Predigt vom 20.11.2011 (EWIGKEITSSONNTAG)

GOTTESDIENST FÜR DEN EWIGKEITSSONNTAG

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
20.11. 2011
Text: Joh 11,1.3-7a.11b-15.17.19-34.38b-45

Es lag aber
einer krank, Lazarus aus Bethanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester
Marta. Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen:
„Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.“

Als Jesus das
hörte, sprach er: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur
Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht
werde.“

Jesus aber
hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte,
dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war;
danach spricht er zu seinen Jüngern: „Lazarus, unser Freund, schläft,
aber ich gehe hin, ihn aufzuwecken.“

Da sprachen
seine Jünger: „Herr, wenn er schläft, wird’s besser mit ihm.“

Jesus aber
sprach von seinem Tode; sie meinten aber, er rede vom leiblichen
Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: „Lazarus ist gestorben;
und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin,
damit ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen!“

Als Jesus kam,
fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Und viele Juden
waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders.
Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria
aber blieb daheim sitzen.

Da sprach Marta
zu Jesus: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir
Gott geben.“

Jesus spricht
zu ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“

Marta spricht
zu ihm: „Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung
am Jüngsten Tage.“

Jesus spricht
zu ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt,
der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt
an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“

Sie spricht
zu ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn
Gottes, der in die Welt gekommen ist.“

Und als sie
das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich
und sprach zu ihr: „Der Meister ist da und ruft dich.“

Als Maria das
hörte, stand sie eilend auf und kam zu ihm. Jesus aber war noch
nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta
begegnet war.

Als die Juden,
die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria
eilend aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten:
„Sie geht zum Grab, um dort zu weinen.“

Als nun Maria
dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und
sprach zu ihm: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht
gestorben.“

Als Jesus sah,
wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen
waren, wurde er zornig er im Geist und sprach: „Wo habt ihr ihn
hingelegt?“

Sie antworteten
ihm: „Herr, komm und sieh es!“

Und Jesus kam
zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag darauf. Jesus
sprach: „Hebt den Stein weg!“

Spricht zu
ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: „Herr, er stinkt schon;
denn er liegt seit vier Tagen.“

Jesus spricht
zu ihr: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die
Herrlichkeit Gottes sehen?“

Da hoben sie
den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: „Vater,
ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich weiß, dass du mich
allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage
ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.“

Als er das
gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: „Lazarus, komm heraus!“

Und der Verstorbene
kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein
Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen:
„Löst die Binden und lasst ihn gehen!“

Viele nun von
den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat,
glaubten an ihn.

Wenn er doch nur
früher gekommen wäre! Er hatte so viele Kranke geheilt. Er hätte
bestimmt auch Lazarus retten können. Aber nun war es zu spät. Volle
ganze vier Tage zu spät. Die Beerdigung war längst vorüber, das
Grab verschlossen und versiegelt. Zu Hause rüsteten die Trauergäste
zum Aufbruch. Und schon war die Angst da vor der Leere, die sie
hinterlassen würden – der äußeren und der inneren. Vier Tage! Hätte
er sich nicht wenigstens ein bisschen mehr beeilen können? Es ging
doch um Lazarus, seinen Freund, ihren Bruder! So weit war es doch
gar nicht vom Ostjordanland nach Bethanien. Diese Gedanken schossen
Marta durch den Kopf, während sie durch das Dorf lief, Jesus entgegen.

Aber nein, sagte
sich Marta nach kurzer Pause, es war ungerecht, was sie da dachte.
Eigentlich konnte Jesus ja gar nichts dafür. In Wirklichkeit war
alles ihre Schuld! Maria hatte gleich gesagt: „Schick doch jemanden
zu Jesus!“ Aber sie hatte nicht auf ihre Schwester gehört. „Bist
du verrückt?“ hatte sie gesagt. „Weißt du nicht mehr, dass sie ihn
fast gesteinigt hätten, als er zuletzt hier in Judäa war? Beim nächsten
Mal bringen sie ihn um! Und außerdem: so ernst wird es schon nicht
sein.“ Es war ernst. Aber Marta hatte es nicht wahrhaben wollen.
Sie kannte sich aus, sie hatte schon viele Kranke gesund gepflegt
– sie würde es auch bei Lazarus schaffen. Aber was sie auch tat
und versuchte, es war trotzdem immer schlimmer geworden. Erst als
sie mit ihrer Heilkunst ganz am Ende war, hatte sie Maria nachgegeben
und jemand zu Jesus geschickt. Aber da hatte Lazarus schon kaum
noch atmen können. Ein paar Stunden später war er tot gewesen. Jesus
hätte gar nicht mehr rechtzeitig da sein können. Und das war ganz
allein ihre Schuld!

Wie Maria sie
angesehen hatte mit ihren verweinten Augen – eben, als jemand die
Nachricht brachte, dass Jesus vor dem Dorf sei. Ein einziger stummer
Vorwurf: Siehst du, Jesus kommt. Trotz aller Gefahr. Er hätte längst
hier sein können, aber du wusstest ja mal wieder alles besser! Bis
du zugibst, dass du was nicht selber schaffst, ist alles zu spät!
Aber Marta hatte gar keine vorwurfsvollen Blicke nötig. Sie machte
sich diese Vorwürfe ja längst selber! Sie konnte an nichts anderes
mehr denken. Sie wusste nicht, wie ihr Leben weitergehen sollte
– ohne Lazarus und dazu noch mit dem Gefühl, dass sie mit schuld
war an seinem Tod. Als sie gehört hatte, dass Jesus kommt, hatte
sie nichts mehr im Haus gehalten. Sie musste zuerst mit ihm sprechen,
allein, ihr Herz vor ihm ausschütten. Er würde sie verstehen. Und
er würde ihr helfen.

Vor dem Dorf traf
sie Jesus. Sie umarmten sich stumm zur Begrüßung. Doch schon bald
brach Marta das Schweigen: „Wenn du hier gewesen wärst, wäre mein
Bruder nicht gestorben.“ Das klang zwar wie ein Vorwurf. Aber in
Wirklichkeit war es das Eingeständnis, dass sie versagt hatte. Und
dann fügte sie noch hinzu: „Aber auch jetzt weiß ich: Was du Gott
bittest, das wird er dir geben.“ Sie wusste selbst nicht so recht,
was sie eigentlich von Jesus erwartete. Dass er Lazarus von den
Toten auferwecken würde? Sie hatte davon gehört, dass er oben in
Galiläa mal ein zwölfjähriges Mädchen wieder lebendig gemacht hatte.
Aber das Mädchen war gerade erst gestorben gewesen. Lazarus war
schon vier Tage tot. Er lag in seinem Grab, und sein Körper verfiel.
Da konnte selbst Jesus nichts mehr machen, und Marta wagte es nicht,
darauf zu hoffen. Aber vielleicht konnte er ihr zeigen, wie es weitergehen
sollte. Vielleicht konnte er ihr die Schuldgefühle nehmen. Vielleicht
konnte er dafür sorgen, dass sie ihrer Schwester Maria wieder in
die Augen sehen konnte. Sonst würde ihr Zusammenleben in Zukunft
unerträglich sein.

„Dein Bruder wird
auferstehen“, sagte Jesus. Marta war enttäuscht über diese Antwort.
„Ja, ich weiß“, entgegnete sie. „Bei der Totenauferstehung am Jüngsten
Tag!“ Das hatte der Rabbi bei der Beerdigung auch gesagt. Und sie
glaubte ja auch daran. Aber von Jesus hatte sie mehr erwartet. Keine
Vertröstung auf später, sondern Trost und Hilfe hier und jetzt.

