Predigten aus Klafeld

 

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Predigt vom 16.1.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
SONNTAG NACH EPIPHANIAS

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
16.1. 2011
Text: Ex 33,17-23

Gestern war mal
wieder Konfi-Blocktag. Am Anfang lag hier in der Kirche ein großes
Fragezeichen in der Mitte, und die Konfis sollten sich dazu überlegen:
„Wenn ich Gott etwas fragen könnte, was wäre das?“ Meine Blocktagsgruppe
ist erst nächsten Samstag dran, deshalb weiß ich nicht, was gestern
so für Fragen gekommen sind. Aber wahrscheinlich waren es ähnliche
wie die, die wir letztes Jahr notiert haben: „Wer oder was bist
du überhaupt, Gott? Und wo bist du? Wie bist du entstanden? Wie
siehst du aus? Bist du ein Mann oder eine Frau? Warst du mal ein
Mensch? Hast du ein Kind? Wie heißt du in echt? Warum sehen wir
dich nicht? Warum zweifeln so viele Menschen an dir? Warum darf
man sich kein Bild von dir machen? Bist du noch hier? Gibt es dich
oder gibt es dich nicht? Was machst du den ganzen Tag? Hast du wirklich
die ganze Welt erschaffen, und wenn ja, wie? Und wieso ist die Welt
jetzt so, wie sie ist – mit all der Gewalt und all dem Leid? Warum
nimmst du uns Menschen, die wir lieben und die nicht einmal alt
waren? Warum müssen Menschen überhaupt sterben? Muss man den Tod
fürchten? Und was kommt danach? Der Himmel? Aber wie sieht es dort
aus? Wenn wir beten, hörst du uns dann? Hörst du mich, wenn ich
weine?“

Fragen über Fragen.
Manche klingen für uns Erwachsene vielleicht naiv. Aber die meisten
dürften uns selber auch beschäftigen. Und wer von uns hat sich nicht
schon mal gewünscht, er könnte Gott einmal so sehen, wie er ist,
von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden und Antwort auf all die
vielen Fragen bekommen.

Der heutige Predigttext
handelt von einem, der diesen Wunsch auch hatte. Und er bekam ihn
sogar erfüllt – jedenfalls in gewissem Sinne. Das Ganze ist ziemlich
rätselhaft, und trotzdem gibt es, denke ich, auf unsere Fragen nach
Gott eine gute Antwort. Hören wir zunächst mal, was da steht, im
zweiten Buch Mose, im 33. Kapitel:

Der HERR sprach
zu Mose: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn
du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit
Namen.“ Und Mose sprach: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Und
er sprach: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen
lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig
bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme
ich mich.“ Und er sprach weiter: „Mein Angesicht kannst du nicht
sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Und der HERR
sprach weiter: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf
dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will
ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten,
bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun,
und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man
nicht sehen.“

Am Anfang des
Textes treten wir ein in ein Gespräch, das schon länger im Gange
ist: Mose und Gott reden miteinander, und das auf ganz besondere
Art und Weise. Begonnen hat es schon damals, als Mose zum ersten
Mal zum Berg Gottes kam. Als der HERR ihm im brennenden Dornbusch
erschien, sich als Gott seiner Väter vorstellte und ihm den Auftrag
gab, Israel aus der Sklaverei in Ägypten herauszuführen. Schon damals
hatte Mose mehr wissen wollen, hatte Gott nach seinem Namen gefragt.
Und der hatte geantwortet: „Ich bin, der ich bin“ oder „ich werde
sein, der ich sein werde“ oder freier wiedergegeben: „ich bin immer
derselbe, und ich bin immer für euch da“. Keine Antwort eigentlich,
und doch Antwort genug.

Und jetzt ist
Mose wieder hier, am Horeb oder Sinai. Er hat Gottes Auftrag befolgt,
hat sein Volk in die Freiheit geführt, und er hat die Befreiten
hierher gebracht, wo sie ihrem Gott begegnen und Weisung von ihm
empfangen sollen. Und wieder ist Mose auf einmalige Weise Gottes
Gesprächspartner gewesen. Er ist allein auf den Berg gestiegen und
hat von Gott die Zehn Gebote und andere Regeln für die Freiheit
empfangen. Aber kaum ist er mit den Gebotstafeln vom Berg zurückgekehrt,
hat er die bittere Erfahrung gemacht, dass das Volk es offenbar
nicht aushält, einen Gott zu haben, den man nicht sehen und von
dem man sich kein Bild machen kann. Kaum war er weg gewesen, hatten
sie sich ein Stierbild gegossen, um einen Gott zum Anfassen zu haben.
Voller Zorn hat Mose die steinernen Tafeln zerschmissen, hat das
Stierbild eingeschmolzen und ist auf den Berg zurückgekehrt, um
bei Gott Fürbitte für sein abtrünniges Volk einzulegen.

Noch ist nicht
klar, wie das ausgehen wird. Mose bewegt die bange Frage, ob Gott
trotz allem weiter zu seinem Volk stehen wird, ob er mit ihnen ziehen
wird in das Land, das er ihnen versprochen hat und in dem sie in
Freiheit leben sollen. Oder ob sie es sich mit dem Gott ihrer Väter
endgültig verdorben haben und nun ohne ihn klar kommen müssen. Bis
jetzt hat Gott sich noch nicht deutlich erklärt. Noch ist nicht
sicher, ob „ich bin für euch da“ weiterhin sein Name bleiben wird.
Im ersten Zorn hat er davon gesprochen, dieses halsstarrige, undankbare
Volk zu vernichten und mit Mose, dem einzigen Getreuen, noch mal
von vorn anzufangen. Und diese finstere Drohung steht noch im Raum.

