? Wie
siehst du aus? Bist du ein Mann oder eine Frau? Warst du mal ein
Mensch? Hast du ein Kind? Wie heißt du in echt? Warum sehen wir
dich nicht? Warum zweifeln so viele Menschen an dir? Warum darf
man sich kein Bild von dir machen? Bist du noch hier? Gibt es dich
oder gibt es dich nicht? Was machst du den ganzen Tag? Hast du wirklich
die ganze Welt erschaffen, und wenn ja, wie? Und wieso ist die Welt
jetzt so, wie sie ist – mit all der Gewalt und all dem Leid? Warum
nimmst du uns Menschen, die wir lieben und die nicht einmal alt
waren? Warum müssen Menschen überhaupt sterben? Muss man den Tod
fürchten? Und was kommt danach? Der Himmel? Aber wie sieht es dort
aus? Wenn wir beten, hörst du uns dann? Hörst du mich, wenn ich
weine?“

Fragen über Fragen.
Manche klingen für uns Erwachsene vielleicht naiv. Aber die meisten
dürften uns selber auch beschäftigen. Und wer von uns hat sich nicht
schon mal gewünscht, er könnte Gott einmal so sehen, wie er ist,
von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden und Antwort auf all die
vielen Fragen bekommen.

Der heutige Predigttext
handelt von einem, der diesen Wunsch auch hatte. Und er bekam ihn
sogar erfüllt – jedenfalls in gewissem Sinne. Das Ganze ist ziemlich
rätselhaft, und trotzdem gibt es, denke ich, auf unsere Fragen nach
Gott eine gute Antwort. Hören wir zunächst mal, was da steht, im
zweiten Buch Mose, im 33. Kapitel:

Der HERR sprach
zu Mose: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn
du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit
Namen.“ Und Mose sprach: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Und
er sprach: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen
lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig
bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme
ich mich.“ Und er sprach weiter: „Mein Angesicht kannst du nicht
sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Und der HERR
sprach weiter: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf
dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will
ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten,
bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun,
und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man
nicht sehen.“

Am Anfang des
Textes treten wir ein in ein Gespräch, das schon länger im Gange
ist: Mose und Gott reden miteinander, und das auf ganz besondere
Art und Weise. Begonnen hat es schon damals, als Mose zum ersten
Mal zum Berg Gottes kam. Als der HERR ihm im brennenden Dornbusch
erschien, sich als Gott seiner Väter vorstellte und ihm den Auftrag
gab, Israel aus der Sklaverei in Ägypten herauszuführen. Schon damals
hatte Mose mehr wissen wollen, hatte Gott nach seinem Namen gefragt.
Und der hatte geantwortet: „Ich bin, der ich bin“ oder „ich werde
sein, der ich sein werde“ oder freier wiedergegeben: „ich bin immer
derselbe, und ich bin immer für euch da“. Keine Antwort eigentlich,
und doch Antwort genug.

Und jetzt ist
Mose wieder hier, am Horeb oder Sinai. Er hat Gottes Auftrag befolgt,
hat sein Volk in die Freiheit geführt, und er hat die Befreiten
hierher gebracht, wo sie ihrem Gott begegnen und Weisung von ihm
empfangen sollen. Und wieder ist Mose auf einmalige Weise Gottes
Gesprächspartner gewesen. Er ist allein auf den Berg gestiegen und
hat von Gott die Zehn Gebote und andere Regeln für die Freiheit
empfangen. Aber kaum ist er mit den Gebotstafeln vom Berg zurückgekehrt,
hat er die bittere Erfahrung gemacht, dass das Volk es offenbar
nicht aushält, einen Gott zu haben, den man nicht sehen und von
dem man sich kein Bild machen kann. Kaum war er weg gewesen, hatten
sie sich ein Stierbild gegossen, um einen Gott zum Anfassen zu haben.
Voller Zorn hat Mose die steinernen Tafeln zerschmissen, hat das
Stierbild eingeschmolzen und ist auf den Berg zurückgekehrt, um
bei Gott Fürbitte für sein abtrünniges Volk einzulegen.