Jesus schien sie
verstanden zu haben. Er sah sie fest an und sagte: „Ich bin die
Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben,
auch wenn er stirbt; und jeder der lebt und an mich glaubt, wird
nicht sterben in Ewigkeit. Glaubst du das?“ Marta musste erst einmal
kräftig schlucken. Das war allerdings eine ganz andere Antwort,
als der Rabbi sie je hätte geben können. Aber es war auch eine ganz
andere Antwort, als sie erwartet und erhofft hatte. Konnte denn
irgendein Mensch so etwas behaupten? „Ich bin die Auferstehung und
das Leben“ – das konnte doch nur Gott von sich sagen! Nur Gott konnte
Leben schaffen. Er hatte die Welt aus dem Nichts ins Dasein gerufen,
er konnte auch Tote aus dem Nichts wie-der lebendig machen. Jesus,
ihr Freund Jesus, den sie so gut zu kennen glaubte, erschien ihr
plötzlich ganz fremd. Plötzlich verstand sie, warum die Priester
und Ältesten in Jerusalem Jesus hassten. Wer so redete und auch
so auftrat, der war entweder ein gefährlicher Irrer oder ein Gotteslästerer.
Als fromme Juden konnten sie gar nicht anders urteilen. Und sie?
Sie war doch auch eine fromme Jüdin. Trotz-dem konnte sie nicht
glauben, dass Jesus verrückt oder ein Gotteslästerer war. Dafür
hatte sie zu viel mit ihm erlebt. Sie hatte gehört, wie er von Gott
redete, sie hatte gespürt, wie Gott ihr nahe war, wenn er sprach,
sie hatte gesehen, wie Menschen durch ihn gesund geworden waren,
und nicht zuletzt hatten sie und ihre Geschwister ihn zum Freund
gewonnen – gerade sie, die unverheiratet war und keine Kinder hatte
und die deshalb von allen schief angesehen wurde. Nein, wer so redete
und handelte wie Jesus, der konnte nicht gegen Gott stehen, der
musste von Gott gesandt sein. Ja noch mehr: in dem musste Gott selbst
gegenwärtig sein. Und deshalb sagte sie: „Ja, Herr, ich glaube,
dass du der Gesalbte bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Jesus war nicht
nur ein guter Mensch und ein guter Freund. Das war ihr jetzt aufgegangen.
Bei Jesus war Gott zu finden. Und deshalb war bei ihm auch das Leben
zu finden, das Gott schenkt. Das Leben, das sie brauchte. Leben
trotz der Trauer um ihren Bruder. Leben trotz aller Schuldgefühle
gegenüber ihrer Schwester. Leben trotz allem Versagen und Scheitern.
Leben trotz der Grenzen, die der Tod zieht. Erfülltes, ewiges Leben
– schon hier und jetzt, nicht erst am jüngsten Tag. Zum ersten Mal
seit Tagen konnte sie befreit aufatmen. Allein ging sie zurück ins
Dorf. Sie wollte Maria holen – auch sie sollte erfahren, was ihr
da gerade aufgegangen war. Aber vielleicht würde es für sie gar
nicht so neu sein. Marta hatte schon immer den Eindruck gehabt,
dass ihre Schwester Jesus mit anderen Augen sah als sie selber.

Was Jesus dann
tat, war natürlich unglaublich. Er ging zum Grab, ließ es öffnen
und holte tatsächlich den schon verwesenden Leichnam des Lazarus
ins Leben zurück. In ihren kühnsten Träumen hätte Marta sich das
nicht ausmalen können. Ein gewaltiges Zeichen dafür, dass es stimmte,
was er gesagt hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Alle,
die es miterlebt hatten, waren mächtig beeindruckt. Aber Marta hätte
diesen Beweis nicht mehr gebraucht. Das Leben, das bei Jesus zu
finden war und das er ihr zugesprochen hatte, das hätte ihr niemand
mehr nehmen können, auch wenn Lazarus tot geblieben wäre. Jesu Wort
hätte sie getragen und ihr geholfen, ihre Trauer und ihre Schuldgefühle
zu überwinden. Lazarus würde wieder sterben, früher oder später,
auch Maria und sie selbst würden sterben. Aber das Leben, das sie
in ihrem Glauben an Jesus Christus gefunden hatte, das würde bleiben
– jetzt und in der Stunde ihres Todes.

AMEN

 

Predigt vom 16.11.2011 (Buß- und Bettag)

 

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST
ZUM BUß- UND BETTAG

Talkirche, 16.11. 2011
Thema:
Psalm 42/43 – Sehnsucht nach Leben

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,

so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.
Meine Seele dürstet
nach Gott,
nach dem lebendigen Gott.
Wann darf ich kommen

und Gottes Antlitz schauen?
Tränen waren mein Brot
bei
Tag und bei Nacht;
denn man sagt zu mir den ganzen Tag:
«Wo
ist nun dein Gott?»
Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke:

wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar,
mit
Jubel und Dank in feiernder Menge.
MEINE SEELE, WARUM BIST DU
BETRÜBT
UND BIST SO UNRUHIG IN MIR?
HARRE AUF GOTT; DENN
ICH WERDE IHM NOCH DANKEN,
MEINEM GOTT UND RETTER, AUF DEN ICH
SCHAUE.

Betrübt ist meine Seele in mir,
darum
denke ich an dich im Jordanland,
am Hermon, am Mizar-Berg.
Flut
ruft der Flut zu beim Tosen deiner Wasser,
all deine Wellen
und Wogen gehen über mich hin.
Bei Tag schenke der Herr seine
Huld;
ich singe ihm nachts
und flehe zum Gott meines Lebens.

Ich sage zu Gott, meinem Fels:
«Warum hast du mich vergessen?

Warum muss ich trauernd umhergehen,
von meinem Feind bedrängt?»

Wie ein Stechen in meinen Gliedern
ist für mich der
Hohn der Bedränger;
denn sie rufen mir ständig zu:
«Wo ist
nun dein Gott?»
MEINE SEELE, WARUM BIST DU BETRÜBT
UND BIST
SO UNRUHIG IN MIR?
HARRE AUF GOTT; DENN ICH WERDE IHM NOCH DANKEN,

MEINEM GOTT UND RETTER, AUF DEN ICH SCHAUE.

Verschaff mir Recht, o Gott,
und führe
meine Sache gegen ein treuloses Volk!
Rette mich vor bösen und
tückischen Menschen!
Denn du bist mein starker Gott.
Warum
hast Du mich verstoßen?
Warum muss ich trauernd umhergehen,

von meinem Feind bedrängt?
Sende dein Licht und deine Wahrheit,

damit sie mich leiten;
sie sollen mich führen zu deinem
heiligen Berg
und zu deiner Wohnung.
So will ich zum Altar
Gottes treten,
zum Gott meiner Freude.
Jauchzend will ich
dich auf der Harfe loben,
Gott, mein Gott.
MEINE SEELE,
WARUM BIST DU BETRÜBT
UND BIST SO UNRUHIG IN MIR?
HARRE
AUF GOTT; DENN ICH WERDE IHM NOCH DANKEN,
MEINEM GOTT UND RETTER,
AUF DEN ICH SCHAUE.

