Predigt vom 25.3.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
JUDIKA

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
25.3. 2012
Text: Num 21,4-9

Ich nehme an dieses
Zeichen haben Sie alle schon mal irgendwo gesehen. Es ist der so
genannte Äskulap-Stab, das Berufssymbol der Ärzte. Dieses Symbol
ist schon uralt. Äskulap oder Asklepios war der Gott der Heilkunst
bei den alten Griechen. Warum sein Zeichen gerade die Schlange war,
ist nicht ganz klar, aber auf jeden Fall stand der Äskulap-Stab
für die heilsamen Kräfte, die von diesem Gott ausgingen.

Und die Ärzte
waren Menschen, die versuchten, im Namen des Asklepios Menschen
zu helfen. Unsere heutige Medizin hat mit der von damals nicht mehr
viel zu tun. Trotzdem verwendet sie den Äskulap-Stab immer noch
als Zeichen für das, was ihr Auftrag ist: nämlich kranken Menschen
nach bestem Wissen und Gewissen Linderung und Heilung zu bringen.

Unser heutiger
Predigttext handelt von einem Zeichen, das dem Äskulap-Stab ganz
ähnlich ist: sowohl äußerlich als auch der Bedeutung nach; denn
auch bei diesem Zeichen geht es um Heilung und Rettung. Was es damit
auf sich hat, lesen wir im vierten Buch Mose, im 21. Kapitel:

 

Da brachen sie
auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land
der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege
und redete gegen Gott und gegen Mose: „Warum hast du uns aus Ägypten
geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch
Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.“ Da sandte
der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk,
dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen:
„Wir haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet
haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme.“ Und
Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: „Mache dir eine
eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen
ist und sieht sie an, der soll leben.“ Da machte Mose eine eherne
Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange
biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

 

Die eherne Schlange.
Als der Predigttext entstand, konnte sie noch jeder Israelit leibhaftig
anschauen. Sie stand für alle sichtbar an einem Ehrenplatz im Tempel
von Jerusalem. Wahrscheinlich stammte sie noch von den Jebusitern,
die Jerusalem bewohnt hatten, bevor König David die Stadt eroberte.
Aber in Israel erzählte man sich, dass Mose diese Schlange gemacht
habe. Und die Geschichte aus dem vierten Buch Mose berichtet, wie
das kam.

Sie versetzt uns
zurück in die Zeit, als die Wüstenwanderung Israels ihrem Ende zuging.
Die Sklaverei in Ägypten lag nun schon viele Jahre zurück. Das verheißene
Land war nahe und doch immer noch fern, denn feindliche Völker versperrten
den Weg. Kurz vor dem Ziel mussten sie noch einen weiten Umweg machen,
um das Land Edom zu umgehen. Und sie hatten die Wüste gründlich
satt. Immer nur Sand und Steine. Immer die mühsame Suche nach Wasser
und etwas Essbarem. Immer wieder der gleiche Trott: Zelte abbrechen,
stundenlang marschieren mit Sack und Pack durch glühende Hitze,
dann abends Lager aufschlagen, Zelte aufbauen und erschöpft auf
die harte Strohmatte sinken. Und dann alles wieder von vorn. Und
kein Ende abzusehen. Verglichen damit war Ägypten das reinste Paradies
gewesen, dachten sie jetzt. Kein Gedanke mehr daran, wie sie sich
dort zu Tode schuften mussten für den Pharao. Längst vergessen die
Angst am Schilfmeer, als die ägyptischen Verfolger immer näher rückten.
Jetzt kannten sie nur noch einen Gedanken: Endlich mal irgendwo
bleiben können und wieder richtig satt werden! Doch Mose, ihr Anführer,
trieb sie immer weiter. Sprach von dem Land, wo Milch und Honig
fließt, an das sie kaum noch glauben konnten. Und Gott wollte es
offenbar so haben. Aber sie wollten nicht mehr, sie hatten die Faxen
dicke. Und sie machten ihrem Ärger Luft: gegen Mose und gegen Gott.

Aber Gott hatte
auch die Nase voll. Was hatte er nicht alles getan für dieses undankbare
Volk! Hatte sie aus Ägypten befreit, hatte sie gerettet am Schilfmeer,
hatte einen Bund mit ihnen geschlossen am Berg Sinai, hatte ihnen
in der Wüste immer wieder ausgeholfen mit Wasser und Manna, hatte
ihnen Siege über ihre Feinde verschafft. Und was hatte er dafür
geerntet? Immer nur Murren und Knurren, Undank und Halsstarrigkeit.
Und das auch jetzt noch, wo sie fast am Ziel waren! Ihn packte der
Zorn, und den bekamen die Israeliten zu spüren. Plötzlich wimmelte
das Lager von giftigen Schlangen. Überall kamen sie hervor gekrochen,
und es gab kein Entrinnen. Wer gebissen wurde starb – und es wurden
viele gebissen.

„Not lehrt beten“,
sagen wir, und bei den Israeliten war das nicht anders. „Bitte den
HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme“, riefen sie Mose zu.
Eben noch hatten sie sich über Gott beklagt, jetzt war er ihre letzte
Hoffnung. Eine ganz natürliche Reaktion. Aber es war doch mehr als
nackte Angst, was sie antrieb. Sie hatten auch eingesehen, dass
ihr Ärger zwar verständlich, aber falsch und undankbar war: „Wir
haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet
haben.“ Diese Einsicht, nicht der Hilfeschrei, gab den Ausschlag:
Mose legte Fürbitte bei Gott ein, und Gott erhörte ihn.

Allerdings ließ
er die Schlangen nicht einfach sang- und klanglos verschwinden.
Statt dessen gab er den Leuten ein Zeichen. Gerade ein Abbild der
Gefahr sollte die Gefahr besiegen. Ein Blick auf die Schlange aus
Erz machte das Gift der echten Schlangen unschädlich. Wer das Bild
der todbringenden Schlange ansah blieb am Leben.

Ein seltsames
Zeichen. Und eine seltsame Geschichte. Ich denke, viele von Ihnen
haben sie nur mit innerem Widerstreben angehört. So mögen wir uns
Gott nicht vorstellen: so zornig und so brutal. Und das mit der
Schlange klingt mehr nach Zauberei als nach Glaube und Gottvertrauen.