Mit dem ersten
Satz des Predigttextes gibt Gott auf Moses Bitten und Fragen endlich
eine positive Antwort: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will
ich tun“, nämlich mit Israel ins Gelobte Land ziehen, „denn du hast
Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.“
Um Moses Treue willen bleibt Gott also bei seiner Zusage für das
ganze Volk. Seine Fürbitte hatte also Erfolg.

Aber Mose ist
– wieder einmal – damit noch nicht zufrieden. So wie er einst zur
Bestätigung für seinen Auftrag Gottes Namen wissen wollte, so möchte
er jetzt Gottes Herrlichkeit sehen, um gewiss zu sein, dass der
HERR wirklich mit ihnen ziehen wird.

Kenner der biblischen
Materie könnten diese Bitte unverschämt finden. Ist auf Gottes Wort
denn nicht genug Verlass? Hat Mose und hat sein Volk das nicht immer
wieder erlebt? Kann ein kleiner sterblicher Mensch seinen Schöpfer
und Herrn überhaupt in seiner ganzen Größe, Macht und Majestät erfassen?
Und selbst wenn er es könnte: Müsste er davon nicht blind oder verrückt
werden – oder gleich zu Staub zerfallen? Nun ist Mose zwar nicht
irgendwer. Von keinem anderen Menschen der Bibel heißt es, dass
Gott mit ihm auf Augenhöhe redet „wie mit einem Freund“. Und Gott
hat ihm gerade erst zugesagt, dass er Gnade vor ihm gefunden hat.
Muss ihm das nicht reichen? Gefährdet er nicht seine Sonderstellung
bei Gott, wenn er noch mehr verlangt – mehr als einem Sterblichen
zusteht?

Aber erstaunlicherweise
lehnt Gott Moses Bitte nicht ab. Zwar darf er Gottes Angesicht nicht
sehen. Hier bleibt eine unüberwindbare Grenze zwischen Gott und
Mensch, und Gott sorgt mit seiner schützenden Hand dafür, dass sie
nicht überschritten wird. Aber er zieht in seiner ganzen Güte und
Schönheit, in seiner Macht und Herrlichkeit an Mose vorüber – und
er darf hinter ihm her schauen.

Können wir mit
dieser rätselhaften Episode auf dem Berg Horeb noch etwas anfangen?
Das Gottesbild, von dem sie ausgeht, ist uns jedenfalls fremd geworden.
Hier scheint Gott eine Gestalt zu haben, die sich zwar weder in
einem Stier noch in einem anderen irdischen Götterbild darstellen
lässt, aber eben doch eine Gestalt, die man grundsätzlich sehen
kann, wenn Gott sie einem Menschen enthüllt. Sie mag in ihrer Schönheit
und Schrecklichkeit unbeschreiblich sein, aber sie hat doch Hand
und Gesicht und bewegt sich in Raum und Zeit: zieht an Mose vorüber
und geht – verhüllt in Wolken und Feuer – mit Israel ins verheißene
Land.

Wir sind es dagegen
gewohnt, uns Gott als grundsätzlich unsichtbar vorzustellen. Für
uns ist er den Dimensionen von Raum und Zeit enthoben, weil er sie
geschaffen hat und sie wie alles andere umfasst und umfängt. Er
ist für uns nicht an einem bestimmten Ort, sondern überall. Er wohnt
für uns nicht auf einem heiligen Berg oder in einem heiligen Zelt,
sondern in unseren Herzen. Und dort können wir ihn vielleicht manchmal
spüren und mit ihm reden, aber ganz bestimmt nicht sehen.

Das ist ja auch
alles gar nicht verkehrt. Trotzdem könnten wir uns ja mal fragen,
welche Vorstellung dem Gott der Bibel, an den wir glauben, eigentlich
näher kommt: die relativ handfeste, greifbare von 2. Mose 33 oder
die abstrakte, unanschauliche Vorstellung, die wir so mit uns herumtragen.
Immerhin glauben wir doch an einen Gott, der in Jesus selbst Mensch
wurde – nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Einen Gott, der sich
in Raum und Zeit sichtbar und berührbar gemacht hat, und damit auch
verletzbar und angreifbar. Einen Gott, der sich ohne Not, aber aus
lauter Gnade und Barmherzigkeit dem Leid und dem Tod ausgeliefert
hat. Zwar wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat. Aber
ihn dürfen wir uns getrost als Menschen wie du und ich vorstellen:
mit einer Stimme, die man hören, mit Händen, die man berühren, mit
einem Gesicht, in das man schauen kann. Menschliche Hände, menschliche
Stimme, menschliches Gesicht, und doch zugleich Gesicht, Stimme
und Hände Gottes. Das Johannesevangelium drückt es so aus: „Das
Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller
Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)

So verstanden
haben wir also von Gottes Herrlichkeit mehr gesehen als Mose. Er
durfte Gottes Angesicht nicht sehen und durfte seiner Herrlichkeit
nur hinterher schauen. Wir dagegen dürfen Gott ins Gesicht blicken,
weil es das Gesicht Jesu ist. Und wir können und dürfen darauf ablesen,
dass Gott uns liebt: dass er auch für uns „ich bin für euch da“
heißt. Dass wir Gnade vor seinen Augen gefunden haben und er uns
mit Namen kennt wie Mose damals. Und dass er uns treu bleiben und
weiter mit uns gehen wird, so oft wir ihn auch enttäuschen mögen.