„Wie der Hirsch
schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“
So lautet der erste Vers von Psalm 42 in der wunderschönen Motette,
die Felix-Mendelssohn-Bartholdy darüber geschrieben hat. Wer will
und Zeit hat, kann sie nächsten Sonntag in der Wenschtkirche hören,
gesungen von unserem Kirchenchor. Aber auch ohne Mendelssohns Musik
ist es leicht, zu diesen Worten ein Bild vor Augen zu haben: Ein
ausgetrocknetes Bachbett, über dem die sommerliche Hitze flirrt,
eine Hirschkuh, die zwischen den Steinen vergebens nach ein paar
letzten Tropfen Wasser sucht. Jeder, der mal echten Durst hatte,
weiß, wie ihr zumute ist. Und jeder kann sich dann auch den Seelenzustand
vorstellen, der diesem Bild entspricht: eine Seele, fern von Gott,
weit weg von ihrer Lebensquelle, betrübt und unruhig durch äußere
Belastungen und innere Ängste, auf der Suche nach Halt, nach Auswegen,
nach Gottes Nähe, und das mit versiegenden Kräften.

Auch andere Bilder
des Psalms sprechen uns unmittelbar an: „Tränen waren mein Brot
bei Tag und bei Nacht“, heißt es da. Und wer kennt sie nicht, die
Zeiten, wo einem Hunger und Appetit vergehen, wo man nur noch heulen
möchte und sich nicht vorstellen kann, jemals wieder froh zu werden?
„Alle deine Wellen und Wogen gehen über mich hin.“ – Wer kennt sie
nicht, die Zeiten, wo das Unglück von allen Seiten über uns hereinbricht,
wo wir von einer Katastrophe in die nächste geworfen werden und
im Chaos zu versinken drohen? „Wie ein Stechen“ – Luther übersetzt
durchaus wörtlich: „wie Mord in meinen Gliedern ist für mich der
Hohn der Bedränger.“ – Wer kennt sie nicht, die Momente, wo sich
alles und jeder gegen uns verschworen hat, wo man uns verleumdet,
gegen uns stichelt, Mordan-schläge an unserem guten Ruf verübt,
ohne dass wir uns wehren können? „Man sagt zu mir den ganzen Tag:
Wo ist denn nun dein Gott?“ – Wer kennt sie nicht, diese bohrenden
Fragen, die wir uns ja oft genug selber stellen? Wer kennt sie nicht,
die Situationen, wo unser Schicksal uns und anderen wieder mal zu
beweisen scheint, dass es sinnlos ist, an Gott zu glauben und ihm
zu vertrauen?

Die Auslöser solcher
Erfahrungen können vielfältig sein, das wissen wir alle. Und deshalb
ist es müßig, darüber zu rätseln, welche Not den Beter dieses Psalms
konkret getroffen hat. Die Ausleger haben dabei schon auf verschiedenste
Krankheiten getippt, auf falsche An-klagen, Verbannung und Verfolgung
und manches mehr. Aber hier spricht ja keiner, der einem Arzt seine
Symptome schildert oder einem Anwalt seine Unschuld beweisen will,
sondern hier spricht einer mit Gott, und er tut es so, dass andere
sein Gebet mitsprechen und es sich zu eigen machen können – so wie
es viele, viele jüdische und christliche Beter seitdem getan haben.

Eins wird allerdings
ganz deutlich, und das mag uns an diesem Psalm nun doch fremd vorkommen:
Was den Beter am allerschlimmsten trifft, das sind weder körperliche
Gebrechen noch üble Nachrede seiner Feinde. Am allerschlimmsten
ist für ihn vielmehr der Ort, an dem er sich befindet. Nur hier
wird der Psalm wirklich konkret, so konkret wie kaum ein anderer.
Er spricht sein Gebet „im Jordanland, am Hermon, am Berg Miz’ar“.
Und damit kann nur das Quellgebiet des Jordan an den Hängen des
Hermongebirges gemeint sein, ein Landstrich, der heute zwischen
Israel, dem Libanon und Syrien liegt. Eine schöne und vor allem
wasserreiche Gegend, weshalb sie heute noch politisch heiß umkämpft
ist. Aber der Psalmist hat keinen Blick für romantische Landschaften,
und er hat erst recht keinen Sinn für natürliche Ressourcen und
strategische Bedeutung. Ihn beschäftigt nur eins: Diese Gegend ist
weit weg von Jerusalem, vom Tempel des HERRN, und er ist – aus welchen
Gründen auch immer – nicht in der Lage, dorthin zurückzukehren.
Und genau daran liegt es letzten En-des, dass seine Seele am Verdursten
ist. Er erinnert sich an festliche Gottesdienste, an feierliche
Einzüge, an Menschenmengen, die die Vorhöfe füllen und wie aus einem
Mund Gott loben und preisen, und diese Erinnerungen tun weh, eben
weil sie bloß Erinnerungen sind. Dort, im Tempel, dem Wohnsitz Gottes
auf Erden, dort hat er sich Gott nahe gefühlt, konnte vor seinen
Altar treten, sein Antlitz schauen, ihm Lieder singen. Dort war
er zu Hause, hier, in der Fremde, vergeht er vor Heimweh.

Können wir das
nachempfinden? Können wir verstehen, dass sich für einen Menschen
die Nähe Gottes so sehr an einem bestimmten Ort festmacht? Es fällt
uns wahrscheinlich schwer. Denn wir stellen uns Gott eher so vor,
dass er überall ist und sich nicht einen bestimmten Ort auf Erden
zur Wohnung erwählt. Aber heißt das wirklich, wie ich es immer wieder
höre, dass ich Gott auch überall finden kann? Auch im Wald? Auch
im stillen Kämmerlein? Auch in mir selber? Für mein Empfinden antworten
wir auf solche Fragen oft zu schnell mit Ja. Denn es ist zwar so:
Gott begegnet uns Christen nicht an einem bestimmten Ort. Wohl aber
begegnet er uns in einer bestimmten Person: in Jesus Christus, in
dem Gott selber Mensch geworden ist. Und er hat uns verheißen, dass
er uns vor allem dort begegnen will, wo Menschen sich im Namen Jesu
Christi versammeln, auch wenn es nur zwei oder drei sind.

Ist uns das eigentlich
noch etwas wert? Rechnen wir noch damit, dass uns Gott in Christus
zuerst und vor allem im Gottesdienst, in der Gemeinschaft der Glaubenden
begegnen will? Oder sagen wir wie so viele: „Ach, der Gottesdienst,
der ist mir viel zu früh oder viel zu spät, viel zu altmodisch oder
viel zu modern, viel zu langweilig oder viel zu unruhig. Ab und
zu, wenn mir danach ist, geh ich ja mal hin, so wie heute zum Beispiel,
aber ansonsten kann ich doch auch zu Hause beten, und ein besserer
Mensch wird man auch nicht davon, dass man ständig in die Kirche
rennt.“ Bei uns Evangelischen hat diese Einstellung schon eine lange
Tradition, aber ich habe den Ein-druck, dass sie auch bei katholischen
Menschen immer häufiger an-zutreffen ist. Doch ich glaube, wir sollten
diese Einstellung, wenn wir sie denn haben, noch mal überdenken.

Denn es ist zwar
richtig: Ich kann auch zu Hause beten und in der Bibel lesen, ich
kann auch für mich allein Lieder singen, wenn auch mit Abstrichen,
und Gutes tun kann ich natürlich erst recht jederzeit und überall.
Aber erstens: Wer tut das denn auch wirklich und redet nicht nur
so? Und zweitens: Wenn wir wirklich an Jesus Christus glauben und
nicht nur irgendwie an Gott, dann fehlt uns etwas ohne die Gemeinschaft
der Glaubenden. Dann entgeht uns Entscheidendes, wenn wir nicht
gemeinsam mit anderen singen, beten, Gott loben, auf ihn hören und
das Mahl des Herrn feiern. Auch der Psalmist betet ja in der Fremde,
auch er bleibt mit Gott in Beziehung und gibt sein Gottvertrauen
nicht auf. Aber er leidet unter seiner Ferne vom gemeinsamen Gottesdienst,
und er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass dieser Zustand endlich
ein Ende nimmt. Manchmal stoße ich auf alte oder kranke Menschen,
die sonst treue Kirchgänger waren und denen es ähnlich ergeht. Aber
das ist doch eher selten.