Trotzdem denke
ich: Die Geschichte ist als Bild für unsere Wirklichkeit nicht überholt.
Auch wir kennen doch das Gefühl der Müdigkeit und der Resignation.
Zum Beispiel wenn man sich jahrelang bemüht, ein Problem zu lösen,
und feststellen muss, dass es nur immer schlimmer wird. Zum Beispiel
wenn man sich tagaus, tagein krumm legt für seinen Job und dann
eines Tages gesagt bekommt: „Tut uns leid, aber wir müssen Ihnen
kündigen – betriebsbedingt, sie verstehen schon!“ Zum Beispiel wenn
man sich immer nach Kräften um seine Kinder oder um die alten Eltern
bemüht hat und dafür nur Undank und Vorwürfe erntet. Zum Beispiel,
wenn man schwer krank ist und alles auf sich nimmt, was die Kasse
zahlt, um gesund zu werden, und es hilft doch alles nichts.

Dann sind wir
schnell so weit, dass wir nur noch das Negative sehen und das Gute
nicht mehr wahrnehmen. Warum krieg eigentlich immer ich alles ab?
fragen wir uns dann. Warum hilft mir keiner? Warum bekomme ich nie
eine Anerkennung für meine Mühen? Warum lässt Gott mich ganz allein
mit meiner Lebenslast? Warum lässt er mich nicht gesund werden?

Schickt Gott uns
auch giftige Schlangen, wenn wir so denken? Vielleicht nicht im
wörtlichen Sinne. Aber die Konsequenzen unserer Resignation können
uns genauso quälen. Unsere Giftschlangen heißen vielleicht Verbitterung
und Verzweiflung. Hass auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen.
Ausbrüche von Wut und Gewalt. Zukunfts- und Todesangst. Ich wäre
vorsichtig, zu sagen, dass das so ist, weil Gott zornig auf uns
ist. Aber das Gefühl kann man schon manchmal haben. Und dass all
diese Dinge die Strafe sind für verlorenes Gottvertrauen, das kann
ich durchaus so sehen.

Aber wie kommen
wir da raus? Was rettet uns vor dem, was unser Leben vergiftet und
zerstört? Ein Zeichen. Ein Zeichen, das Gott setzt, so wie die eherne
Schlange: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss
der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben haben. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Diese Worte aus
dem Johannesevangelium machen uns klar, was das Zeichen der Schlange
mit der Passionszeit zu tun hat. Denn wenn Jesus hier von seiner
Erhöhung redet, dann meint er seine Erhöhung ans Kreuz. Wie die
Schlange hängt er am Holz, aufgerichtet zwischen Himmel und Erde.
Und auch das Kreuz ist ein seltsames Zeichen: Kein Zeichen des Sieges,
der Macht und des Lebens, sondern der Niederlage, der Ohnmacht und
des Todes. Wie die Schlange ist das Kreuz ein Symbol für das, was
unser Leben bedroht. Und wie die Schlange, so überwindet auch das
Kreuz das, wofür es steht. Jesu Qual lindert unsere Qual, seine
Verzweiflung überwindet unsere Verzweiflung, sein Tod besiegt unsere
Todesangst.

Vorausgesetzt,
wir richten unseren Blick auf dieses Kreuz. Vorausgesetzt, wir versuchen
es nicht zu verdrängen, wie wir es so gern mit allem machen, was
uns an Leid, Schuld und Tod erinnert. Vorausgesetzt, wir lassen
für uns wahr sein, was am Kreuz geschehen ist. Nicht dass das Zeichen
des Kreuzes ungültig würde, wenn wir es nicht beachten. Nicht, dass
wir es dadurch ungeschehen machen könnten. Aber unser Leben hier
und jetzt kann es nur heil machen, wenn wir das zulassen.

Wir Reformierten
haben’s ja nicht so mit Bildern und Symbolen. Wir können eher den
frommen König Hiskia verstehen, der die eherne Schlange im Tempel
von Jerusalem zerschlagen ließ, weil er sie als heidnisches Relikt
und eine Quelle des Aberglaubens betrachtete – wahrscheinlich nicht
ganz zu Unrecht. Auch gegenüber dem Kreuz als sichtbarem Symbol
sind wir eher zurückhaltend – dass wir es hier in der Talkirche
auf einem der Chorfenster sehen können, sogar mit Jesus dran, das
ist ja eher ungewöhnlich für eine reformierte Kirche. Und es kommt
ja auch nicht darauf an, dass das Kreuz irgendwo als Stück Holz
in der Kirche oder im Gemeindehaus hängt. Wichtig ist nur, dass
wir das, wofür das Kreuz steht, in immer vor Augen haben: bei unseren
Gottesdiensten, aber zum Beispiel auch bei unseren Presbyteriumssitzungen,
und im täglichen Leben sowieso. Damit es uns erinnert an das Leiden
Jesu und an die Leiden der Menschen in unserer Gemeinde und anderswo.
Damit es uns Kraft gibt, wenn uns die Arbeit am Reich Gottes ein
Kreuz zu werden droht. Und damit wir immer wissen, warum wir Christen
sind und als Christen handeln. Nämlich damit wir uns mit Wort und
Tat und mit Geld und Gut dafür einsetzen, Menschen auf das Zeichen
des Kreuzes hinzuweisen und ihnen Wege zu erfülltem Leben zu zeigen.
Gott segne uns dabei.

Amen.

 

Predigt zur Einführung des Presbyteriums

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
OKULI

zur Einführung des Presbyteriums

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
11.3. 2012
Text: 1. Petr 1,13-21

Darum
umgürtet die Lenden eures Denkens, seid nüchtern und setzt eure
Hoffnung ganz auf die Gnade, die zu euch gebracht wird in der Offenbarung
Jesu Christi. Als gehorsame Kinder gebt euch nicht den Begierden
hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet; sondern
wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig
sein in eurem ganzen Wandel. Denn es steht geschrieben: »Ihr sollt
heilig sein, denn ich bin heilig.«

Und da ihr
den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet
nach seinem Werk, so führt euer Leben, solange ihr hier in der Fremde
weilt, in Gottesfurcht; denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem
Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der
Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen
und unbefleckten Lammes. Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt
Grund gelegt wurde, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen,
die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn auferweckt hat von den
Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung
zu Gott habt.