Sind damit all
die vielen Fragen beantwortet, die ich am Anfang aufgezählt habe?
Haben wir damit Gottes Wesen erfasst und wissen alles über ihn?
Natürlich nicht. Auch das, was wir an Jesus ablesen können, ist
nur ein Bild von Gott, und es zeigt uns nur einen kleinen Ausschnitt
der Herrlichkeit Gottes. Denn die können wir genauso wenig in ihrer
ganzen Größe erfassen, wie ein Fisch das Meer erfassen kann, in
und von dem er lebt. Aber Jesus zeigt uns das Bild von Gott, auf
das Gott sich festgelegt hat. Er zeigt uns alles, was wir von und
über Gott wissen müssen, um im Frieden mit ihm leben und sterben
zu können. Er beantwortet nicht alle unsere Fragen, aber er sagt
uns genug, um auch mit ungelösten Fragen leben zu können. Wie Gott
„in echt“ heißt? Weiß ich nicht – aber „ich bin, der ich bin“ ist
mir Name genug. Wie Gott das gemacht hat mit der Schöpfung? Weiß
ich auch nicht – aber mir reicht es zu wissen, dass ich sein Geschöpf
bin und dass er mich liebt. Warum es Leid, Gewalt und Tod in der
Welt gibt? Auch darauf habe ich keine Antwort – aber ich vertraue
darauf, dass Gott, der in Jesus selber Gewalt und Tod erlitten hat,
auch im Leid an meiner Seite ist. Und ob er mich hört, wenn ich
weine und zu ihm rufe? Kann ich gleichfalls nicht beweisen – aber
ich kann die Erfahrung des Mose bestätigen, dass man mehr Erfahrungen
mit Gott macht, wenn man mit ihm im Gespräch bleibt. Und so wie
Mose der Herrlichkeit Gottes hinterher sehen durfte, so geht mir
manchmal im Nachhinein auf: Ja, da hat Gott mein Gebet erhört und
mir geholfen – wenn auch vielleicht anders als ich mir das zuvor
gedacht hatte.

Und noch ein Letztes
können wir von Mose lernen: Es gibt in Bezug auf Gott keine Fragen,
die man nicht stellen darf, und keine Bitten, die sich nicht gehören.
Menschen, die Gnade vor Gott gefunden haben – und dazu gehören wir,
wie gesagt, alle – dürfen ihm mit allem kommen, was ihnen auf dem
Herzen liegt. Wie er uns darauf antwortet, müssen wir freilich ihm
überlassen – aber auf jeden Fall dürfen wir darauf gespannt sein.

Amen.

 

Predigt vom 19.12.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN
ADVENT

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
19.12. 2010
Text: Lk 1,26-38

Und im sechsten
Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in
Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die versprochen
war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau
hieß Maria.

Und der Engel
kam zu ihr hinein und sprach: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr
ist mit dir!“ Sie aber erschrak über die Rede und dachte: „Welch
ein Gruß ist das?“

Und der Engel
sprach zu ihr: „Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott
gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären,
und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und
Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den
Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das
Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.“

Da sprach Maria
zu dem Engel: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann
weiß?“

Der Engel antwortete
und sprach zu ihr: „Der heilige Geist wird über dich kommen, und
die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das
Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe,
Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in
ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt,
dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.“

Maria aber
sprach: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt
hast.“

Und der Engel
schied von ihr.

Maria erfreut
sich zurzeit wieder großer Beliebtheit. Jedenfalls als Vorname für
neugeborene Mädchen. Seit Jahren steht Marie fast immer ganz oben
auf der Namenshitliste, dicht gefolgt von Maria, und dann sind da
noch die all die Miriams, Mias und Maikes. Allerdings hat diese
Namensgebung heutzutage nicht mehr viel mit der Religion zu tun.
Wenn früher jemand Maria hieß, konnte man mit ziemlicher Sicherheit
davon ausgehen, dass die Eltern gut katholisch waren. Heute ist
Maria gerade in Ostdeutschland besonders beliebt, wo die Christen
und erst recht die Katholiken eine Minderheit sind. Also heißen
wohl nur deshalb so viele Kinder Marie oder Maria, weil es gut klingt
und gerade Mode ist.

Oder steckt doch
mehr dahinter? Eine unbewusste Sehnsucht vielleicht nach dem, wofür
Maria steht – nach Unschuld, nach Reinheit, nach Demut und damit
ungefähr nach dem Gegenteil von dem Mädchen- und Frauenbild, das
uns tagtäglich in den Medien präsentiert wird? Denn die vermitteln
uns ja folgende Methoden, wie man heutzutage als Frau groß rauskommen
kann: Entweder man ist intelligent und ehrgeizig und bootet die
männliche Konkurrenz aus, indem man sie an nüchterner Sachlichkeit
und Machtinstinkt noch übertrifft – Modell Angela Merkel. Oder man
gibt sich bewusst dämlich und perfektioniert mit viel Silikon, Styling
und Zickigkeit das Bild, das sich der Durchschnitts-Macho ohnehin
von den Frauen macht, und wickelt ihn so um den Finger – Modell
Daniela Katzenberger. Oder man setzt auf den Ach-wie-süß-Faktor
unverbrauchter Jugendlichkeit – Modell Lena Meyer-Landrut. Zu Maria,
soviel steht fest, passt höchstens das Letztere, aber auch das nicht
wirklich. Und vielleicht finden das ja mehr Menschen, als man denkt,
im tiefsten Innern gut so.

