Predigt vom 16.11.2011 (Buß- und Bettag)

 

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST
ZUM BUß- UND BETTAG

Talkirche, 16.11. 2011
Thema:
Psalm 42/43 – Sehnsucht nach Leben

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,

so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.
Meine Seele dürstet
nach Gott,
nach dem lebendigen Gott.
Wann darf ich kommen

und Gottes Antlitz schauen?
Tränen waren mein Brot
bei
Tag und bei Nacht;
denn man sagt zu mir den ganzen Tag:
«Wo
ist nun dein Gott?»
Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke:

wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar,
mit
Jubel und Dank in feiernder Menge.
MEINE SEELE, WARUM BIST DU
BETRÜBT
UND BIST SO UNRUHIG IN MIR?
HARRE AUF GOTT; DENN
ICH WERDE IHM NOCH DANKEN,
MEINEM GOTT UND RETTER, AUF DEN ICH
SCHAUE.

Betrübt ist meine Seele in mir,
darum
denke ich an dich im Jordanland,
am Hermon, am Mizar-Berg.
Flut
ruft der Flut zu beim Tosen deiner Wasser,
all deine Wellen
und Wogen gehen über mich hin.
Bei Tag schenke der Herr seine
Huld;
ich singe ihm nachts
und flehe zum Gott meines Lebens.

Ich sage zu Gott, meinem Fels:
«Warum hast du mich vergessen?

Warum muss ich trauernd umhergehen,
von meinem Feind bedrängt?»

Wie ein Stechen in meinen Gliedern
ist für mich der
Hohn der Bedränger;
denn sie rufen mir ständig zu:
«Wo ist
nun dein Gott?»
MEINE SEELE, WARUM BIST DU BETRÜBT
UND BIST
SO UNRUHIG IN MIR?
HARRE AUF GOTT; DENN ICH WERDE IHM NOCH DANKEN,

MEINEM GOTT UND RETTER, AUF DEN ICH SCHAUE.

Verschaff mir Recht, o Gott,
und führe
meine Sache gegen ein treuloses Volk!
Rette mich vor bösen und
tückischen Menschen!
Denn du bist mein starker Gott.
Warum
hast Du mich verstoßen?
Warum muss ich trauernd umhergehen,

von meinem Feind bedrängt?
Sende dein Licht und deine Wahrheit,

damit sie mich leiten;
sie sollen mich führen zu deinem
heiligen Berg
und zu deiner Wohnung.
So will ich zum Altar
Gottes treten,
zum Gott meiner Freude.
Jauchzend will ich
dich auf der Harfe loben,
Gott, mein Gott.
MEINE SEELE,
WARUM BIST DU BETRÜBT
UND BIST SO UNRUHIG IN MIR?
HARRE
AUF GOTT; DENN ICH WERDE IHM NOCH DANKEN,
MEINEM GOTT UND RETTER,
AUF DEN ICH SCHAUE.

„Wie der Hirsch
schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“
So lautet der erste Vers von Psalm 42 in der wunderschönen Motette,
die Felix-Mendelssohn-Bartholdy darüber geschrieben hat. Wer will
und Zeit hat, kann sie nächsten Sonntag in der Wenschtkirche hören,
gesungen von unserem Kirchenchor. Aber auch ohne Mendelssohns Musik
ist es leicht, zu diesen Worten ein Bild vor Augen zu haben: Ein
ausgetrocknetes Bachbett, über dem die sommerliche Hitze flirrt,
eine Hirschkuh, die zwischen den Steinen vergebens nach ein paar
letzten Tropfen Wasser sucht. Jeder, der mal echten Durst hatte,
weiß, wie ihr zumute ist. Und jeder kann sich dann auch den Seelenzustand
vorstellen, der diesem Bild entspricht: eine Seele, fern von Gott,
weit weg von ihrer Lebensquelle, betrübt und unruhig durch äußere
Belastungen und innere Ängste, auf der Suche nach Halt, nach Auswegen,
nach Gottes Nähe, und das mit versiegenden Kräften.