Deshalb würde
ich mir wünschen, dass wir das aus diesem Gottes-dienst mitnehmen:
Wer nur für sich alleine glaubt, dessen Seele droht zu vertrocknen,
der schneidet sich von der wichtigsten Quelle ab, die unserem Glauben
Nahrung gibt. Glaube ohne Glaubensgemeinschaft ist ein Schrumpfglaube.
Man muss sich nicht wundern, wenn er sich eines Tages verflüchtigt.
Natürlich gibt es diese Gemeinschaft in vielen verschiedenen Formen
und Größen. Und natürlich ist Gott nicht automatisch da, wenn wir
Gottesdienst feiern, und erst recht nicht, wenn wir ihm eine Kirche
bauen. Aber er hat es uns verheißen, und wir dürfen ihn beim Wort
nehmen. Deshalb sage ich mal einfach: Es sollte für Christen, und
zwar nicht nur für katholische, selbstverständlich sein, sonntags
zum Gottesdienst zu gehen. Es sollte auch allen, die Gottesdienste
vorbereiten und durchführen, klar sein, dass das ihre wichtigste
und vornehmste Aufgabe ist und dass sie deshalb alles dafür tun
sollten, um sie einladend, lebendig und glaubensfördernd zu gestalten.
Und es sollte allen Kirchenoberen selbstverständlich sein, dass
es für die Ökumene kein wichtigeres und höheres Ziel gibt, als dass
endlich Christen aller Konfessionen ohne jede Einschränkung miteinander
Gottesdienst feiern können. Was wäre das für eine Labsal für unsere
dürstenden Seelen, was wäre das für ein Zeichen für die Menschen,
die den Kirchen enttäuscht oder gleichgültig den Rücken kehren,
wenn die Talkirche heute bis auf den letzten Platz gefüllt wäre
und wenn Evangelische und Katholische miteinander in versöhnter
Verschiedenheit an den Tisch des Herrn treten könnten!

Nur ein Traum?
Vielleicht. Aber einer, den es sich zu träumen lohnt. So wie der
Traum des Psalmbeters der sich im Geiste schon wieder vor dem Altar
des Tempels stehen sieht, die Harfe griffbereit, um seinen Gott
zu loben und zu preisen. Daran wird er sich aufrichten, daran wird
er festhalten, und wenn er seinen Kehrvers noch hundert- oder tausendmal
wiederholen muss: „Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so
unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken,
meinem Gott und Retter, auf den ich schaue.“

Amen.

 

Predigt vom 23.10.2011

 

GOTTESDIENST

FÜR DEN ACHTZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
23.10. 2011
Text: Mk 10,17-22

Und als Jesus
sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder
und fragte ihn: „Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das
ewige Leben ererbe?“ Aber Jesus sprach zu ihm: „Was nennst du mich
gut? Niemand ist gut als Gott allein. Du kennst die Gebote: »Du
sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht
stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden
berauben; ehre Vater und Mutter.«“ Er aber sprach zu ihm: „Meister,
das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.“ Und Jesus sah
ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: „Eines fehlt dir.
Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst
du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“ Er
aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er
hatte viele Güter.

Und Jesus sah
um sich und sprach zu seinen Jüngern: „Wie schwer werden die Reichen
in das Reich Gottes kommen!“ Die Jünger aber entsetzten sich über
seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen:
„Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu kommen! Es ist leichter,
dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins
Reich Gottes komme.“ Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und
sprachen untereinander: „Wer kann dann selig werden?“ Jesus aber
sah sie an und sprach: „Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht
bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“

 

Nein, dieser Mann,
der da zu Jesus kommt, ist kein schlechter Mensch. Er hat niemanden
umgebracht, wohl noch nicht mal jemandem den Tod gewünscht. Er war
seiner Frau stets ein treuer Ehe-mann. Er ist wohlhabend, ja, aber
er hat sich nie auf Kosten anderer bereichert. Nie hat er seine
Mitmenschen verleumdet. Und seine Eltern hat er stets in Ehren gehalten
und im Alter für sie gesorgt, bis sie starben. Und wahrscheinlich
hat er auch die Gebote beachtet, die Jesus nicht zitiert: Er hat
sich immer zu dem einen Gott bekannt und es damit ernst gemeint,
keine Bilder angebetet, den Namen des HERRN nicht missbraucht und
den Ruhetag heilig gehalten. Ein durch und durch anständiger Israelit,
an dem kein Falsch ist. Und er weiß auch, dass Geld nicht alles
ist, dass er seinen Besitz nicht mitnehmen kann, wenn er einmal
sterben muss. Würde er Jesus sonst nach dem ewigen Leben fragen?

Wenn dieser reiche
Mann evangelisch wäre und heute bei uns in Geisweid wohnen würde,
wäre er bestimmt ein hoch angesehenes Mitglied unserer Kirchengemeinde.
Er ginge regelmäßig zum Gottesdienst, würde immer reichlich spenden,
säße vielleicht im Presbyterium. Und sollte er eines Tages sterben,
würden wir seiner bestimmt ehrenvoll gedenken und sagen, dass andere
Reiche sich an ihm ein Beispiel nehmen könnten.

Auch Jesus sagt
über den reichen Mann kein einziges schlechtes Wort und macht ihm
keine Vorhaltungen. Im Gegenteil: er gewinnt ihn lieb, heißt es,
und gemeint ist wahrscheinlich, dass er ihn sogar umarmt oder küsst.
Er hätte ihn gern im Kreis seiner Jünger, die ihm nachfolgen. –
Aber warum um alles in der Welt verbaut er ihm dann dermaßen den
Weg? Warum besteht er auf der einen Forderung, die der Reiche nicht
zu erfüllen bereit ist?

„Eines fehlt dir:
Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst
du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“ –
Musste das denn wirklich sein? Die reichen Frauen, die Jesus nach
Lukas finanziell unterstützt haben, durften ihren Besitz doch auch
behalten. Und beim Zöllner Zachäus ist Jesus offenbar damit zufrieden,
dass der nur die Hälfte seines Vermögens den Armen gibt. Die Christenheit
wäre früh am Ende gewesen, wenn alle, die zum Glauben kamen, sämtlichen
Besitz verkauft hätten. Denn wer hätte dem Paulus dann seine Reisen
bezahlt? Wer hätte noch ein Haus zur Verfügung stellen können, in
dem die Gemeinde sich treffen konnte? Wer hätte den Armen der nächsten
Generation noch etwas Gutes tun können? Und das setzt sich fort
bis zum heutigen Tag. Stellen Sie sich vor, die Vermögenden unserer
Gemeinde würden ihren Grundbesitz verkaufen, ihre Aktiendepots auflösen
und den ganzen Gewinn an „Brot für die Welt“ spenden – wer würde
uns dann noch ein „freiwilliges Kirchgeld“ zahlen oder das neue
Gemeindezentrum finanzieren helfen?

Also: Was fangen
wir mit dieser Geschichte an? War Jesus eben doch ein weltfremder
Revoluzzer, so ein „Occupy-Wall-Street“-Typ – vielleicht ganz sympathisch,
aber nicht wirklich ernst zu nehmen? Oder hat seine Antwort einen
Sinn, der auch uns heute weiterbringen könnte?

