Predigt vom 15.7.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SESCHSTEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
15.7. 2012
Text: Apg 8,26-39

Aber der Engel
des Herrn redete zu Philippus und sprach: „Steh auf und geh nach
Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und
öde ist.“ Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus
Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin
von Äthiopien, welcher ihren ganzen Schatz verwaltete, der war nach
Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog er wieder heim und saß
auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. Der Geist aber sprach
zu Philippus: „Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!“ Da lief
Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte:
„Verstehst du auch, was du liest?“ Er aber sprach: „Wie kann ich,
wenn mich nicht jemand anleitet?“ Und er bat Philippus, aufzusteigen
und sich zu ihm zu setzen. Der Inhalt aber der Schrift, die er las,
war dieser: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und
wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen
Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben.
Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der
Erde weggenommen.« Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und
sprach: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich
selber oder von jemand anderem?“ Philippus aber tat seinen Mund
auf und fing mit diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das
Evangelium von Jesus. Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen
sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: „Siehe, da ist Wasser;
was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ Und er ließ den Wagen
halten, und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der
Kämmerer, und er taufte ihn. Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen,
entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Kämmerer sah
ihn nicht mehr; denn er zog seine Straße fröhlich.

 

Eine schöne Geschichte
ist das. Eine meiner Lieblingsgeschichten aus dem Neuen Testament.
Schon deshalb, weil sie mit dem Wort „fröhlich“ endet. Aber auch,
weil sie viel davon deutlich macht, wie man ein fröhlicher Christenmensch
wird. Also hab ich mich gefreut, dass ich mal wieder darüber predigen
darf. Aber als ich dann überlegt habe, wie ich das denn mache, da
habe ich auch wieder festgestellt, dass es gar nicht so einfach
ist, über diesen schönen Text zu predigen. Denn das, was hier berichtet
wird, scheint von uns heute unendlich weit weg zu sein.

Mal ganz zu schweigen
von Engelsbotschaften und Entrückungen durch den heiligen Geist,
fängt das schon bei der schlichten Beschreibung der Situation an:
Da sitzt also der äthiopische Finanzminister auf der Heimreise von
einer Pilgerfahrt nach Jerusalem auf seinem Wagen und liest den
Propheten Jesaja.

Ich habe versucht,
mir eine ähnliche Situation in unserer Zeit zu vorzustellen. Das
war gar nicht so einfach. Denn die Schwierigkeiten fangen schon
damit an, dass da jemand in einem Buch liest. Das ist heute überhaupt
nicht mehr selbstverständlich. Es werden zwar mehr Bücher gedruckt
und verkauft als je zuvor. Aber die Zahl derer, die sie auch lesen,
wird immer kleiner. Auch E-Books und Ähnliches ändern daran wenig.
Immer mehr junge Menschen reagieren nur noch auf visuelle Reize
aus dem Fernseher oder dem Computer. Mit einem längeren geschriebenen
Text können sie dagegen nichts mehr anfangen. Ihn zu entziffern
und dann auch noch zu verstehen, ist ihnen viel zu mühsam. Ich denke,
wir Theologen und Pfarrer müssen uns noch manche Gedanken machen,
was das für das Christentum als Buchreligion für Konsequenzen hat.
Immerhin: Damals gab es wahrscheinlich noch weniger Menschen, die
lesen konnten, und von einer höhergestellten Persönlichkeit wie
einem Minister wird man auch heute noch erwarten können, dass er
in der Lage ist, ein Buch zu lesen.

Aber dann taucht
gleich die nächste Schwierigkeit auf: Der Mann liest in der Bibel.
So weit, so gut. Aber wer tut das denn heute noch ernsthaft? Viele
können wie gesagt mit einem Buch überhaupt nicht mehr umgehen. Das
merke ich immer an unseren Konfirmanden: Die ersten scheitern schon
daran, die Bibel an der richtigen Stelle aufzuschlagen, die nächsten
daran, das, was da steht, zu entziffern. Ob sie auch verstehen,
was sie lesen, wage ich dann schon gar nicht mehr zu fragen. Aber
auch die Menschen, die gern und viel lesen, halten sich eher an
Belletristik oder aktuelle Sachbücher. Eine Bibel haben sie wohl
auch, aber die steht eher ungelesen im Regal. Selbst viele Theologiestudenten
lesen erstmals ausgiebig in der heiligen Schrift, wenn ihre Bibelkundeprüfung
ansteht. Aber immerhin: Wenn ich heute morgen im Gottesdienst eine
Umfrage machen würde, fände ich wahrscheinlich noch einige, die
durchaus öfter mal einen Blick in die Bibel werfen – vielleicht
sogar ganz freiwillig.

Aber dann geht’s
weiter: Wer heute noch in der Bibel liest, der tut das meistens
für sich allein im stillen Kämmerlein. Oder vielleicht noch mit
ein paar Gleichgesinnten in einem Bibelkreis. Aber die Bibel als
Reiselektüre? Im Zug oder im Bus? Selbst interessierte Bibelleser
kämen auf die Idee wohl kaum. Ich kann mich zwar an ein paar Situationen
erinnern, in denen ich das getan habe, aber dann war’s in der Regel
dienstlich. Und irgendwie wird man schon komisch angeguckt.

Nun war zwar die
Straße von Jerusalem nach Gaza ziemlich einsam, wie Lukas ausdrücklich
vermerkt. Lästige Beobachter gab es also kaum. Trotzdem muss diesen
Äthiopier sein Jesaja brennend interessiert haben. Sonst hätte er
die teure und schwer zu bekommende Schriftrolle erstens nicht gekauft
und zweitens nicht gleich auf der holprigen und anstrengenden Fahrt
zu lesen begonnen. Und wahrscheinlich wäre er sonst erst gar nicht
mehrere Tausend Kilometer nach Jerusalem gereist, um den Gott der
Juden anzubeten. Dieser äthiopische Hofbeamte war einer von denen,
die damals von ihrer alten Religion enttäuscht waren und deshalb
im jüdischen Glauben den Sinn ihres Lebens suchten. Das waren gar
nicht wenige, gerade unter den Gebildeten. Sie waren fasziniert
davon, dass es bei den Juden nur einen Gott gab und dass der sich
auch noch den Menschen zuwendete und ihnen gute Regeln zum Leben
gab. Einige dieser so genannten Gottesfürchtigen traten auch ganz
zum Judentum über und ließen sich beschneiden. Aber dieser Weg war
dem Äthiopier versperrt. Als Diener einer Königin war er ein Eunuch.
Und ein Verschnittener konnte und durfte nicht Jude werden. Trotzdem
ließ er nicht locker und versuchte, dem Gott Israels so nahe zu
kommen wie nur irgend möglich: indem er seinen Tempel besuchte und
indem er die Worte seiner Propheten las.

Wo gibt es solche
Menschen heute? Menschen die von Ideologien, Religionen und Kirchen,
auch christlichen, enttäuscht sind, die aber gerade deshalb in der
Bibel nach Antwort auf ihre Fragen suchen? Mag sein, dass das seltene
Vögel sind heutzutage. Mag aber auch sein, dass wir Christen ihnen
selbst nicht mehr die Botschaft vermitteln, dass die Bibel ein Ort
ist, an dem man überhaupt Antwort erwarten kann. Entweder, weil
wir meinen, die Bibel hätte uns schon alle Fragen beantwortet. Oder
weil wir selber aufgehört haben, Fragen an die Bibel zu richten.
Wenn wir aber auch als Christen die Bibel nur noch auf dem Altar
verstauben lassen und nicht mehr mit ihr leben, dann müssen wir
uns nicht wundern, wenn sich auch sonst niemand mehr für sie interessiert.