Noch ist nicht
klar, wie das ausgehen wird. Mose bewegt die bange Frage, ob Gott
trotz allem weiter zu seinem Volk stehen wird, ob er mit ihnen ziehen
wird in das Land, das er ihnen versprochen hat und in dem sie in
Freiheit leben sollen. Oder ob sie es sich mit dem Gott ihrer Väter
endgültig verdorben haben und nun ohne ihn klar kommen müssen. Bis
jetzt hat Gott sich noch nicht deutlich erklärt. Noch ist nicht
sicher, ob „ich bin für euch da“ weiterhin sein Name bleiben wird.
Im ersten Zorn hat er davon gesprochen, dieses halsstarrige, undankbare
Volk zu vernichten und mit Mose, dem einzigen Getreuen, noch mal
von vorn anzufangen. Und diese finstere Drohung steht noch im Raum.

Mit dem ersten
Satz des Predigttextes gibt Gott auf Moses Bitten und Fragen endlich
eine positive Antwort: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will
ich tun“, nämlich mit Israel ins Gelobte Land ziehen, „denn du hast
Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.“
Um Moses Treue willen bleibt Gott also bei seiner Zusage für das
ganze Volk. Seine Fürbitte hatte also Erfolg.

Aber Mose ist
– wieder einmal – damit noch nicht zufrieden. So wie er einst zur
Bestätigung für seinen Auftrag Gottes Namen wissen wollte, so möchte
er jetzt Gottes Herrlichkeit sehen, um gewiss zu sein, dass der
HERR wirklich mit ihnen ziehen wird.

Kenner der biblischen
Materie könnten diese Bitte unverschämt finden. Ist auf Gottes Wort
denn nicht genug Verlass? Hat Mose und hat sein Volk das nicht immer
wieder erlebt? Kann ein kleiner sterblicher Mensch seinen Schöpfer
und Herrn überhaupt in seiner ganzen Größe, Macht und Majestät erfassen?
Und selbst wenn er es könnte: Müsste er davon nicht blind oder verrückt
werden – oder gleich zu Staub zerfallen? Nun ist Mose zwar nicht
irgendwer. Von keinem anderen Menschen der Bibel heißt es, dass
Gott mit ihm auf Augenhöhe redet „wie mit einem Freund“. Und Gott
hat ihm gerade erst zugesagt, dass er Gnade vor ihm gefunden hat.
Muss ihm das nicht reichen? Gefährdet er nicht seine Sonderstellung
bei Gott, wenn er noch mehr verlangt – mehr als einem Sterblichen
zusteht?

Aber erstaunlicherweise
lehnt Gott Moses Bitte nicht ab. Zwar darf er Gottes Angesicht nicht
sehen. Hier bleibt eine unüberwindbare Grenze zwischen Gott und
Mensch, und Gott sorgt mit seiner schützenden Hand dafür, dass sie
nicht überschritten wird. Aber er zieht in seiner ganzen Güte und
Schönheit, in seiner Macht und Herrlichkeit an Mose vorüber – und
er darf hinter ihm her schauen.

Können wir mit
dieser rätselhaften Episode auf dem Berg Horeb noch etwas anfangen?
Das Gottesbild, von dem sie ausgeht, ist uns jedenfalls fremd geworden.
Hier scheint Gott eine Gestalt zu haben, die sich zwar weder in
einem Stier noch in einem anderen irdischen Götterbild darstellen
lässt, aber eben doch eine Gestalt, die man grundsätzlich sehen
kann, wenn Gott sie einem Menschen enthüllt. Sie mag in ihrer Schönheit
und Schrecklichkeit unbeschreiblich sein, aber sie hat doch Hand
und Gesicht und bewegt sich in Raum und Zeit: zieht an Mose vorüber
und geht – verhüllt in Wolken und Feuer – mit Israel ins verheißene
Land.

Wir sind es dagegen
gewohnt, uns Gott als grundsätzlich unsichtbar vorzustellen. Für
uns ist er den Dimensionen von Raum und Zeit enthoben, weil er sie
geschaffen hat und sie wie alles andere umfasst und umfängt. Er
ist für uns nicht an einem bestimmten Ort, sondern überall. Er wohnt
für uns nicht auf einem heiligen Berg oder in einem heiligen Zelt,
sondern in unseren Herzen. Und dort können wir ihn vielleicht manchmal
spüren und mit ihm reden, aber ganz bestimmt nicht sehen.

