Predigt vom 6.3.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ESTOMIHI

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
6.3. 2011
Text: Lk 10,38-42

Wenn ich Geburtstagsbesuche
bei älteren Gemeindegliedern mache, komme ich meistens unangemeldet.
Ich mach das so, weil ich dann mit meiner Zeiteinteilung etwas flexibler
bin und weil ich nicht möchte, dass die Besuchten sich verpflichtet
fühlen, sich extra meinetwegen besondere Umstände zu machen. Ich
nehme dann eben ein Stückchen Kuchen, wenn sowieso welcher da ist,
und wenn nicht, ist auch gut (oder besser, jedenfalls für die schlanke
Linie). Meistens klappt das auch ganz gut. Aber manchmal passiert
auch noch, was mir früher öfter widerfahren ist, dass ich nämlich
durch mein Erscheinen genau die hektische Betriebsamkeit auslöse,
die ich eigentlich vermeiden wollte. „Ach du Schreck“, denkt dann
das – meist weibliche – Geburtstagskind, „der Pastor kommt, und
ich bin doch noch gar nicht fein gemacht und hab noch nichts vorbereitet!“
Und dann heißt es: „Ach, Herr Pastor, das ist aber eine Überraschung!
Legen Sie doch ab und setzen sich schon mal ins Wohnzimmer! Ich
mach nur schnell Kaffee und ein paar belegte Brötchen – oder möchten
Sie lieber Kuchen? Dann müsste ich aber noch mal schnell zum Bäcker.
Ich hab zwar schon Torte geholt, aber die sieht so zerdetscht aus,
die kann ich Ihnen nicht anbieten. Bitte, nehmen Sie doch Platz!
Darf ich Ihnen solange ein Gläschen Sekt anbieten oder ein Schnäpschen
vielleicht? Ach, Sie müssen ja noch fahren – na dann vielleicht
ein Glas Saft, oder lieber Tee? Ich kann Ihnen auch Tee machen!
Nehmen Sie doch den Sessel, der ist bequemer. Und entschuldigen
Sie, dass noch nicht alles aufgeräumt ist – ich dachte ja nicht
… – aber jedenfalls schön dass Sie da sind!“ Und dann sitze ich
erst mal ziemlich lange allein im Wohnzimmer herum, bis meine Gastgeberin
all ihren echten und vermeintlichen Pflichten Genüge getan hat.
Dabei hätte es mir doch völlig gereicht, mich in aller Ruhe mit
ihr zu unterhalten. Dazu bleibt dann womöglich gar keine Zeit mehr
– erst recht, wenn zwischendurch noch fünf Gratulanten am Telefon
sind.

Wahrscheinlich
haben Sie ähnliche Situationen auch schon erlebt, entweder als Gast
oder als Gastgeber. Jetzt stellen Sie sich vor, da käme jemand nicht
nur für ein halbes Stündchen am Vormittag, sondern als Übernachtungsbesuch,
und er käme nicht allein, sondern brächte noch ein rundes Dutzend
Freunde mit. Dann können Sie sich ungefähr vorstellen, wie es zuging,
als Jesus mit seinen Jüngern bei Maria und Marta einfiel. Bei Lukas,
in Kapitel 10, können wir es nachlesen:

Als sie aber
weiter zogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen
Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß
Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede
zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und
sie trat hinzu und sprach: „Herr, fragst du nicht danach, dass mich
meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir
helfen soll!“ Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: „Marta,
Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat
das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Nach dem, was
ich eben erzählt habe, kann ich Marta bestens verstehen, und Sie
wahrscheinlich auch. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten Besuch zu
Hause, und an mir bliebe die ganze Arbeit hängen, während meine
Frau gemütlich bei den Gästen sitzt, dann fände ich das auch nicht
so klasse. Aber auf der anderen Seite kann ich auch Maria verstehen:
Man hat ja schließlich nicht alle Tage Jesus zu Gast – da möchte
man natürlich auch hören, was er zu sagen hat! Und ich kann verstehen,
dass Jesus Maria gegenüber Marta in Schutz nimmt. Denn schließlich
hat er mal gesagt, dass er nicht gekommen ist, um sich bedienen
zu lassen, sondern um zu dienen. Und er möchte, dass möglichst viele
etwas von seiner Botschaft mitbekommen, und zwar nicht nur die Männer,
wie es damals üblich war, sondern auch die Frauen.