 

Wer auch immer
diesen Brief im Namen des Apostels Petrus geschrieben hat, er war
jedenfalls keiner, der sich mit halben Sachen zufrieden gibt. „Ihr
sollt heilig sein in eurem ganzen Wandel“ – das fordert er von den
Christen in Kleinasien, an die er schreibt. Und er tut es mit großer
Selbstverständlichkeit. Christ sein und heilig sein, das ist für
ihn ganz dasselbe.

So wie wir üblicherweise
das Wort „heilig“ verstehen, können wir das wohl kaum nachvollziehen.
Wenn ich hier in der Kirche eine Umfrage machen würde zu der Frage:
„Empfinden Sie sich in Bezug auf Ihren Lebenswandel als heilig oder
streben Sie es wenigstens an?“ Ich denke, dann würden alle Befragten
das weit von sich weisen – auch die neu oder wieder gewählten Presbyter.
„Heilig? Ich? Nie und nimmer! Sicher, ich bemühe mich. Ich lebe
nach den Zehn Geboten, so gut ich kann. Ich glaube an Gott, ich
setze mich ein für die Gemeinde, ich versuche meine Mitmenschen
freundlich und anständig zu behandeln. Aber heilig? Das bin ich
nicht. Das möchte ich, glaube ich, auch gar nicht sein. Überhaupt:
Gibt es Heilige nicht nur bei den Katholiken? Und muss man dafür
nicht schon tot sein?“

Und wenn doch
jemand meine Frage allen Ernstes mit Ja beantworten würde? – „Heilig?
Ja, passt schon! Ein Heiliger zu sein, das ist mein großes Ziel,
und ich bin da schon ein gutes Stück vorangekommen.“ – Dann wäre
„ein bisschen überspannt“ wohl noch einer der freundlicheren Kommentare.

Tja, so ist es.
Bezüglich der Qualität unseres Lebenswandels eher tief zu stapeln,
das ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Alles andere gilt
als selbstgerecht und unbescheiden und außerdem als taktisch unklug
– es könnte ja jemand was rauskriegen! Aber seltsam: Von anderen,
besonders von den Inhabern höherer Ämter, erwarten wir dann doch
die Einhaltung moralischer Qualitätsstandards, die wir für uns selber
so hoch nie hängen würden. Und wenn dann solche Menschen mit Vorbildfunktion
ihre Doktorarbeit abschreiben, betrunken über rote Ampeln fahren
oder sich von guten Freunden zuviel schenken lassen, sind Häme und
Entrüstung groß und der Rücktritt nur eine Frage der Zeit. Nein,
es geschieht in unserem Lande wirklich nicht viel, was das Etikett
„heilig“ verdient hätte. Wo sollen Vorbilder dafür auch herkommen,
wenn die meisten von uns erst gar keinen Ehrgeiz entwickeln, ein
vorbildliches Leben zu führen? In einem solchen Umfeld kann eben
bestenfalls Scheinheiligkeit gedeihen.

Aber zurück zum
ersten Petrusbrief: Auch damals waren die Menschen nicht grundsätzlich
anders als heute. Wieso sagt er seinen Lesern trotzdem: „ihr sollt
heilig sein“? Und wie kommt er dazu, das für einen selbstverständlichen
Ausdruck christlichen Lebens zu halten?

Nun, heilig ist
nach biblischem Sprachgebrauch erst einmal Gott selbst. Und davon
abgeleitet ist alles heilig, was ganz und ausschließlich zu Gott
gehört. In diesem Sinne kann es im Alten Testament heilige Orte
geben, wo Gott in besonderer Weise gegenwärtig ist, oder heilige
Geräte, die ausschließlich zum Gebrauch in einem solchen Heiligtum
bestimmt sind. Und in beiden Teilen der Bibel werden Menschen, die
zu Gott gehören, als heilig angesprochen und zum Heiligsein aufgefordert.
Der klassischen Kernsatz dazu aus dem dritten Buch Mose wird in
unserem Predigttext zitiert: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin
heilig, spricht der HERR.“ (Lev 19,2)

Also: Für den
ersten Petrusbrief sind Christen Menschen, die ganz und gar zu Gott
gehören. Und bevor es um den Lebenswandel geht, heißt das erst mal:
Christen sind Menschen, die ihre Hoffnung ganz und gar auf die Gnade
Gottes setzen. Denn damit fängt der Text ja an: „Setzt eure Hoffnung
ganz auf die Gnade, die zu euch gebracht wird in der Offenbarung
Jesu Christi.“ Und zu dieser Hoffnung auf Gottes Gnade, sagt der
erste Petrusbrief, haben wir auch allen Grund. Denn sie ist uns
ja schon zuteil geworden. Wir sind schon erlöst, wie es ein paar
Verse später heißt. Wie man damals einen Sklaven von seinem Herrn
loskaufen und ihm die Freiheit schenken konnte, so hat Gott uns
losgekauft aus der Sklaverei der Ichsucht und Gottlosigkeit – nicht
mit Geld, auch nicht nur mit guten Worten, sondern mit dem Einsatz
seines eigenen Lebens. Er wurde in Jesus Christus Mensch, wie es
schon immer sein Plan war. Er ließ sich schuldlos umbringen und
starb so an unserer Stelle den Tod, den wir verdient hätten. Und
so besiegte er den Tod, indem er Jesus von den Toten auferweckte,
und gab damit auch uns Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.

Das wisst ihr
alles schon, sagt der erste Petrusbrief seinen Lesern. Er erinnert
sie dazu an die Bekenntnisformeln, die sie mal gelernt haben, als
sie getauft wurden. Und wir wissen es auch. Die Älteren haben es
noch mit den Worten des Heidelberger Katechismus gelernt: „Was ist
dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und
Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen
Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für
alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des
Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines
Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupte fallen kann, ja, dass
mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch
durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen
willig und bereit, fortan ihm zu leben.“ Unsere heutigen Konfirmanden
lernen es so nicht mehr, und manchmal finde ich das schade. Aber
natürlich erfahren auch sie etwas darüber, was es mit dem Leben,
Sterben und Auferstehen Jesu auf sich hat und was es für uns bedeutet.