Das ist ja auch
alles gar nicht verkehrt. Trotzdem könnten wir uns ja mal fragen,
welche Vorstellung dem Gott der Bibel, an den wir glauben, eigentlich
näher kommt: die relativ handfeste, greifbare von 2. Mose 33 oder
die abstrakte, unanschauliche Vorstellung, die wir so mit uns herumtragen.
Immerhin glauben wir doch an einen Gott, der in Jesus selbst Mensch
wurde – nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Einen Gott, der sich
in Raum und Zeit sichtbar und berührbar gemacht hat, und damit auch
verletzbar und angreifbar. Einen Gott, der sich ohne Not, aber aus
lauter Gnade und Barmherzigkeit dem Leid und dem Tod ausgeliefert
hat. Zwar wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat. Aber
ihn dürfen wir uns getrost als Menschen wie du und ich vorstellen:
mit einer Stimme, die man hören, mit Händen, die man berühren, mit
einem Gesicht, in das man schauen kann. Menschliche Hände, menschliche
Stimme, menschliches Gesicht, und doch zugleich Gesicht, Stimme
und Hände Gottes. Das Johannesevangelium drückt es so aus: „Das
Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller
Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)

So verstanden
haben wir also von Gottes Herrlichkeit mehr gesehen als Mose. Er
durfte Gottes Angesicht nicht sehen und durfte seiner Herrlichkeit
nur hinterher schauen. Wir dagegen dürfen Gott ins Gesicht blicken,
weil es das Gesicht Jesu ist. Und wir können und dürfen darauf ablesen,
dass Gott uns liebt: dass er auch für uns „ich bin für euch da“
heißt. Dass wir Gnade vor seinen Augen gefunden haben und er uns
mit Namen kennt wie Mose damals. Und dass er uns treu bleiben und
weiter mit uns gehen wird, so oft wir ihn auch enttäuschen mögen.

Sind damit all
die vielen Fragen beantwortet, die ich am Anfang aufgezählt habe?
Haben wir damit Gottes Wesen erfasst und wissen alles über ihn?
Natürlich nicht. Auch das, was wir an Jesus ablesen können, ist
nur ein Bild von Gott, und es zeigt uns nur einen kleinen Ausschnitt
der Herrlichkeit Gottes. Denn die können wir genauso wenig in ihrer
ganzen Größe erfassen, wie ein Fisch das Meer erfassen kann, in
und von dem er lebt. Aber Jesus zeigt uns das Bild von Gott, auf
das Gott sich festgelegt hat. Er zeigt uns alles, was wir von und
über Gott wissen müssen, um im Frieden mit ihm leben und sterben
zu können. Er beantwortet nicht alle unsere Fragen, aber er sagt
uns genug, um auch mit ungelösten Fragen leben zu können. Wie Gott
„in echt“ heißt? Weiß ich nicht – aber „ich bin, der ich bin“ ist
mir Name genug. Wie Gott das gemacht hat mit der Schöpfung? Weiß
ich auch nicht – aber mir reicht es zu wissen, dass ich sein Geschöpf
bin und dass er mich liebt. Warum es Leid, Gewalt und Tod in der
Welt gibt? Auch darauf habe ich keine Antwort – aber ich vertraue
darauf, dass Gott, der in Jesus selber Gewalt und Tod erlitten hat,
auch im Leid an meiner Seite ist. Und ob er mich hört, wenn ich
weine und zu ihm rufe? Kann ich gleichfalls nicht beweisen – aber
ich kann die Erfahrung des Mose bestätigen, dass man mehr Erfahrungen
mit Gott macht, wenn man mit ihm im Gespräch bleibt. Und so wie
Mose der Herrlichkeit Gottes hinterher sehen durfte, so geht mir
manchmal im Nachhinein auf: Ja, da hat Gott mein Gebet erhört und
mir geholfen – wenn auch vielleicht anders als ich mir das zuvor
gedacht hatte.

Und noch ein Letztes
können wir von Mose lernen: Es gibt in Bezug auf Gott keine Fragen,
die man nicht stellen darf, und keine Bitten, die sich nicht gehören.
Menschen, die Gnade vor Gott gefunden haben – und dazu gehören wir,
wie gesagt, alle – dürfen ihm mit allem kommen, was ihnen auf dem
Herzen liegt. Wie er uns darauf antwortet, müssen wir freilich ihm
überlassen – aber auf jeden Fall dürfen wir darauf gespannt sein.

Amen.

 

Predigt vom 19.12.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN
ADVENT

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
19.12. 2010
Text: Lk 1,26-38

Und im sechsten
Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in
Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die versprochen
war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau
hieß Maria.