Aber zurück zur
Ausgangssituation. Da schickt also nun Gott den Philippus zu dem
Mann aus Äthiopien und lässt ihn fragen: „Verstehst du auch, was
du da liest?“ Wie würden Sie reagieren, wenn Sie gerade in der Bibel
lesen und diese Frage gestellt bekommen? Vielleicht würden sie sich
ertappt fühlen bei ihrem so ungewöhnlichen Tun. Vielleicht wären
Sie ärgerlich über die Störung. Vielleicht würden Sie beleidigt
antworten: „Natürlich verstehe ich, was ich lese. Ich bin ja schließlich
nicht blöd!“

Nun, blöd war
der äthiopische Minister auch nicht. Er war ein gebildeter Mann
und konnte dem Wortlaut seiner griechischen Bibelübersetzung sicher
spielend folgen. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man nur die
Worte versteht oder auch den Sinn begreift. Denn nur der Sinn des
Textes könnte ja auch Antwort geben auf die Fragen nach dem Sinn
des Lebens, die den Äthiopier offenbar umtreiben. Ihm fehlt das
Aha-Erlebnis, das ihn weiterbringen könnte. Vielleicht kann Philippus
ihm ja auf die Sprünge helfen, und deshalb kommt er ihm gerade recht.

Er ist bei Jesaja
53 hängen geblieben, einem der geheimnisvollen Lieder vom Gottesknecht.
Um zu begreifen, was da steht, müsste er wissen, von wem der Prophet
denn da eigentlich redet. Aber gerade das lässt der Text offen,
und die Gelehrten streiten sich bis zum heutigen Tag darüber. Ein
redlicher Bibelausleger könnte letztlich nur sagen: „Ich weiß nicht,
wer gemeint ist, weil sich das eben aus dem Text nicht eindeutig
erschließen lässt.“

Philippus freilich
weiß die Antwort. Zumindest kennt er eine Antwort, die dem Äthiopier
das ersehnte Aha-Erlebnis beschert. Aber diese Antwort hat er nicht
aus dem Text, sondern aus seinem Glauben. Er glaubt, dass das, was
Jesaja über den Gottesknecht sagt, sich in Jesus erfüllt hat: Er
ist der, der sich widerstandslos wie ein Lamm hat zur Schlachtbank
führen lassen. Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Strafe
auf sich geladen, damit wir Frieden hätten. Er hat in seiner Erniedrigung
das Gericht über unsere Schuld auf sich genommen. Und er ist dafür
von Gott zu neuem Leben erweckt worden.

Eine Antwort des
Glaubens, wie gesagt, nicht eine Antwort des Wissens. Aber dem Äthiopier
geht dadurch ein Licht auf: „Wenn das stimmt, wenn Jesus die Schuld
der ganzen Welt auf sich genommen hat, dann gilt das ja auch für
mich. Dann muss ich nicht Jude werden, damit der Gott Israels mein
Gott wird. Sondern dann begegnet mir dieser Gott in Jesus Christus.
Und kein Hindernis steht mehr zwischen ihm und mir. Ich darf zu
ihm gehören, und er will mein Gott sein.“ Jetzt, wo ihm das aufgegangen
ist, macht der Herr Finanzminister auch gleich Nägel mit Köpfen.
Die jüdische Beschneidung ist ihm verwehrt, aber die christliche
Taufe steht ihm offen. So wie für jeden Menschen, egal, welche Voraussetzungen
er mitbringt. Gleich am nächsten fließenden Gewässer setzt er seinen
Entschluss in die Tat um. Und dann kann er fröhlich weiterziehen.
Auch ohne Philippus, der ihm auf die Sprünge geholfen hat. Denn
jetzt hat er ja den Schlüssel selber in der Hand, mit dem er die
Bibel aufschließen und gewinnbringend lesen kann.

Wollte Gott, dass
das heute auch wieder öfter geschähe! Dass wir Menschen treffen,
die uns den Sinn der Bibel erschließen. Dass die Bibel zu uns redet
– ganz aktuell und ganz persönlich. Dass sie uns hilft, unser Leben
und unsere Welt zu verstehen und einen Sinn darin zu entdecken.
Ich glaube, dass sie das kann – immer noch und immer wieder. Und
wo ich helfen kann, Sie Ihnen aufzuschließen, will ich das gern
tun – zum Beispiel nächsten Mittwoch bei „Bibel im Gespräch“: herzliche
Einladung! Ich bin überzeugt: Wenn die Bibel wieder zu uns spricht,
dann werden auch wir unsere Straße fröhlich ziehen – mit Gottes
Wort als unseres Fußes Leuchte und als Licht auf unserm Wege.

Amen.

 

Predigt vom 17.6.2012

 

 

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr.. Martin Klein
Wenschtkirche,
17.6. 2012
Text: 1. Kor 14,1-4.15-19.23-25

Neulich beim Abendmahl
in der Wenschtkirche: Unter den Teilnehmenden befindet sich ein
Trupp Konfirmanden, der schon zuvor durch Kichern, Schwätzen und
Zappeln unangenehm aufgefallen ist und nun auch beim Mahl des Herrn
die Andacht stört. Als die Presbyterin auch an die Konfis die kleinen
Kelche austeilt und dabei wie üblich sagt: „Christi Blut, für dich
vergossen“, wird sie dann noch prompt und deutlich hörbar gefragt:
„Was hast du gesagt?“

Damit ist der
Gipfel erreicht. Alle sind sich einig, dass das so nicht geht. Mit
den Konfis wird nach dem Gottesdienst ein ernstes Wort geredet,
und sie werden ohne Unterschrift nach Hause geschickt. Presbyter
bringen die Sache in der nächsten Sitzung zur Sprache. Und eine
ältere treue Gottesdienstbesucherin sagt: „Wenn ich noch mal so
ein Abendmahl erlebe, gehe ich da nicht mehr hin!“

Ich war in diesem
Gottesdienst nicht dabei. Aber ich kann die Empörung gut verstehen.
Auch ich hätte mich wahrscheinlich gestört gefühlt. Und vielleicht
hätte mich gar so ein kleiner heiliger Zorn gepackt über soviel
Missachtung von Dingen, die das Herzstück meines Glaubens bilden.
Aber die Frage „Was hast du gesagt?“, die hat mich ins Nachdenken
gebracht. Vielleicht war sie tatsächlich einfach nur albern, frech
und unpassend. Aber es könnte auch sein, dass sich hinter der Albernheit
ein echtes und ernst gemeintes Anliegen verbirgt: „Was hast du da
gesagt? Ich verstehe es einfach nicht – bitte erklär’s mir!“

Denn wir müssen
uns ja mal klar machen, wie das für einen Durch-schnitts-Konfi ist,
wenn er einen unserer Gottesdienste besucht. Erst einmal befindet
er oder sie sich in einem Lebensalter, wo Körper und Geist einem
tief greifenden Umbau unterworfen sind. Da wird sozusagen alles
auseinander genommen und neu zusammengesetzt. Wie man sich in welcher
Situation angemessen verhält, muss man auf dem Weg vom Kind zum
Erwachsenen noch mal ganz neu lernen. Schon das allein erzeugt große
Unsicherheit, und die wird dann gern durch Coolness oder Albernheit
überspielt. Dazu kommt, dass die meisten Konfis bisher nur selten
in der Kirche waren und wahrscheinlich nie in einem ganz „normalen“
Sonntagsgottesdienst. Natürlich erklären wir ihnen beizeiten, was
es mit dem Gottesdienst auf sich hat, warum er so und nicht anders
abläuft, und wie man sich da angemessen verhält. Aber erklären hilft
nicht viel. Es muss dann auch eingeübt werden. Und das geht nicht
ohne Komplikationen ab, selbst wenn es gelingt. Etwas aber steht
dem Gelingen ganz entscheidend im Weg, nämlich dass die meisten
Konfis unsere gewohnte gottesdienstliche Sprache schlicht und einfach
nicht verstehen. Was heißt denn „im Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes“? Was heißt „Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten“? Was heißt: „dein
Reich komme“? Was heißt: „der Herr lasse sein Angesicht leuchten
über dir?“ Oder eben: Was bedeutet „Christi Blut, für dich vergossen“?
Uns sind diese Worte vertraut. Uns tut es gut, sie zu hören oder
mitzusprechen. Aber könnten wir sie auch in normale Alltagssprache
übersetzen? Und haben wir schon mal versucht, sie einem Kind oder
Jugendlichen zu erklären? Wenn ja, dann können wir, denke ich, nachempfinden,
dass das alles zwar deutsche Wörter sind, dass wir aber für unbedarfte
Konfi-Ohren genauso gut die lateinische Messe wieder einführen oder
in charismatisches Zungenreden verfallen könnten.