Nur, ob Heidelberger
oder anders, wir machen oft so wenig aus dem, was wir da gelernt
haben. Wir trauen uns nicht, für uns in Anspruch zu nehmen, was
wir doch längst sind. Wir sind erlöst, wir gehören zu Gott, wir
sind heilig. Und Gott hat teuer dafür bezahlt: mit dem Leben seines
Sohnes, mit seinem eigenen Leben. Da müssten wir doch alles daran
setzen, dieses kostbare Leben nun auch entsprechend zu führen! Stattdessen
begnügen wir uns allzu schnell mit „ich schaff’s nicht, aber ich
bemüh mich“. Dabei wissen wir doch, dass es gar nicht gut ist, wenn
es in einem Zeugnis heißt: „Mitarbeiter XY war stets bemüht …“!

Wenn ich das sage,
dann will ich damit keinen Druck oder Zwang ausüben. Wir müssen
und können uns das Geschenk des Heils nicht verdienen – weder im
Voraus noch im Nachhinein. Ich habe zu viele Menschen gekannt, die
gemeint haben, sie müssten sich der Gnade Gottes doch noch irgendwie
würdig erweisen, und die schlimm dar-unter gelitten haben, dass
sie das nicht schafften. Auch ich selber habe zu Zeiten dazu gehört
und möchte auf keinen Fall dahin zurück. Ich denke nur, wenn uns
wirklich mal aufginge, wie groß Gottes Geschenk an uns tatsächlich
ist, dann müsste uns keiner mehr zwingen, „von Herzen willig und
bereit ihm zu leben.“ Sondern dann wäre uns dieser Erweis unserer
Dankbarkeit das Selbstverständlichste von der Welt. Und dann wäre
uns „heilig sein in unserem Wandel“ nicht zu viel gesagt, sondern
das einzig angemessene Ziel.

Aber jetzt noch
mal ganz konkret: Heute beginnt ja in unserer Gemeinde die Amtszeit
eines neuen Presbyteriums. Eine Presbyterin und drei Presbyter treten
dieses Amt erstmals an, zehn weitere sind schon länger dabei, vier
Plätze bleiben vorerst unbesetzt. Was kann ich diesen vierzehn Menschen,
und darüber hinaus uns allen, vom ersten Petrusbrief her mit auf
den Weg geben?

Zuerst und vor
allem gilt auch euch: Lebt, was ihr seid. Ihr gehört ganz und gar
zu Gott, also stellt nun auch euer Leben ihm ganz zur Verfügung.
Nicht nur als Presbyter, nicht nur als ehrenamtliche Mitarbeiter
unserer Gemeinde. Sondern auch als Eheleute, Väter und Mütter, in
eurem Beruf, in eurer Freizeit. All das gehört zu eurem Leben, und
es soll auch weder euer Beruf, noch eure Familie, noch eure Erholung
darunter leiden, dass ihr im Presbyterium seid. Nur lasst Gott in
keinem Bereich eures Lebens außen vor. Wenn ihr arbeitet, egal wo
und für wen, dann tut es in Gottes Namen. Und wenn ihr euch ausruht
und die schönen Dinge des Lebens genießt, dann vergesst nicht, Gott
dafür zu danken.

Dann greife ich
noch das Bild auf, mit dem unser Text beginnt: „Umgürtet die Lenden
eures Denkens“. Klingt etwas verunglückt, okay. Wir würden vielleicht
eher sagen: „Krempelt innerlich die Ärmel hoch“. Seid bereit, anzupacken,
was anliegt. Konzentriert euch auf das Wichtige und Wesentliche,
aber das setzt dann auch entschlossen in die Tat um. Vertraut den
neuen Wegen, auf die der Herr euch weist, und lasst allen Ballast
zurück, der euch am Vorankommen hindert. In dieser Hinsicht hat
das Presbyterium in den vergangenen Jahren manches geleistet. Diejenigen,
die noch für acht Jahre gewählt waren, haben ihre Amtszeit in einer
Gemeinde begonnen, die in vieler Hinsicht noch völlig anders aussah
als heute. Was in der Zwischenzeit an Umwälzungen passiert ist,
war wahrlich nicht einfach, aber es trägt Früchte – Gott sei Dank,
aber Dank auch an alle, die diese Entwicklung getragen haben. Das
neue Presbyterium kann darauf jetzt auf- und weiterbauen.

Und als Letztes
sei euch mit dem ersten Petrusbrief noch gesagt: „Seid nüchtern“.
Macht euch kein Wunschbild von unserer Gemeinde und der Kirche im
Ganzen, auch nicht von euch selber, sondern nehmt alles, wie es
ist: mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Chancen und Risiken.
Schwierige Zeiten liegen hinter uns, aber rechnet nicht damit, dass
jetzt alles ganz einfach wird. Seid aber auch nicht auf Zahlen fixiert,
die zwangsläufig kleiner werden, so dass ihr nur noch schwarz seht.
Stattdessen rechnet ganz nüchtern mit der menschlichen Unzulänglichkeit,
aber auch mit den unberechenbaren Möglichkeiten des heiligen Geistes
und mit der Unverbrüchlichkeit von Gottes Verheißungen. Dann werden
die nächsten vier Jahre für unser Presbyterium und unsere Gemeinde
bestimmt eine gute Zeit, die unter Gottes Segen steht. Und der Friede
Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen
und Sinne bewahren in Jesus Christus.

Amen.

 

Predigt vom 19.2.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ESTOMIHI

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
19.2. 2012
Text: Amos 5,21-24.27

Ich hasse eure Feiertage und verachte
sie
und mag eure Versammlungen nicht riechen.
An euren
Speisopfern habe ich kein Gefallen
und mag auch eure fetten
Dankopfer nicht ansehen.
Tu weg von mir das Geplärr deiner
Lieder;
denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Stattdessen
sollte das Recht strömen wie Wasser
und die Gerechtigkeit
wie ein nie versiegender Bach.
Und ich will euch wegführen
lassen bis jenseits von Damaskus,
spricht der HERR.