Ich glaube, dazu
müssen wir noch mal genauer hinschauen. Und da fällt erst einmal
die Frage auf, die der Reiche Jesus stellt: „Guter Meister, was
soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Ein frommer Jude
hätte sich über diese Frage gewundert. Wieso muss der noch nach
dem ewigen Leben fragen, wenn er doch auf vorbildliche Weise die
Gebote Gottes beachtet? Jeder Rabbi hätte dem Reichen auf seine
Frage geantwortet: „Halte dich an die Tora, an Gottes gute Weisung
für sein Volk, und du hast das ewige Leben. Mehr verlangt Gott nicht
von dir.“ Aber diese Antwort scheint dem Reichen nicht zu genügen.
Er muss wohl spüren, dass ihn trotz seines tadellosen Lebenswandels
irgendetwas von Gott trennt, dass seine Beachtung der Gebote eben
doch nicht automatisch zum ewigen Leben führt. Deshalb fragt er
Jesus. Er nennt ihn nicht nur „Meister“, Rabbi, sondern „guter Meister“,
und das ist eine ungewöhnliche Anrede. Er erwartet, dass Jesus zu
diesem Thema mehr und anderes zu sagen hat als der durchschnittliche
Toragelehrte.

Deshalb muss ihn
die erste Antwort Jesu enttäuscht haben. Denn der weist die Anrede
„guter Meister“ zurück. Er hat keinen Sonderweg zum ewigen Leben
zu bieten, sondern nur den Verweis auf Gott, den einzig Guten, und
seine Gebote. Jeder Rabbi in Israel hätte genau das Gleiche gesagt.

„Das habe ich
alles gehalten von Jugend auf“, sagt der Reiche. Jeder andere wäre
wahrscheinlich stolz darauf. Wer von uns könnte das schon im Brustton
der Überzeugung von sich sagen? Aber so wie der Reiche das sagt,
klingt es wie: „Das habe ich alles gehalten, aber ich habe das Gefühl,
es reicht nicht.“

Und jetzt gibt
Jesus ihm recht. „Ja, in der Tat“, sagt er, „eins fehlt dir. Und
deine Frage nach dem ewigen Leben zeigt mir, dass du es eigentlich
weißt, aber es dir nicht eingestehen willst: Dein Reichtum steht
dir im Weg. Er steht dir im Weg bei der Erfüllung des ersten und
wichtigsten aller Gebote, nämlich dich nur an den einen Gott, den
Gott Israels, zu halten und keine anderen Götter neben ihm zu haben.
Dein Herz ist nicht ungeteilt bei deinem Gott, sondern es hängt
mindestens genauso sehr an deinem Besitz. Mag sein – obwohl es sehr,
sehr schwer ist – , dass andere Reiche das schaffen: Gott von ganzem
Herzen, von ganzer Seele und mit allen Kräften zu lieben und ihren
Besitz als Leihgabe Gottes zu betrachten, die ihnen nicht gehört,
sondern nur zu treuen Händen überlassen ist. Aber du schaffst es
jedenfalls nicht. Du lässt dich gefangen nehmen von dem, was du
hast und bist, und deshalb verbaut dir dein Besitz den Weg zum ewigen
Leben. Also lass ihn los! Verkaufe deine irdischen Schätze und erwirb
dir dafür einen Schatz im Himmel! Und dann komm und folge mir! Nur
so wirst du frei werden und Gott ungeteilt dienen können.“

Ich denke, dass
auch diese Antwort Jesu den Reichen nicht überrascht hat. Im Stillen
wusste er sicher, dass genau das kommen würde. Es ging ihm so wie
dem Dicken, der seinen Arzt fragt, ob er ihm nicht ein paar Wunderpillen
zum Abnehmen verschreiben kann, aber im Grunde schon ahnt, was der
ihm empfehlen wird, nämlich strikte Diät und viel Bewegung. Und
so geht er traurig weg. Er schafft es nicht, seinen Besitz loszulassen,
und bestätigt damit, woran sein Herz am Ende wirklich hängt.

Immer wieder im
Lauf der Kirchengeschichte gab es Menschen, die das lasen und spürten:
damit bin ich gemeint. Mir geht es ganz genauso wie diesem armen
reichen Mann. Ich bin reich, aber ich habe keinen Schatz im Himmel.
Und einige von ihnen haben geschafft, was er nicht konnte: Sie haben
alles verkauft und den Armen gegeben und anschließend selber ein
Leben in Armut, aber im Einklang mit Gott geführt. Der heilige Antonius
gehörte dazu, der im 3. Jahr-hundert nach Christus das erste Kloster
gründete und später Einsiedler wurde. Und Franz von Assisi gehörte
dazu. Auch er wurde Mönch und fand dabei viele Weggefährten. Beide
haben nie bereut, was sie taten und zu ihrer Zeit viel zur Erneuerung
der Kirche und des Glaubens beigetragen. Aber auch das war nicht
immer so. Martin Luther ging ebenfalls diesen Weg, aber aus Angst,
nicht aus freien Stücken, bis er herausfand, dass es jedenfalls
für ihn der falsche Weg war.

Und so möge auch
jeder von uns sich heute selber prüfen: Bin ich gemeint mit dem,
was Jesus sagt? Steht auch mir etwas im Weg, wenn ich mit Gott leben
und Jesus nachfolgen will? Woran klebe ich fest und kann es nicht
loslassen? Am Geld? An Macht und Einfluss? An einer Sucht, die meine
Gesundheit ruiniert? An dem, was früher mal gut und richtig war,
aber es vielleicht nicht mehr ist? Oder kann ich guten Gewissens
sagen: Nein, mein Herz hängt nicht an vergänglichen Dingen; ich
freue mich an ihnen und danke Gott für das, was er mir schenkt,
aber ich kann es auch leichten Herzens abgeben, wenn es an der Zeit
ist?

Ich sag’s Ihnen
gleich: So ganz leichten Herzens könnte ich nicht alles aufgeben.
Es sind vor allem Menschen, aber eben doch auch Dinge, an denen
mein Herz hängt, wenn auch hoffentlich nicht ganz und gar. Insofern
bin ich auch eins von den Kamelen, die nun mal nicht durch ein Nadelöhr
passen. Und insofern könnte ich in die entsetzte Frage der Jünger
einstimmen: „Wenn das so ist, wenn Reichtum und Reich Gottes sich
so sehr gegenseitig ausschließen, wer kann dann selig werden?“ Wo
doch selbst das Herz der Armen oft am Reichtum hängt, nämlich an
dem Reichtum, den sie nicht haben!

Es bleibt mir
also nur, mich auf die letzten Worte Jesu zu berufen – nicht als
faule Ausrede, wohl aber als Trost: „Bei den Menschen ist’s unmöglich,
aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“ Nur
er kann das Bild vom Kamel und vom Nadelöhr so verändern, wie manche
Ausleger es vergebens versucht haben: Dass aus dem „Kamel“ ein dickes
Tau wird, von dem vielleicht wenigstens eine dünne Faser durch das
Nadelöhr passt, oder dass mit dem „Nadelöhr“ eine kleine Tür in
der Stadtmauer gemeint ist, durch die man mit viel Drücken und Schieben,
Ducken und Baucheinziehen das Kamel ohne Gepäck gerade noch so durchgequetscht
kriegt. Wenn ich so, ohne alles und mit knapper Not, doch noch das
ewige Leben erlange, dann will ich Gott danken und zufrieden sein.

Amen.