Jesus will allerdings
mit seiner Antwort nicht sagen: Das, was Marta tut, ist weniger
wertvoll. Er will auch nicht sagen, dass Maria die emanzipiertere
Frau ist, weil sie mit den Männern dem Rabbi Jesus zu Füßen sitzt.
Marta ist nämlich keineswegs nur das Heimchen am Herd, sondern sie
ist die Gastgeberin: ihr gehört offenbar das Haus, in das sie Jesus
aufnimmt. Und Gastgeberinnen und Hausbesitzerinnen
waren damals genauso ungewöhnlich wie Schülerinnen eines Rabbi.
Also: nicht, was Marta tut, ist falsch, sondern sie tut es zum falschen
Zeitpunkt. Vor lauter Geschäftigkeit verpasst sie das, was Jesus
auch ihr zu sagen hätte. Sie hat ihn zu Gast und hat doch nichts
davon.

Nun hätte uns
Lukas diese Geschichte wohl nicht überliefert, wenn es für ihn nur
eine nette Begebenheit aus dem Leben Jesu gewesen wäre. Ich denke,
dass er den christlichen Gemeinden seiner Zeit damit etwas sagen
wollte. Denn ein paar Stichworte weisen darauf hin, dass er das
Gemeindeleben seiner Gegenwart mit im Blick hat. Für das „Dienen“
der Marta verwendet Lukas das Wort diakoniva. Wenn Sie dabei
an unser Wort Diakonie denken, dann liegen Sie völlig richtig. diakoniva
war schon zu Lukas’ Zeiten der Fachausdruck für alles, was in den
christlichen Gemeinden an tätiger Nächstenliebe geschah: Arme speisen,
Kranke pflegen, Einsame besuchen, für das äußere Wohl der Gemeinde
sorgen und so weiter und so fort. Und für die „Rede“ Jesu, der Maria
zuhört, verwendet Lukas das Wort lovgoj, und das wird oft
für das Wort Gottes gebraucht. Maria hört also auf das Wort
Gottes, das Jesus verkündigt, während Marta mit vielfältigen diakonischen
Aufgaben beschäftigt ist.

So betrachtet,
gewinnen der Protest Martas und die Antwort Jesu noch eine ganz
neue Dimension. Dann geht es hier um die Frage: Was ist wichtiger
für die Kirche, dass sie Gottes Wort hört oder dass sie sich um
die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen? Eine Frage, die heute
genauso aktuell ist wie damals.

Für Marta und
für alle, die so denken wie sie, ist die Antwort klar: Sie sehen
die viele Arbeit, sie sehen die vielen Menschen mit ihren vielfältigen
Nöten, und sie denken nur noch: helfen! Helfen, so gut es geht und
so viel es geht. Nächstenliebe – das ist es doch, was das Christentum
ausmacht, und das ist es auch, was die Leute von uns Christen erwarten.
Wenn die Kirchen Gutes tun, genießen sie immer noch hohes Ansehen.
Und welcher Christenmensch könnte auch tatenlos zuschauen oder nicht
zumindest ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er all das menschliche
Elend sieht – hier bei uns und überall auf der Welt. Also: Diakonie,
Nächstenliebe, soziales Engagement – das muss sein. Stillsitzen
und Jesus zuhören, das können wir immer noch, wenn alles getan ist,
was in unserer Macht steht. Aber wann ist jemals alles getan?