Ja, es stimmt:
Unsere kirchliche Insider-Sprache nimmt heute genau die Stellung
ein, die zu Luthers Zeiten das Kirchenlatein und zur Zeit des Paulus
die Zungenrede innehatte. Sie werden das sofort merken, wenn ich
Ihnen nun den heutigen Predigttext vorlese. Er steht im 1. Korintherbrief
im 14. Kapitel:

 

Bemüht euch
um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen
Rede! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern
für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist
von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen
zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet,
der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die
Gemeinde.

Wie soll es
denn nun sein? Ich will beten mit dem Geist und will auch beten
mit dem Verstand; ich will Psalmen singen mit dem Geist und will
auch Psalmen singen mit dem Verstand. Wenn du Gott lobst im Geist,
wie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen auf
dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst? Dein Dankgebet
mag schön sein; aber der andere wird dadurch nicht erbaut. Ich danke
Gott, dass ich mehr in Zungen rede als ihr alle. Aber ich will in
der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit
ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen.

Wenn nun die
ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen,
es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht
sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn sie aber alle prophetisch redeten
und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von
allen geprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen
ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht,
Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.

 

„Zungenrede“ ist
natürlich auch so ein Wort, das heute kein Normal-sterblicher mehr
kennt. „Zunge“ ist hier im Sinne von „Sprache“ zu verstehen. Gemeint
ist ein vom Geist Gottes bewirkter Zustand der Ekstase. Die Betroffenen
geraten außer sich und geben dabei Laute und Worte von sich, die
in der Regel keiner real existierenden Sprache entstammen und einem
unbeteiligten Zuhörer deshalb unverständlich sind. In den frühen
Zeiten der Christenheit, als die Begeisterung noch frisch war, wurde
viel in Zungen geredet. Und in Korinth wurde diese Geistesgabe besonders
hoch geschätzt. Eine maßgebliche Gruppe in der Gemeinde hat sie
wohl als „Sprache der Engel“ gedeutet und zum Kennzeichen der wahrhaft
vollkommenen Gläubigen gemacht. Wer in Zungen redet, der schwebt
in ihren Au-gen sozusagen schon im Himmel, ist eins mit Gott und
allem Irdischen enthoben.

Paulus hat da
grundsätzlich gar nichts gegen einzuwenden. Im Gegenteil: Er sagt
von sich, dass er mehr in Zungen redet als alle an-deren und Gott
dafür dankbar ist. Er weist der Zungenrede nur ihren Platz zu, nämlich
im privaten Bereich, in der ganz persönlichen Erbauung. Dort ist
sie eine wunderbare Bereicherung und Stärkung des Glaubens. Aber
im Gemeindegottesdienst hat sie nichts verloren – höchstens dann,
wenn sie jemand in normale Sprache „übersetzen“ kann und sie so
für andere nachvollziehbar und fruchtbar macht.

Wir sehen daran,
dass der Gottesdienst für Paulus gerade keine fromme Insider-Veranstaltung
ist. Es gibt dort viele Gemeindeglieder, die die Gabe der Zungenrede
nicht besitzen. Und die haben gar nichts davon, wenn da jemand in
„Engelszungen“ redet, so toll das für die Betreffenden auch
sein mag. Sie können dazu nicht Amen sagen und es sich zueigen machen.
Sie können nicht im Glauben wachsen, wenn das Wort Gottes nicht
bei ihnen ankommt. Und außerdem geht Paulus davon aus, dass jederzeit
auch Nichtchristen im Gottesdienst auftauchen können. Wenn die erleben,
dass da erwachsene Menschen mit seligem Lächeln im Gesicht unverständliches
Zeug brabbeln, dann denken sie: „Hilfe, wie bekloppt sind die denn?“,
drehen sich um und verlassen fluchtartig das Haus. Schade um die
verpasste missionarische Gelegenheit!

Deshalb stellt
Paulus der Zungenrede die Prophetie gegenüber und räumt ihr die
höhere Stellung ein. Auch was Prophetie ist, muss man erklären.
Für uns ist ein Prophet landläufig einer, der die Zukunft vorhersagt.
Und natürlich ging es auch damals bei Prophetie um die Ansage zukünftiger
Dinge – nicht im Sinne von Zukunftsforschung oder Science-Fiction,
sondern bezogen auf die Wiederkunft Christi, die man ja damals in
naher Zukunft erwartete. Aber hier meint Paulus wohl mit Prophetie
ganz allgemein die vollmächtige Verkündigung des Wortes Gottes.
Auch sie ist nichts, was Menschen machen könnten, sondern eine Gabe
des Heiligen Geistes. Aber sie ist nicht wie die Zungenrede auf
Ekstase aus, sondern auf Kommunikation. Sie spricht nicht das Gefühl
an, sondern die Vernunft. Und sie bleibt deshalb nicht auf die persönliche
Erbauung beschränkt, sondern dient dem Aufbau der Gemeinde. Deshalb
gehört sie und nicht die Zungenrede in den Gottesdienst. Denn erst
wenn jemand wirklich versteht, was da im Namen Gottes gesagt wird,
kann er oder sie erkennen: „da geht es ja um mich, um mein Leben,
meine Schuld, mein Verhältnis zu Gott“, und erst dann kann ihr oder
ihm aufgehen: „Wahrhaftig, hier ist Gott gegenwärtig.“

Zungenrede, wie
Paulus sie erlebt und erfahren hat, gibt es auch heute noch. In
der wachsenden charismatischen Bewegung erfreut sich ähnlich großer
Beliebtheit wie damals in Korinth. Dazu wäre von Paulus her sicher
manches Kritische zu sagen. Aber ich möchte hier ja keine Fensterreden
halten und bleibe deshalb bei unserer traditionellen Gottesdienstsprache;
denn sie halte ich, wie gesagt, für unsere Form der Zungenrede.

Ich will diese
Sprache damit keinesfalls abwerten. Das dürfte schon klar sein,
wenn man beachtet, wie Paulus die Zungenrede einschätzt. Für mich
und für alle, die mit ihr vertraut sind, ist auch sie eine gute
Gabe Gottes. Wir lieben sie und möchten sie nicht missen. Wir fühlen
uns getröstet und aufgehoben, wenn wir den Psalm 23 nach Luthers
Übersetzung hören. Uns geht das Herz auf, wenn wir die schönen alten
Paul-Gerhardt-Lieder singen. Und wenn uns jemand zuspricht: „Christi
Blut, für dich vergossen“, dann spüren wir etwas von der heilvollen
Gegenwart Christi, die damit ausgesagt werden soll, dann fühlen
wir uns dem Geheimnis unseres Glaubens ganz nah. Nach einem Gottesdienst,
der in gelungener Weise mit dieser altvertrauten Sprache umgegangen
ist, werden wir mit einem guten Gefühl die Kirche verlassen und
denken: „Das war ein richtig schöner und erbaulicher Gottesdienst!“
Und was wir gehört, gesungen und gebetet haben, wird uns nach Hause
begleiten und Kraft geben für den All-tag.