 

Predigt vom 18.9.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN DREIZEHNTEN
SONNTAG
NACH TRINITATIS

Pfr.
Dr. Martin Klein
Wenschtkirche, 18.9. 2011 (mit Taufe von Paul
Winkel)
Text: Mk 3,31-35

Wenn man den Umfragen
glauben darf, dann ist für uns Deutsche die Familie immer noch eins
der höchsten Güter. „Hauptsache, die Familie hält zusammen“, sagen
viele, wenn sie nicht gerade überzeugte Singles sind. Blut ist eben
dicker als Wasser, heißt es, und Familienbande sind stärker als
alle anderen. Vater, Mutter, Kind in fröhlicher Eintracht und immer
für einander da – das ist unser Ideal.

Dieses Ideal existiert
freilich nur in der Fernsehwerbung. Nicht nur, dass aus der Großfamilie
früherer Zeiten längst die Kleinfamilie geworden ist, die die Oma
nur noch ab und zu besuchen fährt. Heute werden immer mehr Kleinfamilien
zu Kleinstfamilien aus allein erziehender Mutter (oder Vater) und
Kind, zu so genannten Patchwork-Familien mit meinen Kindern, deinen
Kindern, unseren Kindern – oder zu mehr oder weniger fest liierten
Paaren, die gar keine Kinder haben. Aber auch in Familien, die äußerlich
im konservativen Sinne intakt sind, ist das Familienleben oft auf
Sparflamme reduziert. Tagsüber geht jeder für sich seiner Beschäftigung
nach – zur Arbeit, zur Schule oder zum Kindergarten, und abends
sitzt jeder vor seinem eigenen Fernseher oder Computer oder kümmert
sich um die eigenen Freunde und Hobbys. Und wenn man dann doch mal
längere Zeit miteinander verbringt – im Urlaub zum Beispiel -, dann
geht man sich entsetzlich auf die Nerven. Dabei habe ich die so
genannten „Problemfamilien“ mit ihren gewalttätigen Eltern und verwahrlosten
Kindern noch gar nicht mitgerechnet. Und obwohl sich auch in der
Politik alle immer gern familienfreundlich geben, ist die Gründung
einer Familie hierzulande eine der sichersten Methoden, um sich
finanziell zu ruinieren. Wer richtig Geld und Karriere machen will,
bleibt jedenfalls besser kinderlos. Also habe ich manchmal das Gefühl,
dass die gute, alte Vater-Mutter-Kind-Familie eine aussterbende
Lebensform ist – allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. In fünfzig
Jahren gibt’s so was vielleicht gar nicht mehr.

„Das geht doch
nicht!“ mögen Sie jetzt denken. Die Familie ist doch die Keimzelle
jeder funktionierenden Gesellschaft: Kinder brauchen ihre Eltern,
am besten beide, damit sie ihnen den Weg ins Leben zeigen; und Eltern
brauchen ihre Kinder, damit sie im Alter versorgt sind und jemand
für ihre Rente aufkommt!“ So steht es doch schon in den Zehn Geboten:
„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem
Land, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ Und in Psalm 127
heißt es: „Kinder sind eine Gabe des HERRN, und Leibesfrucht ist
ein Geschenk.“

Ich gebe Ihnen
ja Recht, wenn Sie so denken. Ich bin schließlich auch ein Familienmensch
und kann mich nur schwer damit abfinden, dass sich die Familienbande
immer mehr auflösen. Dem kleinen Paul wünsche ich, dass er das nie
erleben muss – seinen Eltern natürlich auch. Und ich bin auch immer
noch überzeugt, dass jeder Mensch eine Familie braucht. Aber so
wie die Dinge nun einmal stehen, sollten wir uns an die auch schon
biblische Erkenntnis erinnern, dass diese Familie nicht unbedingt
die leibliche Verwandtschaft sein muss. Dazu müssen wir nur den
heutigen Predigttext lesen. Er steht im Markusevangelium, in Kapitel
3:

Und es kamen
Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm
und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen
zu ihm: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern
draußen fragen nach dir.“ Und er antwortete ihnen und sprach: „Wer
ist meine Mutter und meine Brüder?“ Und er sah ringsum auf die,
die um ihn im Kreise saßen, und sprach: „Siehe, das ist meine Mutter
und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein
Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Eigentlich ist
das unerhört, was hier passiert. Da ist die Familie von Jesus den
ganzen weiten Weg von Nazareth nach Kapernaum gelaufen, über staubige
Straßen und durch Sonnenhitze, und dann lässt der sie eiskalt abblitzen.
Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren erwachsenen Sohn oder Tochter
besuchen und würden nicht einmal rein gelassen! Und als Begründung
bekämen Sie zu hören: „Meine Mutter? Mein Vater? Kenn ich nicht!
Meine Freunde hier, die sind meine Familie!“ Ich bin schon vielen
Eltern begegnet, denen es so ähnlich ergangen ist: Da hat man die
Kinder mit viel Mühe groß gezogen, und dann wollen sie plötzlich
nichts mehr von einem wissen. Ich kann sie verstehen, wenn sie darüber
verbittert sind. Aber hätten Sie so etwas von Jesus erwartet? Gilt
denn nicht auch für ihn das Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren“?

Wenn man im Markusevangelium
etwas zurückblättert, dann kann man allerdings auch Jesus verstehen.
Denn aus Mk 3,21 lässt sich entnehmen, dass die Mutter und die Geschwister
Jesus nicht nur einfach aus familiärer Verbundenheit besuchen. Dort
heißt es, dass sie sich auf den Weg machen, um Jesus nach Hause
zu holen, notfalls mit Gewalt. Denn sie glauben, dass Jesus plötzlich
völlig verrückt geworden ist und dass sie ihm erst einmal seine
Flausen austreiben müssen. Sie können es nicht fassen, dass ein
erwachsener Mann von dreißig Jahren plötzlich alles stehen und liegen
lässt, um mit zweifel-haften Freunden als Prediger durchs Land zu
ziehen. Müsste er sich als ältester Sohn nicht eigentlich um seine
Mutter kümmern, die wohl schon verwitwet ist? Auf solches Unverständnis
stoßen viele erwachsene Kinder, wenn sie einen anderen Lebensweg
einschlagen als die Familie erwartet hätte. Und auch sie kann ich
verstehen. Aber würden sie es übers Herz bringen, ihre arme, alte
Mutter einfach vor der Tür stehen zu lassen?

Jesus richtet
sich freilich nach ganz anderen Maßstäben. Familiäre Pflichten sind
ihm nicht mehr wichtig. Für ihn geht es allein darum, den Willen
Gottes zu tun. Der hat ihn ganz für sich in Anspruch genommen, als
er am Jordan getauft wurde: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich
Wohlgefallen habe.“ Und deshalb kann er jetzt nicht anders als durchs
Land zu ziehen und zu verkünden: „Kehrt um, denn das Reich Gottes
ist nahe herbeigekommen!“ Wenn die Familie das nicht akzeptieren
kann, dann muss er sich eben von ihr trennen. Aber Jesus ist dabei
nicht einsam geblieben. Viele hören ihm zu, viele lassen sich mitreißen
und spüren die Nähe Gottes, die von ihm ausgeht. Und etliche ziehen
auch mit ihm und teilen mit ihm das unstete Leben, das er führt.
Sie tun wie er den Willen Gottes, und deshalb sind sie seine wahre
Familie.

Seine Geschwister
haben das erst nach Ostern begriffen, als sie dem auferstandenen
Jesus begegneten. Bis dahin war er für sie immer nur der große Bruder,
mit dem sie aufgewachsen waren und den sie bestens zu kennen glaubten
– bis er dann plötzlich den Verstand verlor. Und auch Maria kannte
die ganzen Verheißungen noch nicht, die erst viel später mit der
Geburt Jesu verbunden wurden. Aber nach Ostern gehörten sie und
ihre Kinder auch mit zur neuen Familie Jesu – nicht der Blutsbande
wegen, sondern weil sie nun überzeugt waren, dass alles, was Jesus
tat und sagte, Gottes Wille war. Für diese Überzeugung gingen sie
nun gemeinsam durch dick und dünn, und mindestens einer seiner Brüder
ließ dafür später sogar sein Leben.