Und der Engel
kam zu ihr hinein und sprach: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr
ist mit dir!“ Sie aber erschrak über die Rede und dachte: „Welch
ein Gruß ist das?“

Und der Engel
sprach zu ihr: „Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott
gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären,
und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und
Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den
Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das
Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.“

Da sprach Maria
zu dem Engel: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann
weiß?“

Der Engel antwortete
und sprach zu ihr: „Der heilige Geist wird über dich kommen, und
die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das
Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe,
Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in
ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt,
dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.“

Maria aber
sprach: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt
hast.“

Und der Engel
schied von ihr.

Maria erfreut
sich zurzeit wieder großer Beliebtheit. Jedenfalls als Vorname für
neugeborene Mädchen. Seit Jahren steht Marie fast immer ganz oben
auf der Namenshitliste, dicht gefolgt von Maria, und dann sind da
noch die all die Miriams, Mias und Maikes. Allerdings hat diese
Namensgebung heutzutage nicht mehr viel mit der Religion zu tun.
Wenn früher jemand Maria hieß, konnte man mit ziemlicher Sicherheit
davon ausgehen, dass die Eltern gut katholisch waren. Heute ist
Maria gerade in Ostdeutschland besonders beliebt, wo die Christen
und erst recht die Katholiken eine Minderheit sind. Also heißen
wohl nur deshalb so viele Kinder Marie oder Maria, weil es gut klingt
und gerade Mode ist.

Oder steckt doch
mehr dahinter? Eine unbewusste Sehnsucht vielleicht nach dem, wofür
Maria steht – nach Unschuld, nach Reinheit, nach Demut und damit
ungefähr nach dem Gegenteil von dem Mädchen- und Frauenbild, das
uns tagtäglich in den Medien präsentiert wird? Denn die vermitteln
uns ja folgende Methoden, wie man heutzutage als Frau groß rauskommen
kann: Entweder man ist intelligent und ehrgeizig und bootet die
männliche Konkurrenz aus, indem man sie an nüchterner Sachlichkeit
und Machtinstinkt noch übertrifft – Modell Angela Merkel. Oder man
gibt sich bewusst dämlich und perfektioniert mit viel Silikon, Styling
und Zickigkeit das Bild, das sich der Durchschnitts-Macho ohnehin
von den Frauen macht, und wickelt ihn so um den Finger – Modell
Daniela Katzenberger. Oder man setzt auf den Ach-wie-süß-Faktor
unverbrauchter Jugendlichkeit – Modell Lena Meyer-Landrut. Zu Maria,
soviel steht fest, passt höchstens das Letztere, aber auch das nicht
wirklich. Und vielleicht finden das ja mehr Menschen, als man denkt,
im tiefsten Innern gut so.

Also: Was sagt
uns Maria, die Mutter Jesu, noch im 21. Jahrhundert? Erst recht
uns Evangelischen, die wir’s ja gemeinhin nicht so mit ihr haben?
Etliche von uns hegen ja immer noch den Verdacht, dass bei den Katholiken
die Trinität nicht aus Vater, Sohn und heiligem Geist besteht, sondern
aus Maria, Jesus und dem Papst – in dieser Reihenfolge. Und wenn
man sich gewisse Auswüchse des Marienkults in Tschenstochau, Lourdes
oder Fatima so anschaut, dann scheint dieser Argwohn sogar berechtigt
zu sein. Gegen so viel „Aberglauben“ kehren wir Protestanten gern
unseren aufgeklärten Verstand hervor. Wir sagen dann: Wenn Jesus
wirklich Mensch war, dann muss er auch einen menschlichen Vater
gehabt haben. Sonst wäre er ja gar kein Nachkomme König Davids gewesen,
denn von dem stammte Josef ab, nicht Maria. Und dass Herrscher und
Helden, Religionsstifter und Philosophen Göttersöhne waren, das
haben die alten Ägypter, Griechen und Inder geglaubt und noch der
Dichter Vergil von Kaiser Augustus behauptet, aber wir, die wir
an den einen Gott glauben, sind über so etwas doch längst hinaus.
Also nichts mit Jungfrauengeburt, die im Neuen Testament ohnehin
nur an zwei Stellen vorkommt, geschweige denn mit bleibender Jungfräulichkeit,
unbefleckter Empfängnis und leiblicher Himmelfahrt Mariens. So etwas
können wir als denkende Christenmenschen gar nicht glauben wollen,
auch wenn „geboren von der Jungfrau Maria“ immer noch in unserem
Glaubensbekenntnis steht. Wenn wir so denken, haben wir übrigens
Juden und Muslime in seltener Einbracht an unserer Seite.