Wie gesagt: Ich
danke Gott von Herzen, dass ich diese Sprache noch von klein auf
habe lernen dürfen und dass ich daraus täglich neu Gewinn für meinen
Glauben und mein Leben ziehen kann. Aber wir sehen es ja an der
schwindenden Zahl derer, die unsere Gottesdienste noch regelmäßig
besuchen: die meisten Menschen in unserem Land, ja selbst die meisten
Mitglieder unserer Kirche verstehen diese Sprache nicht mehr, haben
sie nie verstanden und werden sie aller Vor-aussicht nach auch nicht
mehr lernen. Denn eine Fremdsprache zu lernen macht Mühe – das wissen
die meisten von uns aus der Schule –, und wenn ich nicht weiß, wofür
es gut sein soll, tue ich mir das nicht freiwillig an. Aber andererseits
sitzen diese Menschen ja durchaus in unseren Gottesdiensten: als
Konfirmanden, als Kindergarteneltern, als Gäste bei einer Taufe,
Trauung oder Beerdigung. Oft sind sie dann sogar in der Mehrheit
– und wir regen uns auf, wenn sie nicht wissen, wie man sich in
der Kirche benimmt, und wenn sie uns damit die persönliche Erbauung
verderben.

Von Paulus her
müssen wir allerdings ganz klar sagen: Sie alle haben ein Recht
dort zu sein, auch wenn sie uns stören. Ja, gerade um sie geht es,
wenn wir Gottesdienst feiern. Unsere persönliche Erbauung in den
vertrauten Worten und Formen, die können wir auch für uns allein
oder im kleinen Kreis von Gleichgesinnten finden. Aber der Gottesdienst
ist und war schon immer eine öffentliche Veranstaltung. In ihm geht
es eben nicht um die Erbauung des Einzelnen, sondern um den Aufbau
der Gemeinde. Der geschieht dadurch, dass Menschen im Glauben wachsen
und ihren Platz in der Gemeinde finden. Und er geschieht dadurch,
dass Menschen, die keine Christen sind, dort dem lebendigen Gott
begegnen, umkehren und als Glied am Leib Christi ein neues Leben
beginnen.

Damit das gelingt,
braucht es auch heute die Gabe der Prophetie: Verkündigung des Wortes
Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes und in einer Sprache, die
jeder verstehen kann. Und wenn ich dann in einem Gottesdienst nur
fünf Worte sage, die bei den Konfis wirklich ankommen und ihnen
Gott näher bringen, dann ist das tausendmal mehr wert, als die beste
Predigt, der schönste Choral, das andächtigste Gebet, von dem sie
nichts verstehen.

Was heißt das
nun für uns als Gottesdienstgemeinde? Es heißt erstens, so schwer
uns das fallen mag: Wir müssen es ertragen lernen, wenn Menschen
zu uns kommen, die unsere gewohnte Ordnung stören. Denn sie haben
ein Recht, dort zu sein und Gott zu begegnen, und wir sollten froh
sein, wenn sie wenigstens gelegentlich davon Gebrauch machen, auch
wenn es für sie erst mal ganz andere Gründe haben mag, warum sie
dort hinkommen, auch wenn sie sich in unseren Augen „danebenbenehmen“,
weil sie es nicht besser wissen.

Zweitens müssen
wir uns noch viel mehr darum bemühen, unseren Glauben in den Worten,
der Musik, den Formen unserer Zeit auszudrücken, auch wenn wir dabei
auf manches verzichten müssen, was uns lieb und teuer ist. Wir müssen
die Frage „Was hast du da gesagt?“ ernst nehmen und darauf antworten
können. Denn sonst wird die Sprache unseres Glaubens eines nicht
fernen Tages so tot sein wie Babylonisch oder Altgriechisch. Das
ist natürlich in erster Linie eine Aufgabe für die Pfarrer und alle
anderen, die mit der öffentlichen Verkündigung beauftragt sind.
Aber es ist wichtig, dass mit ihrer Unterstützung auch andere Christen
sprachfähig werden, um den Menschen um sie herum ihren Glauben weitergeben
zu können – in Wort und Tat.

Und drittens –
das ist das Entscheidende – : Wir dürfen alle miteinander nicht
nachlassen, Gott immer wieder um die Gabe der Prophetie zu bitten,
wie Paulus sie versteht. Denn wir haben sie ja nicht in der Hand,
die richtigen Worte, mit denen Gott zu den Menschen reden kann.
Sie sind ein Geschenk des Heiligen Geistes. Natürlich kann er auch
unsere „Zungenrede“ auslegen und so Menschen für Christus gewinnen.
Aber wenn Paulus recht hat, spricht er doch lieber eine einfache,
klare Sprache, die auch der letzte geistliche Analphabet begreifen
kann. Wenn das geschieht – und ich glaube, es geschieht auch bei
uns öfter, als wir denken –, dann wird auch der hibbeligste Konfirmand
keinen Quatsch mehr machen. Dann wird auch die ahnungsloseste Kindergartenmutter
ihren Fotoapparat vergessen. Dann wird auch der kirchenfernste Konfirmationsgast
nicht mehr zwischendurch rauchen gehen. Sondern sie alle werden
begreifen: „Hier geht es um mich, hier redet Gott, und ich will
hören, was er zu sagen hat.“ Weil das so ist, gehört das Lied von
Manfred Siebald, das wir gleich singen, noch zur Predigt: „Gib mir
die richtigen Worte, gib mir den richtigen Ton: Worte, die deutlich
für jeden von dir reden, gib mir genug davon!“

Amen.

 

Predigt vom 25.3.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
JUDIKA

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
25.3. 2012
Text: Num 21,4-9

Ich nehme an dieses
Zeichen haben Sie alle schon mal irgendwo gesehen. Es ist der so
genannte Äskulap-Stab, das Berufssymbol der Ärzte. Dieses Symbol
ist schon uralt. Äskulap oder Asklepios war der Gott der Heilkunst
bei den alten Griechen. Warum sein Zeichen gerade die Schlange war,
ist nicht ganz klar, aber auf jeden Fall stand der Äskulap-Stab
für die heilsamen Kräfte, die von diesem Gott ausgingen.

Und die Ärzte
waren Menschen, die versuchten, im Namen des Asklepios Menschen
zu helfen. Unsere heutige Medizin hat mit der von damals nicht mehr
viel zu tun. Trotzdem verwendet sie den Äskulap-Stab immer noch
als Zeichen für das, was ihr Auftrag ist: nämlich kranken Menschen
nach bestem Wissen und Gewissen Linderung und Heilung zu bringen.

Unser heutiger
Predigttext handelt von einem Zeichen, das dem Äskulap-Stab ganz
ähnlich ist: sowohl äußerlich als auch der Bedeutung nach; denn
auch bei diesem Zeichen geht es um Heilung und Rettung. Was es damit
auf sich hat, lesen wir im vierten Buch Mose, im 21. Kapitel:

 

Da brachen sie
auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land
der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege
und redete gegen Gott und gegen Mose: „Warum hast du uns aus Ägypten
geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch
Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.“ Da sandte
der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk,
dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen:
„Wir haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet
haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme.“ Und
Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: „Mache dir eine
eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen
ist und sieht sie an, der soll leben.“ Da machte Mose eine eherne
Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange
biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

 

Die eherne Schlange.
Als der Predigttext entstand, konnte sie noch jeder Israelit leibhaftig
anschauen. Sie stand für alle sichtbar an einem Ehrenplatz im Tempel
von Jerusalem. Wahrscheinlich stammte sie noch von den Jebusitern,
die Jerusalem bewohnt hatten, bevor König David die Stadt eroberte.
Aber in Israel erzählte man sich, dass Mose diese Schlange gemacht
habe. Und die Geschichte aus dem vierten Buch Mose berichtet, wie
das kam.