Es bleibt also
dabei: Eine Familie braucht der Mensch, aber es müssen nicht unbedingt
die leiblichen Verwandten sein. Und so hat sich die christliche
Kirche immer als „Familie Gottes“ verstanden. In der Gemeinschaft
von Christen zählt nur die Bindung an Gott durch Jesus Christus.
Alle anderen Bindungen müssen dahinter zurücktreten. Manchmal ist
Wasser also doch dicker als Blut, nämlich wenn es sich um das Wasser
der Taufe handelt. Paul ist heute in eine neue Familie aufgenommen
worden, in die große Gemeinschaft der Christen. Und auch wenn er
da nun erst noch hineinwachsen muss, kann ihn doch nichts mehr von
der Liebe Christi trennen, die diese Familie zusammenhält.

Das heißt natürlich
nicht, dass all die Winkels und Drucksens, die heute hier sind,
nun nicht mehr Pauls Familie sind. Und auch als erwachsener Christ
muss man nicht alle anderen Bindungen kappen, die einen sonst noch
mit Menschen verbinden. So läuft das in manchen Sekten, aber nicht
in der Gemeinde Jesu Christi. Doch es heißt, dass ich zu dieser
Gemeinschaft immer gehören kann, egal ob ich mit Familie oder als
Single lebe, egal, ob ich mich da, wo ich wohne, fremd oder zu Hause
fühle, egal, ob ich jung oder alt bin. Diese Gemeinschaft ist also
auch nicht abhängig davon, ob die Formen unseres Zusammenlebens
in Zukunft noch die gleichen sein werden, die wir gewohnt sind.

„Wer den
Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine
Mutter“, sagt Jesus. „Wer den Willen Gottes tut“ – das heißt
auch für uns als Familie Gottes in Klafeld und Umgebung, dass die
Gemeinschaft der Christen sich nicht für alle Zeiten auf die Menschen
beschränkt, die schon immer dabei waren. Eine Kirchengemeinde besteht
eben nicht nur aus denen, die irgendwo mitarbeiten, die regelmäßig
im Gottesdienst, in den Frauenkreisen oder in den Chören sitzen
und dabei immer wieder den gleichen Leuten begegnen. „Wer den Willen
Gottes tut“, das ist eine offene Größe. Als Jesus das sagte, waren
alle gemeint, die gerade zufällig um ihn herum saßen. Und heute
sind es mindestens alle, die getauft sind und einer christlichen
Gemeinde angehören. Oder sagen wir: sie könnten und sollten es zumindest
sein. Sie alle könnten zur Familie gehören. Eigentlich müsste uns
etwas fehlen, solange sie nicht dabei sind. Aber manchmal habe ich
den Eindruck, dass wir uns in unseren gewohnten Kreisen so wohl
fühlen, dass wir die anderen gar nicht so schrecklich vermissen.
Ich glaube, das ist gefährlich. Denn wir könnten dann eines Tages
feststellen, dass Jesus längst einen anderen Kreis um sich geschart
hat und wir plötzlich die Familie sind, die draußen steht und den
Anschluss verpasst hat. So weit sollten wir es nicht kommen lassen.
Und deshalb sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass die
Einladung Jesu allen Menschen gilt. Zu seiner Familie kann jeder
gehören. Und unsere Sache ist es, zu überlegen, wem wir diese Einladung
weitergeben könnten und wie wir das tun könnten. Dar-über wird in
unserer Gemeinde ja auch durchaus nachgedacht, und das ist gut so.
Ich wünsche uns dafür weiterhin Mut, Phantasie und gutes Gelingen
unter Gottes Segen. Und alle, die irgendwann mal getauft wurden,
aber sich bisher oder in letzter Zeit wenig aus ihren geistlichen
Familienbanden gemacht haben, die lade ich ein, zu entdecken, wie
Mut, Kraft und Trost sich daraus ziehen lässt, zur Familie Jesu
Christi zu gehören und seinen Willen zu tun.

Amen.

 

Predigt vom 28.8.2011

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZEHNTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Tal-
und Wenschtkirche, 28.8. 2011
Text: Ex 19,1-8

Am ersten Tag
des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland,
genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren
ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten
sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf
zu Gott.
Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: „So
sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich
euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet
ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt
ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist
mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges
Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“

Mose kam und
berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor,
die ihm der HERR geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig
und sprach: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun.“ Und
Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder.

Wenn man nur den
historischen Kern betrachten würde von dem, was uns hier beschrieben
wird, dann wäre das Ganze bestenfalls eine Randnotiz der Religionsgeschichte:
Irgendwann im 13. Jahrhundert vor Christi Geburt entkam eine Gruppe
von Hebräern der Sklaverei in Ägypten. Ein-, zweitausend Menschen
maximal, vielleicht auch nur ein paar Hundert. Ihr Anführer, Mose,
war im Namen eines Gottes aufgetreten, der damals nur von ein paar
Volksstämmen in Nordwestarabien verehrt wurde und von dem man glaubte,
dass er auf einem Berg namens Sinai seinen Wohnsitz habe. Diesem
Gott schrieben nun die ehemaligen Sklaven ihre Befreiung zu. Nach
der wunderbaren Rettung vor ihren Verfolgern am Schilfmeer zogen
sie deshalb zum Berg Sinai, um dem Gott Jahwe – so die wahrscheinlichste
Aussprache seines Namens – zu huldigen, ihm zu danken und ihn als
ihren Gott anzunehmen. Den Glauben an ihn nahmen sie mit zu ihren
neuen Wohnsitzen im Lande Kanaan.

Das alles wäre
vermutlich längst vergessen, wenn das, was diese Menschen erlebt
hatten, nicht eine ungeheure Wirkung entfaltet hätte: wenn sich
nicht in der Folgezeit um die ehemaligen Sklaven herum die Stämme
des Volkes Israel gesammelt hätten, wenn nicht aus dem Berggott
Jahwe der Gott Israels geworden wäre und wenn Israel nicht – viel
später erst – zu der Überzeugung gekommen wäre, dass dieser Gott
kein anderer ist als der Schöpfer der Welt, der einzige Gott, dem
die ganze Erde gehört, während alle anderen Götter nur von Menschen
gemachte Götzen sind.

Unser Predigttext
stammt aus der Zeit, wo sich diese Überzeugung schon durchgesetzt
hatte. Und so ist hier aus dem Erlebnis einiger flüchtiger Sklaven
die entscheidende Begegnung geworden zwischen dem ganzen Volk Israel
und dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Eine Begegnung,
die bis zum heutigen Tag das Herzstück des jüdischen Glaubens geblieben
ist. Eine Begegnung, die auch unser christliches Gottesbild und
auch das des Islams entscheidend geprägt hat – haben wir doch beide
einen Glauben, der jüdische Wurzeln hat.

Es lohnt sich
also, wenn wir diese Begegnung einmal näher in Augenschein nehmen.
Und der Abschnitt, der heute Predigttext ist, eignet sich dafür
besonders gut, weil er alle Äußerlichkeiten und Einzelheiten außen
vor lässt und sich auf das Wesentliche beschränkt.