Und so bleibt
in der protestantischen Bibelauslegung von Maria oft nicht mehr
übrig, als dass sie ein einfaches Mädchen aus Nazaret war, dass
sie mit einem Bauhandwerker namens Josef verheiratet war und mindestens
sieben Kinder hatte, von denen eines Jesus hieß. Dass der dann irgendwann
anfing, vom Vater im Himmel zu reden und als Prediger und Heiler
durchs Land zu ziehen, hat sie nicht nur nicht verstanden, sondern
sie hat ihn sogar für verrückt erklärt und gemeinsam mit seinen
Brüdern versucht, ihn wieder nach Hause zu holen – nachzulesen im
Markusevangelium, Kapitel 3, Vers 21 und 31. Später, nach Ostern,
hat sie dann zwar zur christlichen Gemeinde gehört, aber dort keine
besondere Rolle gespielt. Schon bald verlieren sich ihre Spuren
im Dunkel der Geschichte, und alles, was sonst von ihr berichtet
wird, gehört ins Reich der Legende.

Aber wenn ich
die erste und wichtigste dieser Legenden, den heutigen Predigttext,
wieder lese, dann merke ich, dass ich mich mit diesen mageren Fakten
nicht zufrieden geben kann. Denn ich glaube ja, dass Jesus Gottes
Sohn ist, weil Gott ihn von den Toten auferweckt hat, obwohl auch
das kein Historiker beweisen kann. Und wenn ich das glaube, dann
mache ich mir zwangsläufig Gedanken darum, wie ich es denn verstehen
soll und wie es dazu kam, dass in Jesus Gott und Mensch eins wurden.
Und wenn ich das tue, komme ich irgendwann bei seiner Geburt an
und damit auch bei seiner Mutter Maria. So geht es mir, und so ging
es schon denen, die die Geschichte aus dem Lukasevangelium zuerst
erzählt haben. Ihnen ging es darum, wer Jesus für sie ist, und eben
deshalb ging es ihnen auch um Maria.

Aber was sagt
die Geschichte nun über die Mutter Jesu? Zuerst kommen auch hier
die schlichten Fakten: Da ist ein Mädchen namens Maria, verlobt
mit einem Mann namens Josef, einem Nachkommen Davids, und beide
leben in Nazaret, einem unbedeutenden Ort in Galiläa. Aus der Tatsache,
dass Maria verlobt war, kann man als Kenner der Zeitumstände ihr
Alter erschließen: etwa zwölf Jahre oder wenig mehr. Dass war damals
das übliche Verlobungsalter. Denn die Väter waren bestrebt, ihre
Töchter unter die Haube zu bringen, bevor sie womöglich auf dumme
Gedanken kamen. Also suchten sie einen passenden Ehemann, schlossen
einen Ehevertrag mit ihm, und nach etwa einem Jahr wurde geheiratet.
Solange blieben die Mädchen noch im Elternhaus. Wenn man das bedenkt,
kann man sich außerdem vorstellen, was Maria sich anhören musste
bzw. was hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, sobald herauskam,
dass sie schwanger war. Es erschien ja nicht jedem ein Engel, um
die Sache zu erklären.