Sie versetzt uns
zurück in die Zeit, als die Wüstenwanderung Israels ihrem Ende zuging.
Die Sklaverei in Ägypten lag nun schon viele Jahre zurück. Das verheißene
Land war nahe und doch immer noch fern, denn feindliche Völker versperrten
den Weg. Kurz vor dem Ziel mussten sie noch einen weiten Umweg machen,
um das Land Edom zu umgehen. Und sie hatten die Wüste gründlich
satt. Immer nur Sand und Steine. Immer die mühsame Suche nach Wasser
und etwas Essbarem. Immer wieder der gleiche Trott: Zelte abbrechen,
stundenlang marschieren mit Sack und Pack durch glühende Hitze,
dann abends Lager aufschlagen, Zelte aufbauen und erschöpft auf
die harte Strohmatte sinken. Und dann alles wieder von vorn. Und
kein Ende abzusehen. Verglichen damit war Ägypten das reinste Paradies
gewesen, dachten sie jetzt. Kein Gedanke mehr daran, wie sie sich
dort zu Tode schuften mussten für den Pharao. Längst vergessen die
Angst am Schilfmeer, als die ägyptischen Verfolger immer näher rückten.
Jetzt kannten sie nur noch einen Gedanken: Endlich mal irgendwo
bleiben können und wieder richtig satt werden! Doch Mose, ihr Anführer,
trieb sie immer weiter. Sprach von dem Land, wo Milch und Honig
fließt, an das sie kaum noch glauben konnten. Und Gott wollte es
offenbar so haben. Aber sie wollten nicht mehr, sie hatten die Faxen
dicke. Und sie machten ihrem Ärger Luft: gegen Mose und gegen Gott.

Aber Gott hatte
auch die Nase voll. Was hatte er nicht alles getan für dieses undankbare
Volk! Hatte sie aus Ägypten befreit, hatte sie gerettet am Schilfmeer,
hatte einen Bund mit ihnen geschlossen am Berg Sinai, hatte ihnen
in der Wüste immer wieder ausgeholfen mit Wasser und Manna, hatte
ihnen Siege über ihre Feinde verschafft. Und was hatte er dafür
geerntet? Immer nur Murren und Knurren, Undank und Halsstarrigkeit.
Und das auch jetzt noch, wo sie fast am Ziel waren! Ihn packte der
Zorn, und den bekamen die Israeliten zu spüren. Plötzlich wimmelte
das Lager von giftigen Schlangen. Überall kamen sie hervor gekrochen,
und es gab kein Entrinnen. Wer gebissen wurde starb – und es wurden
viele gebissen.

„Not lehrt beten“,
sagen wir, und bei den Israeliten war das nicht anders. „Bitte den
HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme“, riefen sie Mose zu.
Eben noch hatten sie sich über Gott beklagt, jetzt war er ihre letzte
Hoffnung. Eine ganz natürliche Reaktion. Aber es war doch mehr als
nackte Angst, was sie antrieb. Sie hatten auch eingesehen, dass
ihr Ärger zwar verständlich, aber falsch und undankbar war: „Wir
haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet
haben.“ Diese Einsicht, nicht der Hilfeschrei, gab den Ausschlag:
Mose legte Fürbitte bei Gott ein, und Gott erhörte ihn.

Allerdings ließ
er die Schlangen nicht einfach sang- und klanglos verschwinden.
Statt dessen gab er den Leuten ein Zeichen. Gerade ein Abbild der
Gefahr sollte die Gefahr besiegen. Ein Blick auf die Schlange aus
Erz machte das Gift der echten Schlangen unschädlich. Wer das Bild
der todbringenden Schlange ansah blieb am Leben.

Ein seltsames
Zeichen. Und eine seltsame Geschichte. Ich denke, viele von Ihnen
haben sie nur mit innerem Widerstreben angehört. So mögen wir uns
Gott nicht vorstellen: so zornig und so brutal. Und das mit der
Schlange klingt mehr nach Zauberei als nach Glaube und Gottvertrauen.

Trotzdem denke
ich: Die Geschichte ist als Bild für unsere Wirklichkeit nicht überholt.
Auch wir kennen doch das Gefühl der Müdigkeit und der Resignation.
Zum Beispiel wenn man sich jahrelang bemüht, ein Problem zu lösen,
und feststellen muss, dass es nur immer schlimmer wird. Zum Beispiel
wenn man sich tagaus, tagein krumm legt für seinen Job und dann
eines Tages gesagt bekommt: „Tut uns leid, aber wir müssen Ihnen
kündigen – betriebsbedingt, sie verstehen schon!“ Zum Beispiel wenn
man sich immer nach Kräften um seine Kinder oder um die alten Eltern
bemüht hat und dafür nur Undank und Vorwürfe erntet. Zum Beispiel,
wenn man schwer krank ist und alles auf sich nimmt, was die Kasse
zahlt, um gesund zu werden, und es hilft doch alles nichts.

Dann sind wir
schnell so weit, dass wir nur noch das Negative sehen und das Gute
nicht mehr wahrnehmen. Warum krieg eigentlich immer ich alles ab?
fragen wir uns dann. Warum hilft mir keiner? Warum bekomme ich nie
eine Anerkennung für meine Mühen? Warum lässt Gott mich ganz allein
mit meiner Lebenslast? Warum lässt er mich nicht gesund werden?

Schickt Gott uns
auch giftige Schlangen, wenn wir so denken? Vielleicht nicht im
wörtlichen Sinne. Aber die Konsequenzen unserer Resignation können
uns genauso quälen. Unsere Giftschlangen heißen vielleicht Verbitterung
und Verzweiflung. Hass auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen.
Ausbrüche von Wut und Gewalt. Zukunfts- und Todesangst. Ich wäre
vorsichtig, zu sagen, dass das so ist, weil Gott zornig auf uns
ist. Aber das Gefühl kann man schon manchmal haben. Und dass all
diese Dinge die Strafe sind für verlorenes Gottvertrauen, das kann
ich durchaus so sehen.

Aber wie kommen
wir da raus? Was rettet uns vor dem, was unser Leben vergiftet und
zerstört? Ein Zeichen. Ein Zeichen, das Gott setzt, so wie die eherne
Schlange: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss
der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben haben. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Diese Worte aus
dem Johannesevangelium machen uns klar, was das Zeichen der Schlange
mit der Passionszeit zu tun hat. Denn wenn Jesus hier von seiner
Erhöhung redet, dann meint er seine Erhöhung ans Kreuz. Wie die
Schlange hängt er am Holz, aufgerichtet zwischen Himmel und Erde.
Und auch das Kreuz ist ein seltsames Zeichen: Kein Zeichen des Sieges,
der Macht und des Lebens, sondern der Niederlage, der Ohnmacht und
des Todes. Wie die Schlange ist das Kreuz ein Symbol für das, was
unser Leben bedroht. Und wie die Schlange, so überwindet auch das
Kreuz das, wofür es steht. Jesu Qual lindert unsere Qual, seine
Verzweiflung überwindet unsere Verzweiflung, sein Tod besiegt unsere
Todesangst.

Vorausgesetzt,
wir richten unseren Blick auf dieses Kreuz. Vorausgesetzt, wir versuchen
es nicht zu verdrängen, wie wir es so gern mit allem machen, was
uns an Leid, Schuld und Tod erinnert. Vorausgesetzt, wir lassen
für uns wahr sein, was am Kreuz geschehen ist. Nicht dass das Zeichen
des Kreuzes ungültig würde, wenn wir es nicht beachten. Nicht, dass
wir es dadurch ungeschehen machen könnten. Aber unser Leben hier
und jetzt kann es nur heil machen, wenn wir das zulassen.