Also: Was sagt
uns Maria, die Mutter Jesu, noch im 21. Jahrhundert? Erst recht
uns Evangelischen, die wir’s ja gemeinhin nicht so mit ihr haben?
Etliche von uns hegen ja immer noch den Verdacht, dass bei den Katholiken
die Trinität nicht aus Vater, Sohn und heiligem Geist besteht, sondern
aus Maria, Jesus und dem Papst – in dieser Reihenfolge. Und wenn
man sich gewisse Auswüchse des Marienkults in Tschenstochau, Lourdes
oder Fatima so anschaut, dann scheint dieser Argwohn sogar berechtigt
zu sein. Gegen so viel „Aberglauben“ kehren wir Protestanten gern
unseren aufgeklärten Verstand hervor. Wir sagen dann: Wenn Jesus
wirklich Mensch war, dann muss er auch einen menschlichen Vater
gehabt haben. Sonst wäre er ja gar kein Nachkomme König Davids gewesen,
denn von dem stammte Josef ab, nicht Maria. Und dass Herrscher und
Helden, Religionsstifter und Philosophen Göttersöhne waren, das
haben die alten Ägypter, Griechen und Inder geglaubt und noch der
Dichter Vergil von Kaiser Augustus behauptet, aber wir, die wir
an den einen Gott glauben, sind über so etwas doch längst hinaus.
Also nichts mit Jungfrauengeburt, die im Neuen Testament ohnehin
nur an zwei Stellen vorkommt, geschweige denn mit bleibender Jungfräulichkeit,
unbefleckter Empfängnis und leiblicher Himmelfahrt Mariens. So etwas
können wir als denkende Christenmenschen gar nicht glauben wollen,
auch wenn „geboren von der Jungfrau Maria“ immer noch in unserem
Glaubensbekenntnis steht. Wenn wir so denken, haben wir übrigens
Juden und Muslime in seltener Einbracht an unserer Seite.

Und so bleibt
in der protestantischen Bibelauslegung von Maria oft nicht mehr
übrig, als dass sie ein einfaches Mädchen aus Nazaret war, dass
sie mit einem Bauhandwerker namens Josef verheiratet war und mindestens
sieben Kinder hatte, von denen eines Jesus hieß. Dass der dann irgendwann
anfing, vom Vater im Himmel zu reden und als Prediger und Heiler
durchs Land zu ziehen, hat sie nicht nur nicht verstanden, sondern
sie hat ihn sogar für verrückt erklärt und gemeinsam mit seinen
Brüdern versucht, ihn wieder nach Hause zu holen – nachzulesen im
Markusevangelium, Kapitel 3, Vers 21 und 31. Später, nach Ostern,
hat sie dann zwar zur christlichen Gemeinde gehört, aber dort keine
besondere Rolle gespielt. Schon bald verlieren sich ihre Spuren
im Dunkel der Geschichte, und alles, was sonst von ihr berichtet
wird, gehört ins Reich der Legende.

Aber wenn ich
die erste und wichtigste dieser Legenden, den heutigen Predigttext,
wieder lese, dann merke ich, dass ich mich mit diesen mageren Fakten
nicht zufrieden geben kann. Denn ich glaube ja, dass Jesus Gottes
Sohn ist, weil Gott ihn von den Toten auferweckt hat, obwohl auch
das kein Historiker beweisen kann. Und wenn ich das glaube, dann
mache ich mir zwangsläufig Gedanken darum, wie ich es denn verstehen
soll und wie es dazu kam, dass in Jesus Gott und Mensch eins wurden.
Und wenn ich das tue, komme ich irgendwann bei seiner Geburt an
und damit auch bei seiner Mutter Maria. So geht es mir, und so ging
es schon denen, die die Geschichte aus dem Lukasevangelium zuerst
erzählt haben. Ihnen ging es darum, wer Jesus für sie ist, und eben
deshalb ging es ihnen auch um Maria.

Aber was sagt
die Geschichte nun über die Mutter Jesu? Zuerst kommen auch hier
die schlichten Fakten: Da ist ein Mädchen namens Maria, verlobt
mit einem Mann namens Josef, einem Nachkommen Davids, und beide
leben in Nazaret, einem unbedeutenden Ort in Galiläa. Aus der Tatsache,
dass Maria verlobt war, kann man als Kenner der Zeitumstände ihr
Alter erschließen: etwa zwölf Jahre oder wenig mehr. Dass war damals
das übliche Verlobungsalter. Denn die Väter waren bestrebt, ihre
Töchter unter die Haube zu bringen, bevor sie womöglich auf dumme
Gedanken kamen. Also suchten sie einen passenden Ehemann, schlossen
einen Ehevertrag mit ihm, und nach etwa einem Jahr wurde geheiratet.
Solange blieben die Mädchen noch im Elternhaus. Wenn man das bedenkt,
kann man sich außerdem vorstellen, was Maria sich anhören musste
bzw. was hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, sobald herauskam,
dass sie schwanger war. Es erschien ja nicht jedem ein Engel, um
die Sache zu erklären.

