Predigt vom 20.11.2011 (EWIGKEITSSONNTAG)

GOTTESDIENST FÜR DEN EWIGKEITSSONNTAG

Pfr. Dr. Martin Klein
Wenschtkirche,
20.11. 2011
Text: Joh 11,1.3-7a.11b-15.17.19-34.38b-45

Es lag aber
einer krank, Lazarus aus Bethanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester
Marta. Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen:
„Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.“

Als Jesus das
hörte, sprach er: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur
Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht
werde.“

Jesus aber
hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte,
dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war;
danach spricht er zu seinen Jüngern: „Lazarus, unser Freund, schläft,
aber ich gehe hin, ihn aufzuwecken.“

Da sprachen
seine Jünger: „Herr, wenn er schläft, wird’s besser mit ihm.“

Jesus aber
sprach von seinem Tode; sie meinten aber, er rede vom leiblichen
Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: „Lazarus ist gestorben;
und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin,
damit ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen!“

Als Jesus kam,
fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Und viele Juden
waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders.
Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria
aber blieb daheim sitzen.

Da sprach Marta
zu Jesus: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir
Gott geben.“

Jesus spricht
zu ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“

Marta spricht
zu ihm: „Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung
am Jüngsten Tage.“

Jesus spricht
zu ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt,
der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt
an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“

Sie spricht
zu ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn
Gottes, der in die Welt gekommen ist.“

Und als sie
das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich
und sprach zu ihr: „Der Meister ist da und ruft dich.“

Als Maria das
hörte, stand sie eilend auf und kam zu ihm. Jesus aber war noch
nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta
begegnet war.

Als die Juden,
die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria
eilend aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten:
„Sie geht zum Grab, um dort zu weinen.“

Als nun Maria
dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und
sprach zu ihm: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht
gestorben.“

Als Jesus sah,
wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen
waren, wurde er zornig er im Geist und sprach: „Wo habt ihr ihn
hingelegt?“

Sie antworteten
ihm: „Herr, komm und sieh es!“

Und Jesus kam
zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag darauf. Jesus
sprach: „Hebt den Stein weg!“

Spricht zu
ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: „Herr, er stinkt schon;
denn er liegt seit vier Tagen.“

Jesus spricht
zu ihr: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die
Herrlichkeit Gottes sehen?“

Da hoben sie
den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: „Vater,
ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich weiß, dass du mich
allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage
ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.“

Als er das
gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: „Lazarus, komm heraus!“

Und der Verstorbene
kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein
Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen:
„Löst die Binden und lasst ihn gehen!“

Viele nun von
den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat,
glaubten an ihn.

Wenn er doch nur
früher gekommen wäre! Er hatte so viele Kranke geheilt. Er hätte
bestimmt auch Lazarus retten können. Aber nun war es zu spät. Volle
ganze vier Tage zu spät. Die Beerdigung war längst vorüber, das
Grab verschlossen und versiegelt. Zu Hause rüsteten die Trauergäste
zum Aufbruch. Und schon war die Angst da vor der Leere, die sie
hinterlassen würden – der äußeren und der inneren. Vier Tage! Hätte
er sich nicht wenigstens ein bisschen mehr beeilen können? Es ging
doch um Lazarus, seinen Freund, ihren Bruder! So weit war es doch
gar nicht vom Ostjordanland nach Bethanien. Diese Gedanken schossen
Marta durch den Kopf, während sie durch das Dorf lief, Jesus entgegen.