Wir Reformierten
haben’s ja nicht so mit Bildern und Symbolen. Wir können eher den
frommen König Hiskia verstehen, der die eherne Schlange im Tempel
von Jerusalem zerschlagen ließ, weil er sie als heidnisches Relikt
und eine Quelle des Aberglaubens betrachtete – wahrscheinlich nicht
ganz zu Unrecht. Auch gegenüber dem Kreuz als sichtbarem Symbol
sind wir eher zurückhaltend – dass wir es hier in der Talkirche
auf einem der Chorfenster sehen können, sogar mit Jesus dran, das
ist ja eher ungewöhnlich für eine reformierte Kirche. Und es kommt
ja auch nicht darauf an, dass das Kreuz irgendwo als Stück Holz
in der Kirche oder im Gemeindehaus hängt. Wichtig ist nur, dass
wir das, wofür das Kreuz steht, in immer vor Augen haben: bei unseren
Gottesdiensten, aber zum Beispiel auch bei unseren Presbyteriumssitzungen,
und im täglichen Leben sowieso. Damit es uns erinnert an das Leiden
Jesu und an die Leiden der Menschen in unserer Gemeinde und anderswo.
Damit es uns Kraft gibt, wenn uns die Arbeit am Reich Gottes ein
Kreuz zu werden droht. Und damit wir immer wissen, warum wir Christen
sind und als Christen handeln. Nämlich damit wir uns mit Wort und
Tat und mit Geld und Gut dafür einsetzen, Menschen auf das Zeichen
des Kreuzes hinzuweisen und ihnen Wege zu erfülltem Leben zu zeigen.
Gott segne uns dabei.

Amen.

 

Predigt zur Einführung des Presbyteriums

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
OKULI

zur Einführung des Presbyteriums

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
11.3. 2012
Text: 1. Petr 1,13-21

Darum
umgürtet die Lenden eures Denkens, seid nüchtern und setzt eure
Hoffnung ganz auf die Gnade, die zu euch gebracht wird in der Offenbarung
Jesu Christi. Als gehorsame Kinder gebt euch nicht den Begierden
hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet; sondern
wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig
sein in eurem ganzen Wandel. Denn es steht geschrieben: »Ihr sollt
heilig sein, denn ich bin heilig.«

Und da ihr
den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet
nach seinem Werk, so führt euer Leben, solange ihr hier in der Fremde
weilt, in Gottesfurcht; denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem
Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der
Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen
und unbefleckten Lammes. Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt
Grund gelegt wurde, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen,
die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn auferweckt hat von den
Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung
zu Gott habt.

 

Wer auch immer
diesen Brief im Namen des Apostels Petrus geschrieben hat, er war
jedenfalls keiner, der sich mit halben Sachen zufrieden gibt. „Ihr
sollt heilig sein in eurem ganzen Wandel“ – das fordert er von den
Christen in Kleinasien, an die er schreibt. Und er tut es mit großer
Selbstverständlichkeit. Christ sein und heilig sein, das ist für
ihn ganz dasselbe.

So wie wir üblicherweise
das Wort „heilig“ verstehen, können wir das wohl kaum nachvollziehen.
Wenn ich hier in der Kirche eine Umfrage machen würde zu der Frage:
„Empfinden Sie sich in Bezug auf Ihren Lebenswandel als heilig oder
streben Sie es wenigstens an?“ Ich denke, dann würden alle Befragten
das weit von sich weisen – auch die neu oder wieder gewählten Presbyter.
„Heilig? Ich? Nie und nimmer! Sicher, ich bemühe mich. Ich lebe
nach den Zehn Geboten, so gut ich kann. Ich glaube an Gott, ich
setze mich ein für die Gemeinde, ich versuche meine Mitmenschen
freundlich und anständig zu behandeln. Aber heilig? Das bin ich
nicht. Das möchte ich, glaube ich, auch gar nicht sein. Überhaupt:
Gibt es Heilige nicht nur bei den Katholiken? Und muss man dafür
nicht schon tot sein?“

Und wenn doch
jemand meine Frage allen Ernstes mit Ja beantworten würde? – „Heilig?
Ja, passt schon! Ein Heiliger zu sein, das ist mein großes Ziel,
und ich bin da schon ein gutes Stück vorangekommen.“ – Dann wäre
„ein bisschen überspannt“ wohl noch einer der freundlicheren Kommentare.

Tja, so ist es.
Bezüglich der Qualität unseres Lebenswandels eher tief zu stapeln,
das ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Alles andere gilt
als selbstgerecht und unbescheiden und außerdem als taktisch unklug
– es könnte ja jemand was rauskriegen! Aber seltsam: Von anderen,
besonders von den Inhabern höherer Ämter, erwarten wir dann doch
die Einhaltung moralischer Qualitätsstandards, die wir für uns selber
so hoch nie hängen würden. Und wenn dann solche Menschen mit Vorbildfunktion
ihre Doktorarbeit abschreiben, betrunken über rote Ampeln fahren
oder sich von guten Freunden zuviel schenken lassen, sind Häme und
Entrüstung groß und der Rücktritt nur eine Frage der Zeit. Nein,
es geschieht in unserem Lande wirklich nicht viel, was das Etikett
„heilig“ verdient hätte. Wo sollen Vorbilder dafür auch herkommen,
wenn die meisten von uns erst gar keinen Ehrgeiz entwickeln, ein
vorbildliches Leben zu führen? In einem solchen Umfeld kann eben
bestenfalls Scheinheiligkeit gedeihen.

Aber zurück zum
ersten Petrusbrief: Auch damals waren die Menschen nicht grundsätzlich
anders als heute. Wieso sagt er seinen Lesern trotzdem: „ihr sollt
heilig sein“? Und wie kommt er dazu, das für einen selbstverständlichen
Ausdruck christlichen Lebens zu halten?

Nun, heilig ist
nach biblischem Sprachgebrauch erst einmal Gott selbst. Und davon
abgeleitet ist alles heilig, was ganz und ausschließlich zu Gott
gehört. In diesem Sinne kann es im Alten Testament heilige Orte
geben, wo Gott in besonderer Weise gegenwärtig ist, oder heilige
Geräte, die ausschließlich zum Gebrauch in einem solchen Heiligtum
bestimmt sind. Und in beiden Teilen der Bibel werden Menschen, die
zu Gott gehören, als heilig angesprochen und zum Heiligsein aufgefordert.
Der klassischen Kernsatz dazu aus dem dritten Buch Mose wird in
unserem Predigttext zitiert: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin
heilig, spricht der HERR.“ (Lev 19,2)

Also: Für den
ersten Petrusbrief sind Christen Menschen, die ganz und gar zu Gott
gehören. Und bevor es um den Lebenswandel geht, heißt das erst mal:
Christen sind Menschen, die ihre Hoffnung ganz und gar auf die Gnade
Gottes setzen. Denn damit fängt der Text ja an: „Setzt eure Hoffnung
ganz auf die Gnade, die zu euch gebracht wird in der Offenbarung
Jesu Christi.“ Und zu dieser Hoffnung auf Gottes Gnade, sagt der
erste Petrusbrief, haben wir auch allen Grund. Denn sie ist uns
ja schon zuteil geworden. Wir sind schon erlöst, wie es ein paar
Verse später heißt. Wie man damals einen Sklaven von seinem Herrn
loskaufen und ihm die Freiheit schenken konnte, so hat Gott uns
losgekauft aus der Sklaverei der Ichsucht und Gottlosigkeit – nicht
mit Geld, auch nicht nur mit guten Worten, sondern mit dem Einsatz
seines eigenen Lebens. Er wurde in Jesus Christus Mensch, wie es
schon immer sein Plan war. Er ließ sich schuldlos umbringen und
starb so an unserer Stelle den Tod, den wir verdient hätten. Und
so besiegte er den Tod, indem er Jesus von den Toten auferweckte,
und gab damit auch uns Hoffnung, die über den Tod hinausreicht.