Um so erstaunlicher
ist für mich, wie Maria in dieser Geschichte reagiert. Da kommt
der Erzengel Gabriel, sozusagen der Generalfeldmarschall der himmlischen
Heerscharen, in ein galiläisches Kuhdorf zu ihr, einem x-beliebigen
Teenager, und sagt ihr: „Sei gegrüßt, du Begnadete, du wirst die
Mutter von Gottes Sohn werden!“ Und Maria? Die erschrickt zwar ein
wenig und fragt auch noch mal nach, wie das denn zugehen soll, aber
dann sagt sie schlicht: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe,
wie du gesagt hast.“ Da hätte ich mir aber ganz andere Reaktionen
vorstellen können: „Ich bin doch noch viel zu jung!“ – „Was sollen
denn die Leute denken?“ – „Was wird Josef, was werden meine Eltern
sagen?“ – „Warum gerade ich? Ich bin doch völlig ungeeignet für
so was!“ Solche Einwände werden uns immerhin von den Großen des
Alten Testaments überliefert, von Mose, Jesaja oder Jeremia. Warum
nicht von Maria? Hat sie gar nicht recht begriffen, worum es geht?
– Nun, ich denke, der Erzähler geht davon aus, dass Gabriel es ihr
verständlich erklärt hat. Ist sie in Gegenwart des Engels vielleicht
irgendwie in Trance geraten und zum willenlosen Werkzeug geworden?
– Auch davon hören wir kein Wort. Ist sie einfach ein braves Mädchen,
das tut, was man ihr sagt? – Vielleicht, aber ich glaube, das ist
nicht der springende Punkt. Hätte sie denn überhaupt Nein sagen
können? War das Ganze bei Gott nicht längst beschlossene Sache?
– Darüber kann man lange spekulieren, aber ich glaube nicht, dass
Gott einen Menschen gegen seinen Willen zu irgendetwas zwingt, und
sei es, eine wichtige Rolle bei der Rettung der Menschheit zu spielen.

Nein, ich denke,
die Geschichte will uns etwas anderes sagen, nämlich, dass Maria
bewusst und aus freien Stücken Ja gesagt hat zu dem, was Gott mit
ihr vor hatte. Sie hat Ja gesagt dazu, Gottes Sohn zur Welt zu bringen.
Und dieser Tatsache kann man gar nicht genug Gewicht beimessen.
Wenn Christen, egal welcher Konfession, Maria für ihr schlichtes
Ja verehren und den Hut vor ihr ziehen, dann hat sie das verdient.
Dass Maria ein Mensch war und nicht Gott, dass ist auch den glühendsten
katholischen Marienverehrern klar. Dass sie aber aus freien Stücken
den Sohn Gottes zur Welt gebracht hat – wie auch immer man sich
das biologisch vorstellen soll – und dass sie deshalb zu Recht „Mutter
Gottes“ genannt wird, das haben auch Luther oder Calvin nie bestritten.
Viele evangelische Christen unserer Tage wissen das nur nicht mehr
so recht.

Deshalb möchte
ich für mein Teil ein paar Dinge in Zukunft nicht mehr vergessen:

Erstens war es
eine Frau und konnte nur eine Frau sein, der Gott die höchste Ehre
zuteil werden ließ, die einem Menschen überhaupt zuteil werden kann.
Dass die katholische Kirche das für Maria anerkennt, aber alle anderen
Frauen von bestimmten Ehren ausschließt, halte ich nun allerdings
für zutiefst inkonsequent – aber vielleicht packen wir Evangelischen
uns da erst mal an die eigene Nase: Bei uns gibt es Pfarrerinnen
auch erst seit etwa fünfzig Jahren, und mancher meint ja immer noch,
dass Weib habe in der Gemeinde zu schweigen. Streng genommen dürfte
dann allerdings der Lobgesang der Maria auch in keiner Kirche mehr
erklingen.

Zweitens möchte
ich nicht vergessen, dass man als Mensch nichts Besseres tun kann,
als das geschehen zu lassen, was Gott mit uns vorhat. Zwar erscheint
uns in der Regel kein Engel, um uns Gottes Pläne zu erläutern. Aber
ich denke, mit aufmerksamem Achten auf die Zeichen der Zeit, mit
Nachdenken, Bibellesen und Gebet können auch wir recht gut erkennen,
was Gottes Wille für unser Leben ist.

Drittens und letztens:
Das anzunehmen, was wir von Gott empfangen, kann größer und schwieriger
sein, als alle Versuche, uns aus eigener Kraft zu dem zu machen,
was wir gern wären. Und doch passt es vielleicht besser zu uns als
die Pläne, die wir uns selber ausdenken. Marias Pläne fürs Leben
sahen sicher anders aus: einen guten Ehemann finden, Kinder bekommen,
die dann auch gut geraten, in Frieden und wohl versorgt alt werden.
Mutter des Messias zu werden, wäre ihr im Traum nicht eingefallen,
und es hat ihr wohl alles in allem mehr Leid als Freude gebracht.
Und doch war sie und keine andere in Gottes Augen genau die richtige
dafür und nahm diese Entscheidung Gottes an. Es wäre schön und hilfreich,
wenn in dieser Hinsicht wieder mehr Menschen sich Maria zum Vorbild
nähmen – evangelische und katholische, Männer und Frauen.

Amen.

 

Predigt vom 3.10.2010

 

FAMILIENGOTTESDIENST ZUM ERNTEDANKFEST

mit Kindergarten Schießberg
und Jasminweg

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
3.10. 2010
Thema: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ (2.Kor
9,7)

Neulich habe ich
eine Gruppe Konfirmanden anhand von Fotos hier im Haus nach Tieren
suchen lassen. Den Hahn hatten sie schnell (auf dem Kirchturm),
auch der Fisch (an der Taufschale) und die Schlange (auf dem Altarbild)
waren kein Problem. Aber den Fuchs, den haben sie recht lange suchen
müssen. – Weiß hier jemand, wo der Fuchs ist? … Richtig, an der
Wand im Kleinen Saal – vielleicht schaut ihr es euch nachher mal
genauer an!