Stellen Sie sich
vor, wir feiern hier in der Talkirche einen festlichen Gottesdienst.
In den Bänken wird es eng, sogar die Empore ist gut gefüllt. Auf
dem Altar steht das Abendmahlsgeschirr, silbern glänzend und frisch
poliert. Die Sonne scheint herein und taucht die bunten Chorfenster
in ein zauberhaftes Licht. Alle sind gut gelaunt und freuen sich
auf einen schönen, erbaulichen Vormittag. Beim Vorspiel zeigt Andrea
Stötzel, was sie kann und was die 28 Register der Mebold-Orgel an
wunderbaren Klängen hergeben. Nach der Begrüßung singt der Kirchenchor,
vielleicht spielen auch die Bläser aus Klafeld oder Setzen. Alle
haben fleißig geübt und tun ihr Bestes zur Ehre Gottes und zur Freude
der Gemeinde. Die will da natürlich nicht zurückstehen und singt
beim ersten Lied kräftig und fröhlich mit. Die Eingangsliturgie
nimmt ihren Lauf. Der Wochenpsalm wird gesprochen, und nach dem
Gebet will der Pastor gerade Amen sagen, da ruft in einer der hinteren
Reihen plötzlich jemand laut und vernehmlich: „Halt, hört auf damit!“

Der Pastor guckt
verdutzt, alle drehen sich um oder beugen sich über die Emporenbrüstung,
um zu sehen, was da los ist. Der Mann, der jetzt aus seiner Bankreihe
in den Mittelgang tritt, ist fremd in Geisweid. Auch in Setzen,
Buchen oder Birlenbach kennt ihn niemand. Was will der hier, und
was hat er bloß? Aber noch bevor irgendwer diese verwirrten Fragen
sortieren kann, beginnt der Mann mit erhobener Stimme zu sprechen:
„Hört auf! Gott hasst eure Festgottesdienste, und eure Abendmahlsfeiern
kann er nicht ausstehen. Eure Kollekten sind ihm egal, und er pfeift
auf eure großzügigen Spenden. Lasst ihn in Ruhe mit eurer ewigen
Singerei! Euer Getröte und Orgelgedudel geht ihm auf die Nerven.
Geht lieber nach Hause und setzt euch für eure Mitmenschen ein:
Besucht die Einsamen, kümmert euch um die Kranken, verteidigt die,
denen Unrecht geschieht, lindert mit eurem Geld die Not der Ärmsten,
statt es für teure Neubauten und Mikrofonanlagen rauszuschmeißen!
Aber weil ihr das ja sowieso nicht tun werdet, sage ich euch, dass
Gott euch strafen wird: Immer mehr Leute werden euch wegsterben
und aus der Kirche austreten, ihr werdet immer weniger Kirchensteuern
einnehmen, ihr werdet auf Pfarrer und anderes Personal verzichten
und noch mehr Häuser verkaufen müssen, bis ihr irgendwann nur noch
ein kleines, vergessenes Häuflein seid, das wehmütig der guten alten
Zeit nachtrauert. Wundert euch nicht, wenn es so kommt, denn ihr
habt es nicht besser verdient!“

Was würde wohl
nach diesem Auftritt passieren? Wahrscheinlich wäre erst einmal
Totenstille. Für einen Moment wären alle geschockt, und mancher
würde darüber nachdenken, ob der Mann nicht Recht haben könnte.
Aber dann würde sich wohl doch die Entrüstung Bahn brechen: „Das
ist ja wohl der Gipfel! Wie kann der sich nur so aufblasen? Wie
kann der sich einfach hier rein schleichen und unseren Gottesdienst
stören? Er ist ja noch nicht mal von hier! Wie kann er sich da herausnehmen,
über uns zu Gericht zu sitzen, und das auch noch im Namen Gottes?
Er kann doch gar nicht beurteilen, ob das wahr ist, was er uns vorwirft!
Der gehört bestimmt zu einer Sekte, zu irgend so einem Verein von
fundamentalistischen Spinnern, die glauben, dass sie die Wahrheit
für sich gepachtet haben.“ Dann würden Küster und Presbyter den
Störenfried wohl höflich aber bestimmt hinausexpedieren und ihm
für die Zukunft Hausverbot erteilen. Wahrscheinlich wäre der Vorfall
noch eine Zeitlang Stadt- und Dorfgespräch, vielleicht gäbe es auch
einen Artikel in der Siegener Zeitung mit anschließender Leserbriefdebatte,
aber irgendwann würde der nächste Aufreger kommen und das Ganze
in Vergessenheit geraten lassen.

Aber was wäre,
wenn der Mann tatsächlich im Namen Gottes reden würde? Wenn er ein
Prophet wäre, wie Amos einer war? Dessen Worte stehen heute in der
Bibel. Deshalb gehen wir davon aus, dass er recht hatte, als er
die Opfergottesdienste im Reichsheiligtum zu Bethel verurteilte
– wir haben es eingangs gehört. Die Israeliten, zu denen er sprach,
sind für uns Heuchler und Schurken: feiern prächtige Gottesdienste,
aber kümmern sich nicht um die Not der Armen. Dagegen gilt uns der
Prophet Amos als mutiger Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit und
für Gottes Gebot. Damals jedoch war diese Rollenverteilung keineswegs
klar. Die Menschen im Heiligtum von Bethel waren genauso überzeugt,
Gottesdienst zur Ehre Gottes zu feiern, wie wir das sind. Sie hielten
sich bestimmt mit nicht weniger Recht für anständige Menschen, wie
wir das heute auch tun. Und als der Priester Amazja Amos aus Bethel
nach Juda, in seine Heimat, abschob, da war er überzeugt, im Namen
Gottes zu handeln.

Könnten die Worte
des Amos also auch uns gelten, der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde
Klafeld im Jahre 2012 nach Christus? Geschähe uns Recht mit einer
solchen Strafpredigt? Wir sollten es uns mit der Antwort auf diese
Frage nicht zu einfach machen.

Natürlich gibt
es vieles in unserer Gemeinde, wofür wir froh und dankbar sein können:
Für die vielen engagierten Mitarbeiter, für den guten Gottesdienstbesuch
und das vielfältige Angebot, für das friedliche Miteinander, für
die endlich wieder soliden Gemeindefinanzen, für die vielen Menschen,
die oft ganz im Stillen viel Gutes tun. Wenn man wie ich auch schon
Gemeinden kennen gelernt hat, in denen es das alles kaum oder gar
nicht gab, weiß man diese Dinge sehr zu schätzen. Und ich denke,
dass sich auch Gott darüber freut.