Auch andere Bilder
des Psalms sprechen uns unmittelbar an: „Tränen waren mein Brot
bei Tag und bei Nacht“, heißt es da. Und wer kennt sie nicht, die
Zeiten, wo einem Hunger und Appetit vergehen, wo man nur noch heulen
möchte und sich nicht vorstellen kann, jemals wieder froh zu werden?
„Alle deine Wellen und Wogen gehen über mich hin.“ – Wer kennt sie
nicht, die Zeiten, wo das Unglück von allen Seiten über uns hereinbricht,
wo wir von einer Katastrophe in die nächste geworfen werden und
im Chaos zu versinken drohen? „Wie ein Stechen“ – Luther übersetzt
durchaus wörtlich: „wie Mord in meinen Gliedern ist für mich der
Hohn der Bedränger.“ – Wer kennt sie nicht, die Momente, wo sich
alles und jeder gegen uns verschworen hat, wo man uns verleumdet,
gegen uns stichelt, Mordan-schläge an unserem guten Ruf verübt,
ohne dass wir uns wehren können? „Man sagt zu mir den ganzen Tag:
Wo ist denn nun dein Gott?“ – Wer kennt sie nicht, diese bohrenden
Fragen, die wir uns ja oft genug selber stellen? Wer kennt sie nicht,
die Situationen, wo unser Schicksal uns und anderen wieder mal zu
beweisen scheint, dass es sinnlos ist, an Gott zu glauben und ihm
zu vertrauen?

Die Auslöser solcher
Erfahrungen können vielfältig sein, das wissen wir alle. Und deshalb
ist es müßig, darüber zu rätseln, welche Not den Beter dieses Psalms
konkret getroffen hat. Die Ausleger haben dabei schon auf verschiedenste
Krankheiten getippt, auf falsche An-klagen, Verbannung und Verfolgung
und manches mehr. Aber hier spricht ja keiner, der einem Arzt seine
Symptome schildert oder einem Anwalt seine Unschuld beweisen will,
sondern hier spricht einer mit Gott, und er tut es so, dass andere
sein Gebet mitsprechen und es sich zu eigen machen können – so wie
es viele, viele jüdische und christliche Beter seitdem getan haben.

Eins wird allerdings
ganz deutlich, und das mag uns an diesem Psalm nun doch fremd vorkommen:
Was den Beter am allerschlimmsten trifft, das sind weder körperliche
Gebrechen noch üble Nachrede seiner Feinde. Am allerschlimmsten
ist für ihn vielmehr der Ort, an dem er sich befindet. Nur hier
wird der Psalm wirklich konkret, so konkret wie kaum ein anderer.
Er spricht sein Gebet „im Jordanland, am Hermon, am Berg Miz’ar“.
Und damit kann nur das Quellgebiet des Jordan an den Hängen des
Hermongebirges gemeint sein, ein Landstrich, der heute zwischen
Israel, dem Libanon und Syrien liegt. Eine schöne und vor allem
wasserreiche Gegend, weshalb sie heute noch politisch heiß umkämpft
ist. Aber der Psalmist hat keinen Blick für romantische Landschaften,
und er hat erst recht keinen Sinn für natürliche Ressourcen und
strategische Bedeutung. Ihn beschäftigt nur eins: Diese Gegend ist
weit weg von Jerusalem, vom Tempel des HERRN, und er ist – aus welchen
Gründen auch immer – nicht in der Lage, dorthin zurückzukehren.
Und genau daran liegt es letzten En-des, dass seine Seele am Verdursten
ist. Er erinnert sich an festliche Gottesdienste, an feierliche
Einzüge, an Menschenmengen, die die Vorhöfe füllen und wie aus einem
Mund Gott loben und preisen, und diese Erinnerungen tun weh, eben
weil sie bloß Erinnerungen sind. Dort, im Tempel, dem Wohnsitz Gottes
auf Erden, dort hat er sich Gott nahe gefühlt, konnte vor seinen
Altar treten, sein Antlitz schauen, ihm Lieder singen. Dort war
er zu Hause, hier, in der Fremde, vergeht er vor Heimweh.

Können wir das
nachempfinden? Können wir verstehen, dass sich für einen Menschen
die Nähe Gottes so sehr an einem bestimmten Ort festmacht? Es fällt
uns wahrscheinlich schwer. Denn wir stellen uns Gott eher so vor,
dass er überall ist und sich nicht einen bestimmten Ort auf Erden
zur Wohnung erwählt. Aber heißt das wirklich, wie ich es immer wieder
höre, dass ich Gott auch überall finden kann? Auch im Wald? Auch
im stillen Kämmerlein? Auch in mir selber? Für mein Empfinden antworten
wir auf solche Fragen oft zu schnell mit Ja. Denn es ist zwar so:
Gott begegnet uns Christen nicht an einem bestimmten Ort. Wohl aber
begegnet er uns in einer bestimmten Person: in Jesus Christus, in
dem Gott selber Mensch geworden ist. Und er hat uns verheißen, dass
er uns vor allem dort begegnen will, wo Menschen sich im Namen Jesu
Christi versammeln, auch wenn es nur zwei oder drei sind.

