Predigt vom 16.1.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
SONNTAG NACH EPIPHANIAS

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
16.1. 2011
Text: Ex 33,17-23

Gestern war mal
wieder Konfi-Blocktag. Am Anfang lag hier in der Kirche ein großes
Fragezeichen in der Mitte, und die Konfis sollten sich dazu überlegen:
„Wenn ich Gott etwas fragen könnte, was wäre das?“ Meine Blocktagsgruppe
ist erst nächsten Samstag dran, deshalb weiß ich nicht, was gestern
so für Fragen gekommen sind. Aber wahrscheinlich waren es ähnliche
wie die, die wir letztes Jahr notiert haben: „Wer oder was bist
du überhaupt, Gott? Und wo bist du? Wie bist du entstanden? Wie
siehst du aus? Bist du ein Mann oder eine Frau? Warst du mal ein
Mensch? Hast du ein Kind? Wie heißt du in echt? Warum sehen wir
dich nicht? Warum zweifeln so viele Menschen an dir? Warum darf
man sich kein Bild von dir machen? Bist du noch hier? Gibt es dich
oder gibt es dich nicht? Was machst du den ganzen Tag? Hast du wirklich
die ganze Welt erschaffen, und wenn ja, wie? Und wieso ist die Welt
jetzt so, wie sie ist – mit all der Gewalt und all dem Leid? Warum
nimmst du uns Menschen, die wir lieben und die nicht einmal alt
waren? Warum müssen Menschen überhaupt sterben? Muss man den Tod
fürchten? Und was kommt danach? Der Himmel? Aber wie sieht es dort
aus? Wenn wir beten, hörst du uns dann? Hörst du mich, wenn ich
weine?“

Fragen über Fragen.
Manche klingen für uns Erwachsene vielleicht naiv. Aber die meisten
dürften uns selber auch beschäftigen. Und wer von uns hat sich nicht
schon mal gewünscht, er könnte Gott einmal so sehen, wie er ist,
von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden und Antwort auf all die
vielen Fragen bekommen.

Der heutige Predigttext
handelt von einem, der diesen Wunsch auch hatte. Und er bekam ihn
sogar erfüllt – jedenfalls in gewissem Sinne. Das Ganze ist ziemlich
rätselhaft, und trotzdem gibt es, denke ich, auf unsere Fragen nach
Gott eine gute Antwort. Hören wir zunächst mal, was da steht, im
zweiten Buch Mose, im 33. Kapitel:

Der HERR sprach
zu Mose: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn
du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit
Namen.“ Und Mose sprach: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Und
er sprach: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen
lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig
bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme
ich mich.“ Und er sprach weiter: „Mein Angesicht kannst du nicht
sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Und der HERR
sprach weiter: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf
dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will
ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten,
bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun,
und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man
nicht sehen.“

Am Anfang des
Textes treten wir ein in ein Gespräch, das schon länger im Gange
ist: Mose und Gott reden miteinander, und das auf ganz besondere
Art und Weise. Begonnen hat es schon damals, als Mose zum ersten
Mal zum Berg Gottes kam. Als der HERR ihm im brennenden Dornbusch
erschien, sich als Gott seiner Väter vorstellte und ihm den Auftrag
gab, Israel aus der Sklaverei in Ägypten herauszuführen. Schon damals
hatte Mose mehr wissen wollen, hatte Gott nach seinem Namen gefragt.
Und der hatte geantwortet: „Ich bin, der ich bin“ oder „ich werde
sein, der ich sein werde“ oder freier wiedergegeben: „ich bin immer
derselbe, und ich bin immer für euch da“. Keine Antwort eigentlich,
und doch Antwort genug.

Und jetzt ist
Mose wieder hier, am Horeb oder Sinai. Er hat Gottes Auftrag befolgt,
hat sein Volk in die Freiheit geführt, und er hat die Befreiten
hierher gebracht, wo sie ihrem Gott begegnen und Weisung von ihm
empfangen sollen. Und wieder ist Mose auf einmalige Weise Gottes
Gesprächspartner gewesen. Er ist allein auf den Berg gestiegen und
hat von Gott die Zehn Gebote und andere Regeln für die Freiheit
empfangen. Aber kaum ist er mit den Gebotstafeln vom Berg zurückgekehrt,
hat er die bittere Erfahrung gemacht, dass das Volk es offenbar
nicht aushält, einen Gott zu haben, den man nicht sehen und von
dem man sich kein Bild machen kann. Kaum war er weg gewesen, hatten
sie sich ein Stierbild gegossen, um einen Gott zum Anfassen zu haben.
Voller Zorn hat Mose die steinernen Tafeln zerschmissen, hat das
Stierbild eingeschmolzen und ist auf den Berg zurückgekehrt, um
bei Gott Fürbitte für sein abtrünniges Volk einzulegen.