Aber wenn an den
Worten des Amos etwas dran ist, dann ist das alles kein sanftes
Ruhekissen. Man kann sich wohl fühlen in der Gemeinde Klafeld, vieles
für sich mitnehmen und sich vielfältig einsetzen – das ist wahr
und das ist ein Grund zur Freude. Aber es steckt auch immer eine
Gefahr darin. Die Gefahr nämlich, dass die, die drin sind, sich
so wohl fühlen und so sehr mit sich selber beschäftigt sind, dass
sie gar nicht mehr an die denken, die draußen sind. Und das sind
nicht wenige, sondern es ist der Großteil unserer 7400 Gemeindeglieder
– von all den anderen, die um uns herum leben, ganz zu schweigen.
Haben wir uns damit abgefunden, weil es ja immer so war und immer
so bleiben wird, oder treibt es uns noch um?

Es gibt zum Beispiel
bei uns viele alte Menschen, die krank und ein-sam sind, und es
werden immer mehr. Etliche von ihnen haben sogar einmal dazugehört,
kamen zum Gottesdienst, waren im Chor oder in der Frauenhilfe, aber
jetzt sind sie draußen. Denken wir an sie? Werden wir auf sie aufmerksam,
wenn sie in unserer Nähe wohnen? Können wir uns um sie kümmern,
und wenn ja, wie?

Ein zweites Beispiel:
Wir haben zurzeit verteilt auf zwei Jahrgänge gut 150 Konfirmanden.
Und wir sind Träger eines Familienzentrums, das in fünf Tagesstätten
rund 250 Kinder betreut. Viele der Konfis und viele der jungen Familien
haben mit Kirche nicht wirklich was am Hut. Aber vielleicht ändern
sie ihre Meinung, wenn sie merken, dass sie uns willkommen sind,
dass wir bereit sind auf ihre Fragen, ihre Bedürfnisse einzugehen,
auch wenn es andere sind als unsere, so dass sie bei uns einen Platz
zum Dabeisein und Mitmachen finden. Sind wir dafür offen? Tun wir
genug dafür? Oder regen wir uns nur gern auf über Konfis oder Kindergarteneltern,
die sich in der Kirche nicht benehmen können – und gehen deshalb
zu Vorstellungs- oder Familiengottesdiensten, wo man ihnen begegnen
könnte, am liebsten gar nicht hin?

Drittes und letztes
Beispiel: Wir haben als Kirche immer auch einen gesellschaftlichen
Auftrag. Viele erwarten Orientierung von uns: Stellungnahmen zu
aktuellen Problemen und entsprechendes Handeln. Wir mögen uns damit
überfordert fühlen und es deshalb ganz gern den Hauptamtlichen und
den Experten überlassen, aber wir können trotzdem nicht daran vorbei.
Trauen wir uns noch, in Streitfragen eine christlich fundierte Position
zu beziehen, auch wenn wir dafür Prügel einstecken? Nehmen wir unser
Stück Verantwortung für die Geschicke dieser Welt wahr, auch wenn
es vielleicht nur ein sehr kleines Stück ist?

Das sind nur Fragen,
auf die ich keine fertigen Antworten habe. Aber ich finde, wir müssen
darüber nachdenken, und das immer wieder. Wir werden nie alle Probleme
lösen und alle Not beenden können, nicht einmal dann, wenn wir nur
an unsere engste Umgebung denken. Wir werden es auch nie erreichen,
dass alle unsere Gemeindeglieder sich auch am Gemeindeleben beteiligen.
Aber auch wenn wir im Kleinen anfangen, können wir viel bewegen.
Wir müssen es nur wollen und müssen es dann auch tun. Mit einem
„wir können doch eh nichts ändern“ gibt Gott sich jedenfalls nicht
zufrieden. Wenigstens das sollten wir uns von Amos hinter die Ohren
schreiben lassen.

Bevor ich meine
Predigt beende, muss ich allerdings noch ein mögliches Missverständnis
ausräumen. Wir könnten von den Worten des Amos her versucht sein,
Gottesdienst und Dienst am Menschen gegeneinander auszuspielen nach
dem Motto: Gerechtigkeit statt Gottesdienst, Arbeiten statt Beten.
Aber das wäre falsch. Im Gegenteil: Je mehr wir unsere Verantwortung
für unsere Mitmenschen wahrnehmen, desto dringender brauchen wir
den Gottesdienst. Denn wir müssen ja irgendwo Kraft schöpfen für
das, was wir tun. Wir brauchen Vergebung für das, was wir falsch
machen. Und wir brauchen die Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitchristen,
die uns Halt gibt. Sonst wird unser Handeln blinder Aktionismus,
und uns wird bald die Puste ausgehen. Damit ist keinem geholfen.
Gottesdienst und Dienst am Menschen gehören zusammen wie Einatmen
und Ausatmen. Also ist es gut, wenn wir auch weiterhin schöne Gottesdienste
feiern – mit Wort und Sakrament, mit Musik und mit Stille, mit Reden
und mit Hören, mit Ernst und mit Freude. Und wenn wir das ausgiebig
getan haben, dann können wir uns frisch gestärkt dorthin wenden,
wo Menschen uns brauchen. Gott segne uns dabei.

 Amen.

 

Predigt vom 22.1.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN DRITTEN
SONNTAG NACH EPIPHANIAS

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
22.1. 2012
Text: 2.Kön 5,1-19a

Der Predigttext
für den heutigen Sonntag ist eine Geschichte aus dem Alten Testament.
Sie eignet sich schlecht dazu, dass ich sie vorlese und dann darüber
predige – nicht nur, weil sie ziemlich lang ist. Deshalb möchte
ich Ihnen die Geschichte lieber einfach erzählen – so, wie ich sie
verstehe. Sie steht im zweiten Buch der Könige, im fünften Kapitel:

Vor sehr langer
Zeit, als es in Israel noch einen König gab, da lebte in Damaskus
in Syrien ein Aramäer namens Naaman. Naaman war das, was man heute
einen „Erfolgsmenschen“ nennt. Er war ein großer, kräftiger Mann
und zugleich ein kluger Kopf mit einem ausgeprägten Machtinstinkt.
Mit diesen Gaben ausgestattet war er Offizier geworden. Er hatte
sich in den ständigen Kriegen mit Israel bewährt und den Israeliten
eine Niederlage nach der anderen zugefügt. In Israel hasste man
ihn dafür und für die hohen Tributzahlungen, die man seinetwegen
nach Damaskus schicken musste. Aber der König von Syrien war natürlich
begeistert. Er machte Naaman zum Armeechef und zu seiner rechten
Hand. Dass der darüber auch reich wurde, versteht sich von selbst.