Aber nein, sagte
sich Marta nach kurzer Pause, es war ungerecht, was sie da dachte.
Eigentlich konnte Jesus ja gar nichts dafür. In Wirklichkeit war
alles ihre Schuld! Maria hatte gleich gesagt: „Schick doch jemanden
zu Jesus!“ Aber sie hatte nicht auf ihre Schwester gehört. „Bist
du verrückt?“ hatte sie gesagt. „Weißt du nicht mehr, dass sie ihn
fast gesteinigt hätten, als er zuletzt hier in Judäa war? Beim nächsten
Mal bringen sie ihn um! Und außerdem: so ernst wird es schon nicht
sein.“ Es war ernst. Aber Marta hatte es nicht wahrhaben wollen.
Sie kannte sich aus, sie hatte schon viele Kranke gesund gepflegt
– sie würde es auch bei Lazarus schaffen. Aber was sie auch tat
und versuchte, es war trotzdem immer schlimmer geworden. Erst als
sie mit ihrer Heilkunst ganz am Ende war, hatte sie Maria nachgegeben
und jemand zu Jesus geschickt. Aber da hatte Lazarus schon kaum
noch atmen können. Ein paar Stunden später war er tot gewesen. Jesus
hätte gar nicht mehr rechtzeitig da sein können. Und das war ganz
allein ihre Schuld!

Wie Maria sie
angesehen hatte mit ihren verweinten Augen – eben, als jemand die
Nachricht brachte, dass Jesus vor dem Dorf sei. Ein einziger stummer
Vorwurf: Siehst du, Jesus kommt. Trotz aller Gefahr. Er hätte längst
hier sein können, aber du wusstest ja mal wieder alles besser! Bis
du zugibst, dass du was nicht selber schaffst, ist alles zu spät!
Aber Marta hatte gar keine vorwurfsvollen Blicke nötig. Sie machte
sich diese Vorwürfe ja längst selber! Sie konnte an nichts anderes
mehr denken. Sie wusste nicht, wie ihr Leben weitergehen sollte
– ohne Lazarus und dazu noch mit dem Gefühl, dass sie mit schuld
war an seinem Tod. Als sie gehört hatte, dass Jesus kommt, hatte
sie nichts mehr im Haus gehalten. Sie musste zuerst mit ihm sprechen,
allein, ihr Herz vor ihm ausschütten. Er würde sie verstehen. Und
er würde ihr helfen.

Vor dem Dorf traf
sie Jesus. Sie umarmten sich stumm zur Begrüßung. Doch schon bald
brach Marta das Schweigen: „Wenn du hier gewesen wärst, wäre mein
Bruder nicht gestorben.“ Das klang zwar wie ein Vorwurf. Aber in
Wirklichkeit war es das Eingeständnis, dass sie versagt hatte. Und
dann fügte sie noch hinzu: „Aber auch jetzt weiß ich: Was du Gott
bittest, das wird er dir geben.“ Sie wusste selbst nicht so recht,
was sie eigentlich von Jesus erwartete. Dass er Lazarus von den
Toten auferwecken würde? Sie hatte davon gehört, dass er oben in
Galiläa mal ein zwölfjähriges Mädchen wieder lebendig gemacht hatte.
Aber das Mädchen war gerade erst gestorben gewesen. Lazarus war
schon vier Tage tot. Er lag in seinem Grab, und sein Körper verfiel.
Da konnte selbst Jesus nichts mehr machen, und Marta wagte es nicht,
darauf zu hoffen. Aber vielleicht konnte er ihr zeigen, wie es weitergehen
sollte. Vielleicht konnte er ihr die Schuldgefühle nehmen. Vielleicht
konnte er dafür sorgen, dass sie ihrer Schwester Maria wieder in
die Augen sehen konnte. Sonst würde ihr Zusammenleben in Zukunft
unerträglich sein.

„Dein Bruder wird
auferstehen“, sagte Jesus. Marta war enttäuscht über diese Antwort.
„Ja, ich weiß“, entgegnete sie. „Bei der Totenauferstehung am Jüngsten
Tag!“ Das hatte der Rabbi bei der Beerdigung auch gesagt. Und sie
glaubte ja auch daran. Aber von Jesus hatte sie mehr erwartet. Keine
Vertröstung auf später, sondern Trost und Hilfe hier und jetzt.