Das wisst ihr
alles schon, sagt der erste Petrusbrief seinen Lesern. Er erinnert
sie dazu an die Bekenntnisformeln, die sie mal gelernt haben, als
sie getauft wurden. Und wir wissen es auch. Die Älteren haben es
noch mit den Worten des Heidelberger Katechismus gelernt: „Was ist
dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und
Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen
Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für
alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des
Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines
Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupte fallen kann, ja, dass
mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch
durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen
willig und bereit, fortan ihm zu leben.“ Unsere heutigen Konfirmanden
lernen es so nicht mehr, und manchmal finde ich das schade. Aber
natürlich erfahren auch sie etwas darüber, was es mit dem Leben,
Sterben und Auferstehen Jesu auf sich hat und was es für uns bedeutet.

Nur, ob Heidelberger
oder anders, wir machen oft so wenig aus dem, was wir da gelernt
haben. Wir trauen uns nicht, für uns in Anspruch zu nehmen, was
wir doch längst sind. Wir sind erlöst, wir gehören zu Gott, wir
sind heilig. Und Gott hat teuer dafür bezahlt: mit dem Leben seines
Sohnes, mit seinem eigenen Leben. Da müssten wir doch alles daran
setzen, dieses kostbare Leben nun auch entsprechend zu führen! Stattdessen
begnügen wir uns allzu schnell mit „ich schaff’s nicht, aber ich
bemüh mich“. Dabei wissen wir doch, dass es gar nicht gut ist, wenn
es in einem Zeugnis heißt: „Mitarbeiter XY war stets bemüht …“!

Wenn ich das sage,
dann will ich damit keinen Druck oder Zwang ausüben. Wir müssen
und können uns das Geschenk des Heils nicht verdienen – weder im
Voraus noch im Nachhinein. Ich habe zu viele Menschen gekannt, die
gemeint haben, sie müssten sich der Gnade Gottes doch noch irgendwie
würdig erweisen, und die schlimm dar-unter gelitten haben, dass
sie das nicht schafften. Auch ich selber habe zu Zeiten dazu gehört
und möchte auf keinen Fall dahin zurück. Ich denke nur, wenn uns
wirklich mal aufginge, wie groß Gottes Geschenk an uns tatsächlich
ist, dann müsste uns keiner mehr zwingen, „von Herzen willig und
bereit ihm zu leben.“ Sondern dann wäre uns dieser Erweis unserer
Dankbarkeit das Selbstverständlichste von der Welt. Und dann wäre
uns „heilig sein in unserem Wandel“ nicht zu viel gesagt, sondern
das einzig angemessene Ziel.

Aber jetzt noch
mal ganz konkret: Heute beginnt ja in unserer Gemeinde die Amtszeit
eines neuen Presbyteriums. Eine Presbyterin und drei Presbyter treten
dieses Amt erstmals an, zehn weitere sind schon länger dabei, vier
Plätze bleiben vorerst unbesetzt. Was kann ich diesen vierzehn Menschen,
und darüber hinaus uns allen, vom ersten Petrusbrief her mit auf
den Weg geben?

Zuerst und vor
allem gilt auch euch: Lebt, was ihr seid. Ihr gehört ganz und gar
zu Gott, also stellt nun auch euer Leben ihm ganz zur Verfügung.
Nicht nur als Presbyter, nicht nur als ehrenamtliche Mitarbeiter
unserer Gemeinde. Sondern auch als Eheleute, Väter und Mütter, in
eurem Beruf, in eurer Freizeit. All das gehört zu eurem Leben, und
es soll auch weder euer Beruf, noch eure Familie, noch eure Erholung
darunter leiden, dass ihr im Presbyterium seid. Nur lasst Gott in
keinem Bereich eures Lebens außen vor. Wenn ihr arbeitet, egal wo
und für wen, dann tut es in Gottes Namen. Und wenn ihr euch ausruht
und die schönen Dinge des Lebens genießt, dann vergesst nicht, Gott
dafür zu danken.

Dann greife ich
noch das Bild auf, mit dem unser Text beginnt: „Umgürtet die Lenden
eures Denkens“. Klingt etwas verunglückt, okay. Wir würden vielleicht
eher sagen: „Krempelt innerlich die Ärmel hoch“. Seid bereit, anzupacken,
was anliegt. Konzentriert euch auf das Wichtige und Wesentliche,
aber das setzt dann auch entschlossen in die Tat um. Vertraut den
neuen Wegen, auf die der Herr euch weist, und lasst allen Ballast
zurück, der euch am Vorankommen hindert. In dieser Hinsicht hat
das Presbyterium in den vergangenen Jahren manches geleistet. Diejenigen,
die noch für acht Jahre gewählt waren, haben ihre Amtszeit in einer
Gemeinde begonnen, die in vieler Hinsicht noch völlig anders aussah
als heute. Was in der Zwischenzeit an Umwälzungen passiert ist,
war wahrlich nicht einfach, aber es trägt Früchte – Gott sei Dank,
aber Dank auch an alle, die diese Entwicklung getragen haben. Das
neue Presbyterium kann darauf jetzt auf- und weiterbauen.

Und als Letztes
sei euch mit dem ersten Petrusbrief noch gesagt: „Seid nüchtern“.
Macht euch kein Wunschbild von unserer Gemeinde und der Kirche im
Ganzen, auch nicht von euch selber, sondern nehmt alles, wie es
ist: mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Chancen und Risiken.
Schwierige Zeiten liegen hinter uns, aber rechnet nicht damit, dass
jetzt alles ganz einfach wird. Seid aber auch nicht auf Zahlen fixiert,
die zwangsläufig kleiner werden, so dass ihr nur noch schwarz seht.
Stattdessen rechnet ganz nüchtern mit der menschlichen Unzulänglichkeit,
aber auch mit den unberechenbaren Möglichkeiten des heiligen Geistes
und mit der Unverbrüchlichkeit von Gottes Verheißungen. Dann werden
die nächsten vier Jahre für unser Presbyterium und unsere Gemeinde
bestimmt eine gute Zeit, die unter Gottes Segen steht. Und der Friede
Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen
und Sinne bewahren in Jesus Christus.

Amen.

 

Predigt vom 19.2.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ESTOMIHI

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
19.2. 2012
Text: Amos 5,21-24.27

Ich hasse eure Feiertage und verachte
sie
und mag eure Versammlungen nicht riechen.
An euren
Speisopfern habe ich kein Gefallen
und mag auch eure fetten
Dankopfer nicht ansehen.
Tu weg von mir das Geplärr deiner
Lieder;
denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Stattdessen
sollte das Recht strömen wie Wasser
und die Gerechtigkeit
wie ein nie versiegender Bach.
Und ich will euch wegführen
lassen bis jenseits von Damaskus,
spricht der HERR.