Eine Traumkarriere
also. Eigentlich hätte Naaman nun glücklich und zufrieden die Früchte
seines Erfolgs genießen können. Aber da war doch etwas, das ihm
die Freude am Leben vergällte: Naaman litt an einer schlimmen Hautkrankheit,
er war aussätzig. Das, was man da-mals Aussatz nannte, war zwar
nicht direkt lebensbedrohlich und auch nicht ansteckend. Aber Aussätzige
galten als unrein. Die Leute ekelten sich vor ihnen; sie machten
einen Bogen um sie, und sie stellten den gesellschaftlichen Verkehr
mit ihnen ein. Für einen Mann in Naamans Position war das natürlich
eine Katastrophe. Er konnte seine Pflichten bei Hofe nicht mehr
wahrnehmen und seine machterhaltenden Beziehungen nicht mehr pflegen.
Der König hielt zwar an ihm fest. Er vertraute weiter auf seinen
Rat. Aber auch das konnte sich rasch ändern. Kurz gesagt: Naamans
Lage war trotz all seiner Erfolge ziemlich verzweifelt.

Da kam Hilfe von
einer Seite, von der er das nie erwartet hätte. Bei einem seiner
letzten Raubzüge nach Israel hatte er ein israelitisches Mädchen
erbeutet. Er hatte es als Mitbringsel seiner Frau geschenkt und
dann vergessen. Aber eines Tages kam seine Frau zu ihm und sagte:
„Erinnerst du dich noch an das israelitische Mädchen, das du mir
mitgebracht hast? Sie hat mir heute etwas erzählt, das dich interessieren
wird: Ach, dass mein Herr doch bei dem Propheten in Samaria wäre,
hat sie gesagt. Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien.“ Naaman
war skeptisch: „Ein israelitischer Prophet soll mich heilen? Selbst
wenn er’s könnte – was ich bezweifle, so wie ich die Israeliten
kenne – ausgerechnet mich wird er bestimmt nicht heilen. Denen kommt
meine Krankheit doch gerade recht! Die hoffen doch bestimmt schon,
dass ich bald weg vom Fenster bin.“

Aber in der Not
greift man bekanntlich nach jedem Strohhalm. Also erzählte Naaman
seinem König von der Sache. „Du solltest hingehen“, sagte der. „Die
Israeliten sind zwar unsere Feinde, aber mir ist egal, wer dich
heilt. Hauptsache, du wirst wieder gesund. Ich brauche dich noch!
Außerdem sind die Israeliten besiegt und haben uns gefälligst zu
gehorchen. Ich werde dir einen Brief an den König von Israel mitgeben.
Da schreib ich rein: Wenn dieser Brief zu dir kommt, so wisse, ich
habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem
Aussatz befreist. Dann soll er halt zusehen, wie er das hinkriegt.
Also mach dich auf den Weg, und komm gesund wieder! “

Das war ein Befehl,
und als alter Soldat musste Naaman natürlich gehorchen. Mit angemessenem
Gefolge machte er sich auf den Weg nach Samaria. Gleich nach seiner
Ankunft überbrachte er dem König von Israel den Brief seines Herrn.
Der las das Schreiben und war entsetzt. „Was erwartet euer König
eigentlich noch alles von mir? Erst soll ich Tribut zahlen, dass
mir kaum das letzte Hemd bleibt, und jetzt soll ich auch noch Kranke
heilen! Was glaubt er denn, wer ich bin? Etwa ein Gott, der töten
und lebendig machen kann? Er sucht doch nur einen Anlass, damit
er einen neuen Krieg anfangen kann! Geh und sag deinem Herrn, dass
ich alles tue, was er will, aber er soll bitte keine Wunder von
mir erwarten!“

Das war’s. Naaman
verließ den Königspalast genauso krank, wie er ihn betreten hatte.
Er blieb noch ein paar Tage in Samaria, unschlüssig, was er tun
sollte. Die Heilung, die er suchte, hatte er nicht gefunden-den.
Aber er konnte doch auch nicht einfach unverrichteter Dinge wieder
nach Hause ziehen. Während er darüber nachdachte, ließ ihn der König
noch einmal zu sich rufen. „Es hat sich inzwischen her-rumgesprochen,
weshalb du hier bist“, sagte er. „Auch ein Gottesmann, der hier
in der Nähe wohnt, hat davon gehört. Er heißt Elischa. Der hat mir
sagen lassen, ich soll dich zu ihm schicken, damit du merkst, dass
ein Prophet in Israel ist.“ – „Ein Prophet“, dachte Naaman. „Auch
das israelitische Mädchen hat doch von einem Propheten gesprochen.
Vielleicht kann er ja tatsächlich was. Ich werd mal zu ihm gehen.
Schaden kann’s nicht!“

So machte er sich
auf den Weg zum Haus des Propheten Elischa. Um Eindruck zu machen,
nahm er sein ganzes Gefolge mit. Zu ihm hinein zu gehen war natürlich
unter seiner Würde. Er blieb vor der Tür auf seinem Wagen und wartete,
bis der Prophet sich zu ihm hinaus begeben würde, um ihn angemessen
zu begrüßen. Aber statt des Propheten selbst kam nur ein Bote, und
der überbrachte eine seltsame Nachricht: Geh hin und wasche dich
sieben Mal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil, und
du wirst rein werden.