Um so erstaunlicher
ist für mich, wie Maria in dieser Geschichte reagiert. Da kommt
der Erzengel Gabriel, sozusagen der Generalfeldmarschall der himmlischen
Heerscharen, in ein galiläisches Kuhdorf zu ihr, einem x-beliebigen
Teenager, und sagt ihr: „Sei gegrüßt, du Begnadete, du wirst die
Mutter von Gottes Sohn werden!“ Und Maria? Die erschrickt zwar ein
wenig und fragt auch noch mal nach, wie das denn zugehen soll, aber
dann sagt sie schlicht: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe,
wie du gesagt hast.“ Da hätte ich mir aber ganz andere Reaktionen
vorstellen können: „Ich bin doch noch viel zu jung!“ – „Was sollen
denn die Leute denken?“ – „Was wird Josef, was werden meine Eltern
sagen?“ – „Warum gerade ich? Ich bin doch völlig ungeeignet für
so was!“ Solche Einwände werden uns immerhin von den Großen des
Alten Testaments überliefert, von Mose, Jesaja oder Jeremia. Warum
nicht von Maria? Hat sie gar nicht recht begriffen, worum es geht?
– Nun, ich denke, der Erzähler geht davon aus, dass Gabriel es ihr
verständlich erklärt hat. Ist sie in Gegenwart des Engels vielleicht
irgendwie in Trance geraten und zum willenlosen Werkzeug geworden?
– Auch davon hören wir kein Wort. Ist sie einfach ein braves Mädchen,
das tut, was man ihr sagt? – Vielleicht, aber ich glaube, das ist
nicht der springende Punkt. Hätte sie denn überhaupt Nein sagen
können? War das Ganze bei Gott nicht längst beschlossene Sache?
– Darüber kann man lange spekulieren, aber ich glaube nicht, dass
Gott einen Menschen gegen seinen Willen zu irgendetwas zwingt, und
sei es, eine wichtige Rolle bei der Rettung der Menschheit zu spielen.

Nein, ich denke,
die Geschichte will uns etwas anderes sagen, nämlich, dass Maria
bewusst und aus freien Stücken Ja gesagt hat zu dem, was Gott mit
ihr vor hatte. Sie hat Ja gesagt dazu, Gottes Sohn zur Welt zu bringen.
Und dieser Tatsache kann man gar nicht genug Gewicht beimessen.
Wenn Christen, egal welcher Konfession, Maria für ihr schlichtes
Ja verehren und den Hut vor ihr ziehen, dann hat sie das verdient.
Dass Maria ein Mensch war und nicht Gott, dass ist auch den glühendsten
katholischen Marienverehrern klar. Dass sie aber aus freien Stücken
den Sohn Gottes zur Welt gebracht hat – wie auch immer man sich
das biologisch vorstellen soll – und dass sie deshalb zu Recht „Mutter
Gottes“ genannt wird, das haben auch Luther oder Calvin nie bestritten.
Viele evangelische Christen unserer Tage wissen das nur nicht mehr
so recht.

Deshalb möchte
ich für mein Teil ein paar Dinge in Zukunft nicht mehr vergessen:

Erstens war es
eine Frau und konnte nur eine Frau sein, der Gott die höchste Ehre
zuteil werden ließ, die einem Menschen überhaupt zuteil werden kann.
Dass die katholische Kirche das für Maria anerkennt, aber alle anderen
Frauen von bestimmten Ehren ausschließt, halte ich nun allerdings
für zutiefst inkonsequent – aber vielleicht packen wir Evangelischen
uns da erst mal an die eigene Nase: Bei uns gibt es Pfarrerinnen
auch erst seit etwa fünfzig Jahren, und mancher meint ja immer noch,
dass Weib habe in der Gemeinde zu schweigen. Streng genommen dürfte
dann allerdings der Lobgesang der Maria auch in keiner Kirche mehr
erklingen.

Zweitens möchte
ich nicht vergessen, dass man als Mensch nichts Besseres tun kann,
als das geschehen zu lassen, was Gott mit uns vorhat. Zwar erscheint
uns in der Regel kein Engel, um uns Gottes Pläne zu erläutern. Aber
ich denke, mit aufmerksamem Achten auf die Zeichen der Zeit, mit
Nachdenken, Bibellesen und Gebet können auch wir recht gut erkennen,
was Gottes Wille für unser Leben ist.

Drittens und letztens:
Das anzunehmen, was wir von Gott empfangen, kann größer und schwieriger
sein, als alle Versuche, uns aus eigener Kraft zu dem zu machen,
was wir gern wären. Und doch passt es vielleicht besser zu uns als
die Pläne, die wir uns selber ausdenken. Marias Pläne fürs Leben
sahen sicher anders aus: einen guten Ehemann finden, Kinder bekommen,
die dann auch gut geraten, in Frieden und wohl versorgt alt werden.
Mutter des Messias zu werden, wäre ihr im Traum nicht eingefallen,
und es hat ihr wohl alles in allem mehr Leid als Freude gebracht.
Und doch war sie und keine andere in Gottes Augen genau die richtige
dafür und nahm diese Entscheidung Gottes an. Es wäre schön und hilfreich,
wenn in dieser Hinsicht wieder mehr Menschen sich Maria zum Vorbild
nähmen – evangelische und katholische, Männer und Frauen.

Amen.