Noch ist nicht
klar, wie das ausgehen wird. Mose bewegt die bange Frage, ob Gott
trotz allem weiter zu seinem Volk stehen wird, ob er mit ihnen ziehen
wird in das Land, das er ihnen versprochen hat und in dem sie in
Freiheit leben sollen. Oder ob sie es sich mit dem Gott ihrer Väter
endgültig verdorben haben und nun ohne ihn klar kommen müssen. Bis
jetzt hat Gott sich noch nicht deutlich erklärt. Noch ist nicht
sicher, ob „ich bin für euch da“ weiterhin sein Name bleiben wird.
Im ersten Zorn hat er davon gesprochen, dieses halsstarrige, undankbare
Volk zu vernichten und mit Mose, dem einzigen Getreuen, noch mal
von vorn anzufangen. Und diese finstere Drohung steht noch im Raum.

Mit dem ersten
Satz des Predigttextes gibt Gott auf Moses Bitten und Fragen endlich
eine positive Antwort: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will
ich tun“, nämlich mit Israel ins Gelobte Land ziehen, „denn du hast
Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.“
Um Moses Treue willen bleibt Gott also bei seiner Zusage für das
ganze Volk. Seine Fürbitte hatte also Erfolg.

Aber Mose ist
– wieder einmal – damit noch nicht zufrieden. So wie er einst zur
Bestätigung für seinen Auftrag Gottes Namen wissen wollte, so möchte
er jetzt Gottes Herrlichkeit sehen, um gewiss zu sein, dass der
HERR wirklich mit ihnen ziehen wird.

Kenner der biblischen
Materie könnten diese Bitte unverschämt finden. Ist auf Gottes Wort
denn nicht genug Verlass? Hat Mose und hat sein Volk das nicht immer
wieder erlebt? Kann ein kleiner sterblicher Mensch seinen Schöpfer
und Herrn überhaupt in seiner ganzen Größe, Macht und Majestät erfassen?
Und selbst wenn er es könnte: Müsste er davon nicht blind oder verrückt
werden – oder gleich zu Staub zerfallen? Nun ist Mose zwar nicht
irgendwer. Von keinem anderen Menschen der Bibel heißt es, dass
Gott mit ihm auf Augenhöhe redet „wie mit einem Freund“. Und Gott
hat ihm gerade erst zugesagt, dass er Gnade vor ihm gefunden hat.
Muss ihm das nicht reichen? Gefährdet er nicht seine Sonderstellung
bei Gott, wenn er noch mehr verlangt – mehr als einem Sterblichen
zusteht?

Aber erstaunlicherweise
lehnt Gott Moses Bitte nicht ab. Zwar darf er Gottes Angesicht nicht
sehen. Hier bleibt eine unüberwindbare Grenze zwischen Gott und
Mensch, und Gott sorgt mit seiner schützenden Hand dafür, dass sie
nicht überschritten wird. Aber er zieht in seiner ganzen Güte und
Schönheit, in seiner Macht und Herrlichkeit an Mose vorüber – und
er darf hinter ihm her schauen.

Können wir mit
dieser rätselhaften Episode auf dem Berg Horeb noch etwas anfangen?
Das Gottesbild, von dem sie ausgeht, ist uns jedenfalls fremd geworden.
Hier scheint Gott eine Gestalt zu haben, die sich zwar weder in
einem Stier noch in einem anderen irdischen Götterbild darstellen
lässt, aber eben doch eine Gestalt, die man grundsätzlich sehen
kann, wenn Gott sie einem Menschen enthüllt. Sie mag in ihrer Schönheit
und Schrecklichkeit unbeschreiblich sein, aber sie hat doch Hand
und Gesicht und bewegt sich in Raum und Zeit: zieht an Mose vorüber
und geht – verhüllt in Wolken und Feuer – mit Israel ins verheißene
Land.

Wir sind es dagegen
gewohnt, uns Gott als grundsätzlich unsichtbar vorzustellen. Für
uns ist er den Dimensionen von Raum und Zeit enthoben, weil er sie
geschaffen hat und sie wie alles andere umfasst und umfängt. Er
ist für uns nicht an einem bestimmten Ort, sondern überall. Er wohnt
für uns nicht auf einem heiligen Berg oder in einem heiligen Zelt,
sondern in unseren Herzen. Und dort können wir ihn vielleicht manchmal
spüren und mit ihm reden, aber ganz bestimmt nicht sehen.