„Wie bitte“, sagte
Naaman und merkte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. „Das
ist doch wohl eine Unverschämtheit! Das soll ein Gottesmann sein?
Da hab ich in Damaskus aber schon ganz andere gesehen. Die sind
zu dem Kranken hingegangen, haben inbrünstig die Augen verdreht,
salbungsvoll ihren Gott angerufen, theatralisch mit den Händen gewedelt,
und dann war der Kranke geheilt. So was in der Art habe ich hier
auch erwartet. Statt dessen soll ich mich im Jordan waschen – in
dieser trüben stinkenden Brühe! Dann hätte ich auch in Damaskus
in einen Fluss springen können! Da ist wenigstens das Wasser sauber.
Aber das ist mal wieder typisch Israel! Die reden nur immer von
ihrem Gott, aber man bekommt einfach nichts, was man sehen oder
anfassen könnte! Worte, Worte, immer nur Worte! Das ist wirklich
die mieseste Religion, die ich je kennen gelernt habe.“ Sprach’s,
wendete seinen Wagen und sprengte davon, Richtung Damaskus. Sein
Gefolge hatte Mühe, ihm zu folgen.

Als sie Naaman
dann doch wieder einholten, war seine Wut etwas abgeklungen. Deshalb
wagte einer seiner Diener ihn anzusprechen. „Herr“, sagte er, „wenn
dir der Prophet etwas Großes geboten hätte – langes Fasten zum Beispiel,
ein Brandopfer mit hundert Stieren oder eine Millionenspende an
die Prophetengenossenschaft – dann hättest du es doch getan, oder?“
– „Ja, schon“, gab Naaman zu. „Ich würde alles tun, um gesund zu
werden. Aber im Jordan baden – das ist doch einfach lächerlich!“
Der Diener ließ nicht locker. „Du vergibst dir doch nichts, wenn
du es versuchst“, sagte er. „Es ist doch nur eine Kleinigkeit, und
der Jordan ist gar nicht weit weg!“ Da gab Naaman schließlich nach.
„Na gut, ich probier’s. Aber wehe dir, wenn es nicht funktioniert!“

Also bogen sie
bei der nächsten Gelegenheit rechts ab und ritten zum Jordan hinunter.
Und wie Elischa gesagt hatte, stieg Naaman in den Fluss und tauchte
sieben Mal unter. Als er nach dem siebten Mal wieder auftauchte,
war das Wunder geschehen: seine Haut war wieder glatt und rein wie
bei einem Baby. Naaman erkannte sofort, dass das nicht am Wasser
liegen konnte. Wie oft hatte er in allem möglichen gebadet, und
es hatte nichts geholfen! Nein, es war das Wort des Propheten gewesen,
das dieses Wunder bewirkt hatte – das schlichte Wort, das er zuerst
so verachtet und dann doch befolgt hatte. Was musste das für ein
Gott sein, dem dieser Prophet diente! Ein Wort nur von ihm, durch
einen Menschen gesprochen, und alles war anders geworden: Er war
wieder gesund, er konnte wieder am Leben teilnehmen, aber noch mehr:
Er war ein anderer Mensch als vor seinem Bad im Jordan. Er beschloss,
noch einmal zu Elischa zurückzukehren und ihm zu danken.

Diesmal stieg
er ab von seinem Wagen und ging durch die niedrige Tür zu Elischa
ins Haus. „Nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen, außer
in Israel. Deshalb sag mir, wie ich dir danken kann – du kannst
von mir verlangen, was du willst!“ Aber Elischa sagte: „So wahr
der HERR lebt, vor dem ich stehe, ich nehme nichts von dir. Ihm
sollst du danken, nicht mir.“ – „Das will ich auch tun“, sagte Naaman.
„Ich werde nie mehr anderen Göttern opfern, sondern allein dem HERRN.“
Deshalb bitte ich dich nun um eine Gabe: „Lass mich zwei Maultierladungen
Erde aus Israel mitnehmen, damit ich deinem Gott auf seinem eigenen
Land opfern und zu ihm beten kann. Und noch etwas bitte ich dich:
Du weißt, ich bin in Damaskus eine hochgestellte Persönlichkeit.
Es gehört zu meinen Pflichten, dass ich den König begleite, wenn
er in den Tempel Rimmons geht, um dort zu opfern. Der HERR möge
mir verzeihen, wenn ich das auch weiterhin tue!“ Naaman war gespannt,
wie Elischa auf diese Bitten reagieren würde. Würde er die Sache
mit der Erde nicht für finsteren Aber-glauben halten? Und musste
er das Zugeständnis an die syrische Staatsreligion nicht als faulen
Kompromiss verurteilen? Ihm wurde klar, dass er im Grunde noch kaum
etwas über den Gott Israels wusste. Er kannte weder seine Gebote
noch die Art und Weise, wie man ihn verehrte. Er wusste nur eins:
Auf das Wort dieses Gottes konnte man sich verlassen. Er hatte ihn
geheilt und dafür schuldete er ihm sein Leben.

Elischa sagte
zuerst gar nichts. Weder Belehrungen, noch Ermahnungen, noch Vorwürfe.
Er schaute Naaman nur lange in die Augen, und dann sagte er: „Zieh
hin mit Frieden!“ Mehr nicht. Naaman wusste zuerst nicht, was er
damit anfangen sollte. War das nun eine Zustimmung oder eine freundliche
Absage an seine Bitten? Er wartete, ob Elischa noch etwas sagen
würde. Aber es blieb dabei: „Zieh hin mit Frieden!“ Und schließlich
wurde Naaman klar, was diese Worte für ihn bedeuteten: Ja, er hatte
das gefunden, was die Israeliten Schalom nannten: Frieden mit einem
feindlichen Volk und ihrem Gott, Gesundheit für seinen Körper, Heil
für seine Seele, und das hieß letztlich: Frieden mit sich selbst.
Diesen Frieden, diesen Schalom würde ihm niemand mehr nehmen können.
Er würde mit Frieden im Herzen nach Damaskus zurückkehren. Und alles
weitere würde sich dort finden. Es würde sich schon zeigen, wie
er dem Gott Israels auf seine Weise dienen konnte – auch als Nicht-Israelit,
auch in einem fremden Land. Denn er hatte ja am eigenen Leib erfahren,
dass dieser Gott keinen Unterschied machte zwischen Freund und Feind,
zwischen „uns“ und „denen“. Jeder konnte bei ihm Frieden finden,
so wie er. Getrost und voller Freude machte er sich auf den Heimweg.

Amen.

 

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