Wahrscheinlich
konnten sich die Konfis nicht so recht vorstellen, was ein Fuchs
in der Kirche zu suchen hat. Aber der Künstler, von dem der Fuchs
stammt, hat dabei an etwas gedacht, das Jesus mal gesagt hat: „Die
Füchse haben ihren Bau, und die Vögel (die sind da auch zu sehen)
haben Nester, aber ich, der Menschensohn, habe keinen Ort, an dem
ich mich abends schlafen legen kann.“ (Lk 9,58) Und dann sind an
der Wand noch Menschen zu sehen, denen es genauso ging wie Jesus
und wie den Tieren vorhin in der Geschichte vom Apfelbaum: Leute,
die aus ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben wurden, die
nur noch besitzen, was sie tragen können, und die nun ein neues
Zuhause suchen. Vor 65 Jahren, nach dem letzten Krieg, kamen viele
solche Menschen hierher. Sie konnten und durften nicht mehr dort
bleiben, wo sie bisher gelebt hatten – in Ostpreußen oder Schlesien
zum Beispiel. Und sie mussten nun eine neue Bleibe finden, viele
davon hier im Wenscht. Aber wie würden die Alteingesessenen sie
aufnehmen?

Auf dem Bild an
der Wand sind die verschiedenen Möglichkeiten zu sehen: Zwei sitzen
am Tisch am warmen Herd und vor einer dampfenden Schüssel und halten
schützend die Hände darüber: „Alles meins“, heißt das, „ich hab
nichts zu verschenken, und Fremde sind hauptsächlich lästig!“ Wie
die anderen Bäume vorhin. Aber einer macht es anders. Er steht auf,
nimmt einen Teller mit Essen und geht den armen Flüchtlingen entgegen.
„Willkommen“, drückt er damit aus, „ich teile gern mit euch, es
wird schon für alle reichen!“ Auch so ein „fröhlicher Geber“.

Das mit den Flüchtlingen
nach dem Krieg ist jetzt schon lange her. Ihr Kindergartenkinder
müsst schon eure Großeltern oder gar Urgroßeltern fragen, wenn ihr
wissen wollt, wie das war. Aber Gelegenheiten, fröhliche Geber und
Gastgeber zu werden, die gibt es auch für uns heute genug.

Die erste bietet
sich gleich am Ausgang: Da sammeln wir nämlich für den Kindergarten
Jasminweg, der bekanntlich gerade umgebaut wird und wo leider immer
noch nicht klar ist, wie das Ganze finanziert werden kann.

Andere Gelegenheiten
warten jeden Tag auf uns: Menschen, die vielleicht gar nicht immer
unser Geld wollen, sondern die unsere Zeit, unsere Aufmerksamkeit,
unsere Hilfe brauchen. Nicht nur irgendwo in der weiten Welt, sondern
direkt in unserer Nachbarschaft.

Und Menschen bei
uns aufzunehmen und willkommen zu heißen? Gute Gastgeber zu sein
wie der Apfelbaum? Da waren wir schon mal besser: vor 65 Jahren,
als Deutschland am Boden lag, vor 20 Jahren, als es wieder eins
wurde. Heute dagegen kriegt einer großen Beifall, wenn er die idiotische
Behauptung in die Welt setzt, Deutschland würde verdummen, weil
Muslime zu viele Kinder bekommen. „Die sollen sich endlich richtig
integrieren“, heißt es, aber gemeint ist bei vielen: „die passen
nicht zu uns und sollen gefälligst endlich verschwinden!“ Dabei
sind die meisten von ihnen mal als unsere Gäste gekommen, sogar
von uns gerufen, und wir sollten trotz aller Probleme froh sein,
dass sie noch da sind; denn wir werden sie noch brauchen, wenn wir
mal alle alt sind und irgend jemand das Geld für unsere Rente erarbeiten
und uns pflegen muss. Übrigens: die Moschee im Hüttental hat heute
Tag der Offenen Tür und lädt uns alle zu sich ein – vielleicht können
wir von den Muslimen als Gastgebern ja noch was lernen!

Paulus hat das
mit dem „fröhlichen Geben“ übrigens geschrieben, als er in seinen
Gemeinden Spenden für die verarmten Christen in Jerusalem sammelte.
„Von dort ist die Botschaft von Jesus Christus ausgegangen“, sagt
er ihnen, „durch die ihr ehemaligen Heiden nun zum Volk Gottes gehört.
Ihr seid mit Gott im Reinen, ihr habt einen festen Halt an ihm und
er hat euch viele gute Gaben zukommen lassen, und das alles verdankt
ihr auch denen, die von Jerusalem den Weg zu euch gefunden haben.
Da ist es doch nur ein gerechter Ausgleich, wenn ihr ihnen nun materiell
unter die Arme greift.“

Das gilt auch
für uns. Gott hat uns viel geschenkt. Wir haben allen Grund ihm
dankbar zu sein. Und wir können ihm das zeigen, indem wir seine
Gaben weiterverschenken an unsere Mitmenschen. Wir müssen keine
Angst haben, dass wir selber darüber zu kurz kommen. Sondern wir
dürfen erfahren, dass wir durch Geben viel reicher werden als durch
Nehmen und Behalten. So wie der Apfelbaum, der im Winter nicht einsam
war. Oder so wie Paulus es sagt: „Wer wenig sät, wird auch wenig
ernten. Und wer reichlich sät, der wird reichlich ernten.“

Amen.