Kurz gesagt: Hier
wird ein Bund geschlossen. Das ist die entscheidende Deutung, die
man in Israel später den Ereignissen am Sinai gegeben hat. Und diese
Deutung hatte große Wirkung. Von ihr her sind wir Christen es gewohnt,
das Verhältnis zwischen Gott und Israel den „Alten Bund“ zu nennen.
Von ihr her nennen wir die heilige Schrift, die diesen Bund entfaltet,
„Altes Testament“, denn testamentum ist nichts anderes als die lateinische
Übersetzung des hebräischen Wortes für „Bund“. Und wenn wir demgegenüber
das Verhältnis zwischen Gott und allen, die an Jesus Christus glauben,
den „Neuen Bund“ nennen – und das davon handelnde Buch „Neues Testament“
–, dann heißt das eigentlich gerade nicht, dass dieser neue Bund
an die Stelle des alten tritt und etwas völlig anderes ist. Sondern
es heißt, dass Gott auch uns Christen, so wie Israel immer schon,
in der Form des Bundes begegnet – nur dass dieser Bund nun in Christus
nicht mehr nur dem Volk Israel, sondern allen Menschen gilt. Wenn
wir uns also anschauen, was das für ein Bund ist, den Gott mit Israel
schließt, dann erfahren wir auch Entscheidendes über unser Verhältnis
zu Gott.

Also: Was ist
das für ein Bund, der hier geschlossen wird? Ist er so etwas wie
ein Bündnis von Staaten, die als gleichberechtigte Partner einen
Vertrag miteinander aushandeln? Ist er so etwas wie die Aufnahme
in einen exklusiven Club, derer sich der Aufzunehmende erst mal
würdig erweisen muss? Ist er eine Art Vertrag zwischen Chef und
Untergebenem: „Ich erwarte von dir, dass du dich mit der Firma identifizierst
und deine Arbeitskraft zur Verfügung stellst, und dafür zahle ich
dir den und den Lohn“? Oder ist er so etwas wie der „Bund der Ehe“,
wo zwei Menschen, die sich lieben, eine Gemeinschaft fürs Leben
bilden?

Der letzte Vergleich
kommt der Sache am nächsten, trifft es aber auch nicht ganz. Das
liegt letztlich an den Partnern, die zu diesem ganz speziellen Bund
gehören: auf der einen Seite Gott, dem die ganze Erde gehört, auf
der anderen Seite Menschen, die Gott geschaffen hat, die ihm also
auch gehören. Von gleichberechtigten oder auch nur eigenständigen
Vertragspartnern kann im Verhältnis von uns Menschen zu Gott also
gar nicht die Rede sein. Wir gehören ihm ohnehin und verdanken ihm
schlechthin alles. Wir haben ihm nichts anzubieten, was er nicht
auch ohne uns schon hätte. Wir könnten ihn durch nichts dazu bewegen,
einen Bund mit uns zu schließen, wenn er es nicht so haben wollte.

Das ist nun aber
genau der springende Punkt: Gott schließt einen Bund mit Israel
einzig und allein, weil er es will. An anderen Stellen im Alten
Testament sagt Gott es ganz deutlich: „Ich habe euch nicht zu meinem
Volk gemacht, weil ihr so wichtig und bedeutend wärt – im Gegenteil:
ihr seid das kleinste und unbedeutendste aller Völker. Ich habe
euch auch nicht zu meinem Volk gemacht, weil ihr mir so treu ergeben
seid und immer tut, was ich sage – im Gegenteil: ihr seid der halsstarrigste
und undankbarste Haufen, den man sich nur vorstellen kann. Nein,
ihr habt es nicht verdient, dass ich euer Gott bin. Wenn ich es
trotzdem bin und immer bleiben werde, wenn ich trotzdem einen unverbrüchlichen
Bund mit euch schließe, dann einzig und allein, weil ich euch lieb
habe.“

Kleine, aber bedeutsame
Zwischenbemerkung: Jetzt wird uns hoffentlich auch klar, warum uns
alles daran gelegen sein muss, dass dieser alte Bund mit Israel
auch angesichts des neuen Bundes in Christus seine Gültigkeit behalten
hat. Denn wenn Gott sein Verhältnis zu Israel wegen Ungehorsams
aufgekündigt hätte, was hätten wir dann wohl angesichts unseres
Ungehorsams zu erwarten, der wahrlich nicht kleiner ist?

Aber zurück zum
Bund vom Sinai: Gott nennt ihn „meinen Bund“. Er schließt ihn nicht
ab mit einem eigenständigen Partner, sondern er gewährt ihn – absolut
freiwillig und ungezwungen. Unter diesem Vorzeichen steht alles,
was unser Text zu diesem Bund ausführt.

Schon am Anfang
wird deutlich, dass Gott von sich aus in Vorleistung getreten ist:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich
euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Die
Befreiung aus der Sklaverei, die Rettung am Schilfmeer, die Führung
und Bewahrung bis hierher zum Sinai – all das ist allein Gottes
Werk. So wie es später auch mit der Sendung Jesu der Fall war. Wenn
wir Gott also als freie Menschen gegenübertreten können, dann deshalb,
weil er uns frei gemacht hat.

Als freie Menschen
tragen wir nun aber auch eine Verantwortung, nämlich „Gottes Stimme
zu gehorchen und seinen Bund zu halten“, also so zu leben, wie es
dem Willen Gottes entspricht. Die Zehn Gebote im nächsten Kapitel
bilden dafür eine gute Grundlage. Wohlgemerkt: Das ist nicht die
Bedingung, damit Gott den Bund mit uns eingeht, sondern es ist die
Konsequenz aus dem Bund, den Gott schon gewährt hat. Denn Gott hat
ein Ziel damit. Er möchte, dass seine Menschen „ein Königreich von
Priestern und ein heiliges Volk“ sind. Das heißt nicht, dass alle
Israeliten Priester oder alle Christen Pfarrer werden müssten, sondern
dass alle Menschen, denen Gottes Bund gilt, ganz und gar sein Eigentum
sein sollen – so wie der Heidelberger Katechismus es für uns Christen
formuliert: „dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben
nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre
… – von Herzen willig und bereit, fortan ihm zu leben.“

Das klingt nach
einem hohen und weitgesteckten Ziel, und wir fragen uns vielleicht,
wie wir es je erreichen sollen. Aber wenn wir uns klar machen, dass
wir ja schon jetzt Gottes Eigentum sind, wo ihm doch die ganze Erde
gehört, dann müssen wir eigentlich nur noch werden, was wir schon
sind – und dafür reicht die Freiheit, die Gott uns schenkt allemal
aus.

Das macht der
Schluss des Textes noch einmal deutlich. Denn man könnte ja denken,
wenn der Bund allein Gottes Sache ist, dann ist es doch völlig gleichgültig,
ob ich dazu Ja oder Nein sage, ob ich sozusagen meine Unterschrift
unter die Bundesurkunde setze oder nicht. Aber wenn es so wäre,
dann wären wir ja doch immer noch Sklaven und nicht Menschen, denen
Gott die Freiheit geschenkt hat. Deshalb ist es wichtig, dass der
Text mit der Zustimmung des Volkes schließt: Alles Volk antwortete
einmütig und sprach: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir
tun.“ Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder. Als Sklaven
hat Gott Israel aus Ägypten geführt, aber als freie Menschen sagen
sie nun Ja zu ihm und seinen guten Lebensweisungen. Und auch das
gilt im neuen Bund nicht anders als im alten: Wir sind, wie Paulus
sagt, „Sklaven der Sünde“; wir haben nicht die Freiheit, aus eigenem
Willen und eigener Kraft unsere Gottesferne zu überwinden. Aber
als Gott selber Mensch wurde, da hat er uns aus dieser Sklaverei
herausgeführt, und als freie Menschen können wir nun Ja sagen zu
ihm, wo und wann immer er uns begegnet. Und dann können wir auch
tun, was ihm gefällt.

Amen.