Das ist ja auch
alles gar nicht verkehrt. Trotzdem könnten wir uns ja mal fragen,
welche Vorstellung dem Gott der Bibel, an den wir glauben, eigentlich
näher kommt: die relativ handfeste, greifbare von 2. Mose 33 oder
die abstrakte, unanschauliche Vorstellung, die wir so mit uns herumtragen.
Immerhin glauben wir doch an einen Gott, der in Jesus selbst Mensch
wurde – nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Einen Gott, der sich
in Raum und Zeit sichtbar und berührbar gemacht hat, und damit auch
verletzbar und angreifbar. Einen Gott, der sich ohne Not, aber aus
lauter Gnade und Barmherzigkeit dem Leid und dem Tod ausgeliefert
hat. Zwar wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat. Aber
ihn dürfen wir uns getrost als Menschen wie du und ich vorstellen:
mit einer Stimme, die man hören, mit Händen, die man berühren, mit
einem Gesicht, in das man schauen kann. Menschliche Hände, menschliche
Stimme, menschliches Gesicht, und doch zugleich Gesicht, Stimme
und Hände Gottes. Das Johannesevangelium drückt es so aus: „Das
Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller
Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)

So verstanden
haben wir also von Gottes Herrlichkeit mehr gesehen als Mose. Er
durfte Gottes Angesicht nicht sehen und durfte seiner Herrlichkeit
nur hinterher schauen. Wir dagegen dürfen Gott ins Gesicht blicken,
weil es das Gesicht Jesu ist. Und wir können und dürfen darauf ablesen,
dass Gott uns liebt: dass er auch für uns „ich bin für euch da“
heißt. Dass wir Gnade vor seinen Augen gefunden haben und er uns
mit Namen kennt wie Mose damals. Und dass er uns treu bleiben und
weiter mit uns gehen wird, so oft wir ihn auch enttäuschen mögen.

Sind damit all
die vielen Fragen beantwortet, die ich am Anfang aufgezählt habe?
Haben wir damit Gottes Wesen erfasst und wissen alles über ihn?
Natürlich nicht. Auch das, was wir an Jesus ablesen können, ist
nur ein Bild von Gott, und es zeigt uns nur einen kleinen Ausschnitt
der Herrlichkeit Gottes. Denn die können wir genauso wenig in ihrer
ganzen Größe erfassen, wie ein Fisch das Meer erfassen kann, in
und von dem er lebt. Aber Jesus zeigt uns das Bild von Gott, auf
das Gott sich festgelegt hat. Er zeigt uns alles, was wir von und
über Gott wissen müssen, um im Frieden mit ihm leben und sterben
zu können. Er beantwortet nicht alle unsere Fragen, aber er sagt
uns genug, um auch mit ungelösten Fragen leben zu können. Wie Gott
„in echt“ heißt? Weiß ich nicht – aber „ich bin, der ich bin“ ist
mir Name genug. Wie Gott das gemacht hat mit der Schöpfung? Weiß
ich auch nicht – aber mir reicht es zu wissen, dass ich sein Geschöpf
bin und dass er mich liebt. Warum es Leid, Gewalt und Tod in der
Welt gibt? Auch darauf habe ich keine Antwort – aber ich vertraue
darauf, dass Gott, der in Jesus selber Gewalt und Tod erlitten hat,
auch im Leid an meiner Seite ist. Und ob er mich hört, wenn ich
weine und zu ihm rufe? Kann ich gleichfalls nicht beweisen – aber
ich kann die Erfahrung des Mose bestätigen, dass man mehr Erfahrungen
mit Gott macht, wenn man mit ihm im Gespräch bleibt. Und so wie
Mose der Herrlichkeit Gottes hinterher sehen durfte, so geht mir
manchmal im Nachhinein auf: Ja, da hat Gott mein Gebet erhört und
mir geholfen – wenn auch vielleicht anders als ich mir das zuvor
gedacht hatte.

Und noch ein Letztes
können wir von Mose lernen: Es gibt in Bezug auf Gott keine Fragen,
die man nicht stellen darf, und keine Bitten, die sich nicht gehören.
Menschen, die Gnade vor Gott gefunden haben – und dazu gehören wir,
wie gesagt, alle – dürfen ihm mit allem kommen, was ihnen auf dem
Herzen liegt. Wie er uns darauf antwortet, müssen wir freilich ihm
überlassen – aber auf jeden Fall dürfen wir darauf gespannt sein.

Amen.