 

Predigt vom 05.09.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
5.9. 2010
Text: Röm 8,14-17

Letzten Dienstag
war für die neuen Erstklässler der erste Schultag. Wie immer haben
wir aus diesem Anlass gemeinsam mit den Grundschulen ökumenische
Gottesdienste gefeiert. Und es war wieder so, wie ich es auch von
den ersten Schultagen meiner eigenen Kinder kenne: Da saßen sie
in den ersten Reihen mit neuem Ranzen und Schultüte, ein wenig aufgeregt,
aber auch stolz, endlich zu den „Großen“ zu gehören. Und auch die
Gedanken der Eltern, die mit dabei waren, werden ähnliche gewesen,
wie ich sie von mir selber kenne: Da hat das Kind gerade erst laufen
und sprechen gelernt, kurz davor lag es noch in der Wiege, und jetzt
geht es plötzlich schon zur Schule – lernt Lesen, Schreiben, Rechnen,
geht neue Wege, findet neue Freunde, und das alles ohne seine Eltern!
Wie rasend schnell das doch gegangen ist! Heute wird nun schon unsere
zweite Tochter zur Konfirmation angemeldet, und wahrscheinlich sollten
meine Frau und ich uns innerlich schon mal auf Abifeiern, Hochzeiten
und Enkelkinder vorbereiten. Auch der Familie Langenbach kann ich
nur raten, sich auf dieses rasende Tempo gefasst zu machen und die
Zeit mit ihrem Kind gut zu nutzen – sie geht so schnell vorbei!

Aber natürlich
freuen sich Eltern auch über die Fortschritte ihrer Kinder, sind
stolz auf das, was sie schon alles können, und dass sie sich immer
mehr zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Denn wir haben
sie ja lieb, unsere Kinder, und deshalb müssen wir auch lernen,
sie loszulassen – je länger, je mehr. Es wäre schlimm, wenn es nicht
so wäre. Denn wenn wir an unseren Kindern keine Freude hätten, wenn
wir keine Liebe für sie empfinden würden, dann könnten wir ihnen
kaum einen guten Weg ins Leben zu bahnen. Dann würden wir Kinder
nur als die Last empfinden, die sie ja auch sind: eine Last, die
Arbeit, Ärger und Sorgen macht und auf die man gut verzichten könnte.
Und unsere Kinder würden dann sehr schnell merken, dass wir sie
eigentlich gar nicht haben wollen. Sie würden merken, dass wir sie
nicht wirklich lieb haben, sondern sie nur satt und sauber halten
und sie ansonsten unseren Regeln unterwerfen, damit sie uns möglichst
wenig stören. Das selbstverständliche Vertrauen zu ihren Eltern,
das alle Kinder mit auf die Welt bringen, würde dadurch ziemlich
schnell zerstört. Im Grunde wären sie dann keine Kinder mehr, sondern
nur noch Zöglinge. Und aus Zöglingen werden vielleicht Menschen,
die gut funktionieren, weil sie es gewöhnt sind, sich unterzuordnen
und anzupassen; aber es werden daraus keine freien Persönlichkeiten,
die selbst- und verantwortungsbewusst ins Leben gehen.

Leider war diese
Art Erziehung viel zu lange die Regel, und viele Eltern haben sich
auch noch auf Gott berufen, wenn sie ihre Kinder zu Zöglingen degradiert
haben. Sie haben dann zwar vielleicht vom „lieben Gott“ geredet,
aber gemeint haben sie einen strengen Gott, der vor allem will,
dass man ihm gehorsam ist und sich seinen Geboten unterwirft. „Der
liebe Gott sieht alles“, hieß es dann zum Beispiel mit erhobenem
Zeigefinger. Dadurch wollten die Eltern sicherstellen, dass ihre
Kinder auch dann noch parierten, wenn sie selbst mal nicht hinschauen
konnten. Oder man ließ die Kinder beten: „Lieber Heiland mach mich
fromm, dass ich in den Himmel komm!“ – Und „fromm“ zu sein hieß
nur zu oft, brav das zu tun, was die Eltern sagen. Gott sei Dank
sind solche Erziehungsmethoden heute selten geworden. Aber viele,
die es so erlebt und darunter gelitten haben, wollen bis heute nichts
mehr von Glauben und Kirche wissen, weil sie Gott nur als verlängerten
Arm schlechter Erziehungsmethoden kennen gelernt haben – als einen,
vor dem man mindestens genauso Angst haben muss wie vor einer Tracht
Prügel. Mit dem will man natürlich als erwachsener Mensch nichts
mehr zu tun haben.

Der Predigttext
für den heutigen Sonntag redet ganz anders von Gott. In ihm beschreibt
der Apostel Paulus den Christen in Rom das Verhältnis, in dem wir
als Christen zu Gott stehen:

Diejenigen,
die sich vom Geist Gottes leiten lassen, die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass
ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist
der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
Der Geist selbst bezeugt unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben
und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch
mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

Paulus gebraucht
hier ein Bild aus dem gesellschaftlichen Leben seiner Zeit. Damals
bestand eine Familie nicht nur aus Vater, Mutter, Kind, sondern
aus viel mehr Menschen: dem Hausvater als Familienoberhaupt – das
war eben damals noch ganz selbstverständlich –, seiner Frau, seinen
Kindern, vielleicht noch seinen alten Eltern und auch aus Bediensteten
und Sklaven – je nachdem, ob und wie viele man sich von denen leisten
konnte. Paulus vergleicht nun die Kinder, vor allem die Söhne, und
die Sklaven miteinander: Beide gehören zur Familie, beide sind vom
Hausvater abhängig. Sie haben ihn zu respektieren und müssen ihm
gehorchen. Aber die Sklaven sind zu nichts anderem bestimmt als
Sklaven zu sein und zu bleiben. Die Söhne dagegen werden eines Tages
das Erbe ihres Vaters antreten und selbst Hausväter sein und über
Sklaven gebieten. Die einen stehen in der Familie nur in einem Arbeitsverhältnis,
die anderen in einem Vertrauensverhältnis. Die einen haben das Familienoberhaupt
mit „Herr“ anzureden, die anderen dürfen „Vater“ oder sogar „Papa“
zu ihm sagen.