Jesus schien sie
verstanden zu haben. Er sah sie fest an und sagte: „Ich bin die
Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben,
auch wenn er stirbt; und jeder der lebt und an mich glaubt, wird
nicht sterben in Ewigkeit. Glaubst du das?“ Marta musste erst einmal
kräftig schlucken. Das war allerdings eine ganz andere Antwort,
als der Rabbi sie je hätte geben können. Aber es war auch eine ganz
andere Antwort, als sie erwartet und erhofft hatte. Konnte denn
irgendein Mensch so etwas behaupten? „Ich bin die Auferstehung und
das Leben“ – das konnte doch nur Gott von sich sagen! Nur Gott konnte
Leben schaffen. Er hatte die Welt aus dem Nichts ins Dasein gerufen,
er konnte auch Tote aus dem Nichts wie-der lebendig machen. Jesus,
ihr Freund Jesus, den sie so gut zu kennen glaubte, erschien ihr
plötzlich ganz fremd. Plötzlich verstand sie, warum die Priester
und Ältesten in Jerusalem Jesus hassten. Wer so redete und auch
so auftrat, der war entweder ein gefährlicher Irrer oder ein Gotteslästerer.
Als fromme Juden konnten sie gar nicht anders urteilen. Und sie?
Sie war doch auch eine fromme Jüdin. Trotz-dem konnte sie nicht
glauben, dass Jesus verrückt oder ein Gotteslästerer war. Dafür
hatte sie zu viel mit ihm erlebt. Sie hatte gehört, wie er von Gott
redete, sie hatte gespürt, wie Gott ihr nahe war, wenn er sprach,
sie hatte gesehen, wie Menschen durch ihn gesund geworden waren,
und nicht zuletzt hatten sie und ihre Geschwister ihn zum Freund
gewonnen – gerade sie, die unverheiratet war und keine Kinder hatte
und die deshalb von allen schief angesehen wurde. Nein, wer so redete
und handelte wie Jesus, der konnte nicht gegen Gott stehen, der
musste von Gott gesandt sein. Ja noch mehr: in dem musste Gott selbst
gegenwärtig sein. Und deshalb sagte sie: „Ja, Herr, ich glaube,
dass du der Gesalbte bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Jesus war nicht
nur ein guter Mensch und ein guter Freund. Das war ihr jetzt aufgegangen.
Bei Jesus war Gott zu finden. Und deshalb war bei ihm auch das Leben
zu finden, das Gott schenkt. Das Leben, das sie brauchte. Leben
trotz der Trauer um ihren Bruder. Leben trotz aller Schuldgefühle
gegenüber ihrer Schwester. Leben trotz allem Versagen und Scheitern.
Leben trotz der Grenzen, die der Tod zieht. Erfülltes, ewiges Leben
– schon hier und jetzt, nicht erst am jüngsten Tag. Zum ersten Mal
seit Tagen konnte sie befreit aufatmen. Allein ging sie zurück ins
Dorf. Sie wollte Maria holen – auch sie sollte erfahren, was ihr
da gerade aufgegangen war. Aber vielleicht würde es für sie gar
nicht so neu sein. Marta hatte schon immer den Eindruck gehabt,
dass ihre Schwester Jesus mit anderen Augen sah als sie selber.

Was Jesus dann
tat, war natürlich unglaublich. Er ging zum Grab, ließ es öffnen
und holte tatsächlich den schon verwesenden Leichnam des Lazarus
ins Leben zurück. In ihren kühnsten Träumen hätte Marta sich das
nicht ausmalen können. Ein gewaltiges Zeichen dafür, dass es stimmte,
was er gesagt hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Alle,
die es miterlebt hatten, waren mächtig beeindruckt. Aber Marta hätte
diesen Beweis nicht mehr gebraucht. Das Leben, das bei Jesus zu
finden war und das er ihr zugesprochen hatte, das hätte ihr niemand
mehr nehmen können, auch wenn Lazarus tot geblieben wäre. Jesu Wort
hätte sie getragen und ihr geholfen, ihre Trauer und ihre Schuldgefühle
zu überwinden. Lazarus würde wieder sterben, früher oder später,
auch Maria und sie selbst würden sterben. Aber das Leben, das sie
in ihrem Glauben an Jesus Christus gefunden hatte, das würde bleiben
– jetzt und in der Stunde ihres Todes.

AMEN