Auch für Jesus
ist die Antwort klar. Doch er vertritt nicht einfach die entgegen
gesetzte Position. Er sagt nicht: „Es ist wichtig, dass ihr mir
zuhört, und alles andere ist unnötige Betriebsamkeit.“ Er stellt
nur einfach fest: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Das ist
so, und das ist auch nicht falsch. Schließlich hat Jesus selbst
betont: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und er hat nicht
hinzugefügt: „Aber nur, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht!“ Nein,
es darf uns ruhig etwas kosten, für unsere Mitmenschen da zu sein,
und zwar nicht nur Geld. Aber Sorge und Mühe ist nicht alles. Und
vor allem ist Diakonie nicht das entscheidende Kriterium,
das uns zu Nachfolgern Jesu macht. Sie ist nicht das Eine, das wirklich
not tut. Dieses Eine ist das, was Maria macht: Jesus zuhören und
durch ihn auf Gott hören.

Nun könnte man
natürlich fragen: Weshalb ist das so wichtig? Warum lange reden
und zuhören, wenn ich doch weiß, wo Not am Mann ist und was getan
werden muss? Vielleicht macht es ein schlichter Vergleich deutlich:
Wenn ich mein Auto anlasse, die Bremse löse und aufs Gas trete,
dann fährt es los. Und es fährt und fährt, fünf- sechshundert Kilometer
weit, wenn es sein muss, auch auf vollen Touren. Aber irgendwann
bleibt die Kiste stehen, und alles Gasgeben bringt sie nicht wieder
zum Laufen – es sei denn, ich hab rechtzeitig getankt.

So ähnlich ist
es auch mit unserem Christenleben: Unser Glaube, unser Vertrauen
auf Gott ist die Triebkraft für unser Handeln. Und diese Triebkraft
erneuert sich genauso wenig von selbst wie das Benzin im Tank. Glaube
kommt aus dem Hören auf Gott. Und wenn wir wirklich aus unserem
Glauben heraus handeln wollen, dann müssen wir uns von Gott immer
neu füllen lassen. Sonst laufen wir eines Tages leer. Wir funktionieren
dann vielleicht noch und machen uns immer noch viel Sorge und Mühe,
aber es kommt nichts mehr dabei heraus. Wir ziehen dann keinen Gewinn
mehr aus dem, was wir tun, und irgendwann brechen wir entweder zusammen
oder geben es auf.

Allmählich hat
sich das herum gesprochen in unserer betriebsamen, aber oft so lieb-
und lustlosen Kirche. Und deshalb fragen heute wieder mehr Christinnen
und Christen nach dem guten Teil, das Maria erwählt hat. Man nennt
es heute meistens nicht mehr Hören auf Gott oder auf Jesus sondern
„Spiritualität“ – klingt irgendwie moderner. Aber gemeint ist damit
im Grunde das Gleiche. Gemeint sind Möglichkeiten, wie man Gott
begegnen und sich bei ihm neue Kraft holen kann. Gelegenheiten,
bei denen man mal nicht für andere da sein muss, sondern einfach
sich selbst und dem eigenen Glauben etwas Gutes tun kann. Solche
Gelegenheiten gibt es öfter, als wir denken. Zum Beispiel jetzt,
wo wir gemeinsam Gottesdienst feiern. Der Gottesdienst bietet uns
eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, aufzuatmen und uns dafür offen
zu halten, dass Gott zu uns spricht – vielleicht durch die Predigt,
vielleicht durch das Abendmahl, vielleicht durch einen Moment der
Stille, vielleicht auch durch die Begegnung mit anderen Christinnen
und Christen. Aber es gibt auch andere Gelegenheiten, wo man Gott
begegnen kann – besondere und alltägliche. Gelegenheiten, bei denen
Gott uns ins Herz sieht und alles, was vor Augen ist, gleichgültig
wird, so wie es Sophias Taufspruch sagt. Ich denke, wir müssen jeder
selbst herausfinden, bei welchen Gelegenheiten wir Gottes
Nähe besonders spüren, was uns für unseren Glauben besonders gut
tut. Entscheidend ist nur, dass unser Glaube solche Möglichkeiten
zum Auftanken hat. Sonst geht er ein, oder er geht in hektischer
Aktivität unter. Wohl uns, wenn Gott es mit uns so weit nicht kommen
lässt. Wohl uns, wenn uns das „gute Teil“ niemand wegnimmt, auch
wir selber nicht.

Amen.