Dieses Bild wendet
nun Paulus auf das Verhältnis der Christen zu Gott an: Wir stehen
zu Gott nicht in einem Sklavenverhältnis, sagt er, sondern in einem
Kindschaftsverhältnis. Wir gehören zu seinen Erben und dürfen ihn
Vater nennen. Heute sind wir es gewohnt, Gott so anzureden. Aber
damals muss das seltsam geklungen haben: Wir arme, kleine Menschen
sollen Kinder Gottes sein, Adoptivkinder sozusagen? Wir sollen uns
nicht vor ihm in den Staub werfen wie vor den Bildern unserer bisherigen
Götter, sondern vertrauensvoll „lieber Vater“ zu ihm sagen? Und
wir sollen sogar seine Erben sein? Aber Gott stirbt doch nicht,
und wir können doch nicht an seiner Statt Gott werden!

Paulus hätte auf
solche Fragen geantwortet: Es geht auch gar nicht darum, dass ihr
Gott werden sollt. Es geht vielmehr darum, dass Gott Mensch geworden
ist. Jesus kam von Gott her und war doch ein Mensch wie wir. Deshalb
ist er zugleich Gottes Sohn und unser Bruder. Jesus ist der, den
Gott zum Erben eingesetzt hat. Ihn hat er erhöht und zum Herrn der
Welt gemacht. Aber wir, die an Jesus Christus glauben, sind seine
Geschwister, und deshalb erben wir mit ihm zusammen. Und sozusagen
als Anzahlung auf das Erbe hat er uns seinen Geist gegeben. Wir
können in der Gewissheit leben, dass wir unlöslich mit Gott verbunden
sind wie ein Kind mit seinen Eltern. Und deshalb können wir ihn
voll Vertrauen als unseren Vater anreden – so wie Jesus es tat und
es uns mit dem Vaterunser beigebracht hat.

Genau darum geht
es auch bei der Taufe. Als der kleine Finn eben getauft wurde, da
hat Gott ihm wie zuvor uns allen zugesprochen: „Du bist mein liebes
Kind. Ich habe dich genauso lieb wie Jesus, meinen Sohn, und ich
möchte mit dir genauso eng verbunden sein, wie ich mit ihm verbunden
bin.“ Seitdem gilt für uns, dass wir außer unseren leiblichen Eltern
auch noch einen guten Vater im Himmel haben. Und so wie man die
Taufe nicht rückgängig machen kann, so bleibt Gott auch dann unser
himmlischer Vater, wenn wir nicht so gute Eltern hatten, wie wir
es uns gewünscht hätten und wie sie vielleicht auch sein wollten,
aber nicht konnten. Für Gott ist kein Mensch nur das unabänderliche
Ergebnis seiner Erziehung, ob sie nun eher gelungen oder eher danebengegangen
ist. Ich wünsche Finn und allen Kindern, die getauft werden, dass
sie von ihrem guten himmlischen Vater etwas erfahren in ihrem Leben.
Und ich wünsche seinen Eltern und Paten und uns Erwachsenen allen,
dass wir ihn nie vergessen und an ihm festhalten können trotz allem,
was uns von ihm weg zieht und was gegen ihn zu sprechen scheint.

Und wie gesagt:
Gott ist nicht der Vater, vor dessen Tracht Prügel man Angst haben
muss, wenn er abends nach Hause kommt. Er ist nicht der Vater, vor
dessen strengem Blick man sich mit schlechtem Gewissen verstecken
muss. Er ist auch nicht der Vater, für den seine Kinder eine lästige
Verpflichtung sind, für die man bestenfalls einen flüchtigen Gute-Nacht-Kuss
und ein paar Euro Taschengeld übrig hat. Und erst recht nicht der,
den sein Kind nie wirklich kennen gelernt hat, weil er eines Tages
plötzlich weg war und womöglich nicht mal Unterhalt zahlt. Nein,
wir alle sind Gottes Wunschkinder. Er hat unsere Geburt herbeigesehnt
und freut sich darüber, dass wir da sind. Er möchte, dass wir selbstbewusste,
freie Menschen werden, dass wir das Beste aus den Gaben machen,
die er uns mitgegeben hat. Er lässt uns erwachsen werden, auch wenn
unsere Wege dann von ihm wegführen. Er ist aber auch immer bereit,
uns mit offenen Armen zu empfangen, wenn wir bei ihm Zuflucht suchen.
Als leiblicher Vater möchte ich mir diesen Vater im Himmel zum Vorbild
nehmen – übrigens auch seine mütterlichen Züge, obwohl von denen
in der Bibel seltener die Rede ist. Und ich möchte darauf vertrauen,
dass meine Kinder dadurch trotz meiner Fehler erfahren, dass Gott
sie liebt.

Amen.