Ist uns das eigentlich
noch etwas wert? Rechnen wir noch damit, dass uns Gott in Christus
zuerst und vor allem im Gottesdienst, in der Gemeinschaft der Glaubenden
begegnen will? Oder sagen wir wie so viele: „Ach, der Gottesdienst,
der ist mir viel zu früh oder viel zu spät, viel zu altmodisch oder
viel zu modern, viel zu langweilig oder viel zu unruhig. Ab und
zu, wenn mir danach ist, geh ich ja mal hin, so wie heute zum Beispiel,
aber ansonsten kann ich doch auch zu Hause beten, und ein besserer
Mensch wird man auch nicht davon, dass man ständig in die Kirche
rennt.“ Bei uns Evangelischen hat diese Einstellung schon eine lange
Tradition, aber ich habe den Ein-druck, dass sie auch bei katholischen
Menschen immer häufiger an-zutreffen ist. Doch ich glaube, wir sollten
diese Einstellung, wenn wir sie denn haben, noch mal überdenken.

Denn es ist zwar
richtig: Ich kann auch zu Hause beten und in der Bibel lesen, ich
kann auch für mich allein Lieder singen, wenn auch mit Abstrichen,
und Gutes tun kann ich natürlich erst recht jederzeit und überall.
Aber erstens: Wer tut das denn auch wirklich und redet nicht nur
so? Und zweitens: Wenn wir wirklich an Jesus Christus glauben und
nicht nur irgendwie an Gott, dann fehlt uns etwas ohne die Gemeinschaft
der Glaubenden. Dann entgeht uns Entscheidendes, wenn wir nicht
gemeinsam mit anderen singen, beten, Gott loben, auf ihn hören und
das Mahl des Herrn feiern. Auch der Psalmist betet ja in der Fremde,
auch er bleibt mit Gott in Beziehung und gibt sein Gottvertrauen
nicht auf. Aber er leidet unter seiner Ferne vom gemeinsamen Gottesdienst,
und er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass dieser Zustand endlich
ein Ende nimmt. Manchmal stoße ich auf alte oder kranke Menschen,
die sonst treue Kirchgänger waren und denen es ähnlich ergeht. Aber
das ist doch eher selten.

Deshalb würde
ich mir wünschen, dass wir das aus diesem Gottes-dienst mitnehmen:
Wer nur für sich alleine glaubt, dessen Seele droht zu vertrocknen,
der schneidet sich von der wichtigsten Quelle ab, die unserem Glauben
Nahrung gibt. Glaube ohne Glaubensgemeinschaft ist ein Schrumpfglaube.
Man muss sich nicht wundern, wenn er sich eines Tages verflüchtigt.
Natürlich gibt es diese Gemeinschaft in vielen verschiedenen Formen
und Größen. Und natürlich ist Gott nicht automatisch da, wenn wir
Gottesdienst feiern, und erst recht nicht, wenn wir ihm eine Kirche
bauen. Aber er hat es uns verheißen, und wir dürfen ihn beim Wort
nehmen. Deshalb sage ich mal einfach: Es sollte für Christen, und
zwar nicht nur für katholische, selbstverständlich sein, sonntags
zum Gottesdienst zu gehen. Es sollte auch allen, die Gottesdienste
vorbereiten und durchführen, klar sein, dass das ihre wichtigste
und vornehmste Aufgabe ist und dass sie deshalb alles dafür tun
sollten, um sie einladend, lebendig und glaubensfördernd zu gestalten.
Und es sollte allen Kirchenoberen selbstverständlich sein, dass
es für die Ökumene kein wichtigeres und höheres Ziel gibt, als dass
endlich Christen aller Konfessionen ohne jede Einschränkung miteinander
Gottesdienst feiern können. Was wäre das für eine Labsal für unsere
dürstenden Seelen, was wäre das für ein Zeichen für die Menschen,
die den Kirchen enttäuscht oder gleichgültig den Rücken kehren,
wenn die Talkirche heute bis auf den letzten Platz gefüllt wäre
und wenn Evangelische und Katholische miteinander in versöhnter
Verschiedenheit an den Tisch des Herrn treten könnten!

Nur ein Traum?
Vielleicht. Aber einer, den es sich zu träumen lohnt. So wie der
Traum des Psalmbeters der sich im Geiste schon wieder vor dem Altar
des Tempels stehen sieht, die Harfe griffbereit, um seinen Gott
zu loben und zu preisen. Daran wird er sich aufrichten, daran wird
er festhalten, und wenn er seinen Kehrvers noch hundert- oder tausendmal
wiederholen muss: „Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so
unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken,
meinem Gott und Retter, auf den ich schaue.“

Amen.