Stellen Sie sich
vor, wir feiern hier in der Talkirche einen festlichen Gottesdienst.
In den Bänken wird es eng, sogar die Empore ist gut gefüllt. Auf
dem Altar steht das Abendmahlsgeschirr, silbern glänzend und frisch
poliert. Die Sonne scheint herein und taucht die bunten Chorfenster
in ein zauberhaftes Licht. Alle sind gut gelaunt und freuen sich
auf einen schönen, erbaulichen Vormittag. Beim Vorspiel zeigt Andrea
Stötzel, was sie kann und was die 28 Register der Mebold-Orgel an
wunderbaren Klängen hergeben. Nach der Begrüßung singt der Kirchenchor,
vielleicht spielen auch die Bläser aus Klafeld oder Setzen. Alle
haben fleißig geübt und tun ihr Bestes zur Ehre Gottes und zur Freude
der Gemeinde. Die will da natürlich nicht zurückstehen und singt
beim ersten Lied kräftig und fröhlich mit. Die Eingangsliturgie
nimmt ihren Lauf. Der Wochenpsalm wird gesprochen, und nach dem
Gebet will der Pastor gerade Amen sagen, da ruft in einer der hinteren
Reihen plötzlich jemand laut und vernehmlich: „Halt, hört auf damit!“

Der Pastor guckt
verdutzt, alle drehen sich um oder beugen sich über die Emporenbrüstung,
um zu sehen, was da los ist. Der Mann, der jetzt aus seiner Bankreihe
in den Mittelgang tritt, ist fremd in Geisweid. Auch in Setzen,
Buchen oder Birlenbach kennt ihn niemand. Was will der hier, und
was hat er bloß? Aber noch bevor irgendwer diese verwirrten Fragen
sortieren kann, beginnt der Mann mit erhobener Stimme zu sprechen:
„Hört auf! Gott hasst eure Festgottesdienste, und eure Abendmahlsfeiern
kann er nicht ausstehen. Eure Kollekten sind ihm egal, und er pfeift
auf eure großzügigen Spenden. Lasst ihn in Ruhe mit eurer ewigen
Singerei! Euer Getröte und Orgelgedudel geht ihm auf die Nerven.
Geht lieber nach Hause und setzt euch für eure Mitmenschen ein:
Besucht die Einsamen, kümmert euch um die Kranken, verteidigt die,
denen Unrecht geschieht, lindert mit eurem Geld die Not der Ärmsten,
statt es für teure Neubauten und Mikrofonanlagen rauszuschmeißen!
Aber weil ihr das ja sowieso nicht tun werdet, sage ich euch, dass
Gott euch strafen wird: Immer mehr Leute werden euch wegsterben
und aus der Kirche austreten, ihr werdet immer weniger Kirchensteuern
einnehmen, ihr werdet auf Pfarrer und anderes Personal verzichten
und noch mehr Häuser verkaufen müssen, bis ihr irgendwann nur noch
ein kleines, vergessenes Häuflein seid, das wehmütig der guten alten
Zeit nachtrauert. Wundert euch nicht, wenn es so kommt, denn ihr
habt es nicht besser verdient!“

Was würde wohl
nach diesem Auftritt passieren? Wahrscheinlich wäre erst einmal
Totenstille. Für einen Moment wären alle geschockt, und mancher
würde darüber nachdenken, ob der Mann nicht Recht haben könnte.
Aber dann würde sich wohl doch die Entrüstung Bahn brechen: „Das
ist ja wohl der Gipfel! Wie kann der sich nur so aufblasen? Wie
kann der sich einfach hier rein schleichen und unseren Gottesdienst
stören? Er ist ja noch nicht mal von hier! Wie kann er sich da herausnehmen,
über uns zu Gericht zu sitzen, und das auch noch im Namen Gottes?
Er kann doch gar nicht beurteilen, ob das wahr ist, was er uns vorwirft!
Der gehört bestimmt zu einer Sekte, zu irgend so einem Verein von
fundamentalistischen Spinnern, die glauben, dass sie die Wahrheit
für sich gepachtet haben.“ Dann würden Küster und Presbyter den
Störenfried wohl höflich aber bestimmt hinausexpedieren und ihm
für die Zukunft Hausverbot erteilen. Wahrscheinlich wäre der Vorfall
noch eine Zeitlang Stadt- und Dorfgespräch, vielleicht gäbe es auch
einen Artikel in der Siegener Zeitung mit anschließender Leserbriefdebatte,
aber irgendwann würde der nächste Aufreger kommen und das Ganze
in Vergessenheit geraten lassen.

Aber was wäre,
wenn der Mann tatsächlich im Namen Gottes reden würde? Wenn er ein
Prophet wäre, wie Amos einer war? Dessen Worte stehen heute in der
Bibel. Deshalb gehen wir davon aus, dass er recht hatte, als er
die Opfergottesdienste im Reichsheiligtum zu Bethel verurteilte
– wir haben es eingangs gehört. Die Israeliten, zu denen er sprach,
sind für uns Heuchler und Schurken: feiern prächtige Gottesdienste,
aber kümmern sich nicht um die Not der Armen. Dagegen gilt uns der
Prophet Amos als mutiger Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit und
für Gottes Gebot. Damals jedoch war diese Rollenverteilung keineswegs
klar. Die Menschen im Heiligtum von Bethel waren genauso überzeugt,
Gottesdienst zur Ehre Gottes zu feiern, wie wir das sind. Sie hielten
sich bestimmt mit nicht weniger Recht für anständige Menschen, wie
wir das heute auch tun. Und als der Priester Amazja Amos aus Bethel
nach Juda, in seine Heimat, abschob, da war er überzeugt, im Namen
Gottes zu handeln.

Könnten die Worte
des Amos also auch uns gelten, der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde
Klafeld im Jahre 2012 nach Christus? Geschähe uns Recht mit einer
solchen Strafpredigt? Wir sollten es uns mit der Antwort auf diese
Frage nicht zu einfach machen.

Natürlich gibt
es vieles in unserer Gemeinde, wofür wir froh und dankbar sein können:
Für die vielen engagierten Mitarbeiter, für den guten Gottesdienstbesuch
und das vielfältige Angebot, für das friedliche Miteinander, für
die endlich wieder soliden Gemeindefinanzen, für die vielen Menschen,
die oft ganz im Stillen viel Gutes tun. Wenn man wie ich auch schon
Gemeinden kennen gelernt hat, in denen es das alles kaum oder gar
nicht gab, weiß man diese Dinge sehr zu schätzen. Und ich denke,
dass sich auch Gott darüber freut.

Aber wenn an den
Worten des Amos etwas dran ist, dann ist das alles kein sanftes
Ruhekissen. Man kann sich wohl fühlen in der Gemeinde Klafeld, vieles
für sich mitnehmen und sich vielfältig einsetzen – das ist wahr
und das ist ein Grund zur Freude. Aber es steckt auch immer eine
Gefahr darin. Die Gefahr nämlich, dass die, die drin sind, sich
so wohl fühlen und so sehr mit sich selber beschäftigt sind, dass
sie gar nicht mehr an die denken, die draußen sind. Und das sind
nicht wenige, sondern es ist der Großteil unserer 7400 Gemeindeglieder
– von all den anderen, die um uns herum leben, ganz zu schweigen.
Haben wir uns damit abgefunden, weil es ja immer so war und immer
so bleiben wird, oder treibt es uns noch um?

Es gibt zum Beispiel
bei uns viele alte Menschen, die krank und ein-sam sind, und es
werden immer mehr. Etliche von ihnen haben sogar einmal dazugehört,
kamen zum Gottesdienst, waren im Chor oder in der Frauenhilfe, aber
jetzt sind sie draußen. Denken wir an sie? Werden wir auf sie aufmerksam,
wenn sie in unserer Nähe wohnen? Können wir uns um sie kümmern,
und wenn ja, wie?

Ein zweites Beispiel:
Wir haben zurzeit verteilt auf zwei Jahrgänge gut 150 Konfirmanden.
Und wir sind Träger eines Familienzentrums, das in fünf Tagesstätten
rund 250 Kinder betreut. Viele der Konfis und viele der jungen Familien
haben mit Kirche nicht wirklich was am Hut. Aber vielleicht ändern
sie ihre Meinung, wenn sie merken, dass sie uns willkommen sind,
dass wir bereit sind auf ihre Fragen, ihre Bedürfnisse einzugehen,
auch wenn es andere sind als unsere, so dass sie bei uns einen Platz
zum Dabeisein und Mitmachen finden. Sind wir dafür offen? Tun wir
genug dafür? Oder regen wir uns nur gern auf über Konfis oder Kindergarteneltern,
die sich in der Kirche nicht benehmen können – und gehen deshalb
zu Vorstellungs- oder Familiengottesdiensten, wo man ihnen begegnen
könnte, am liebsten gar nicht hin?

Drittes und letztes
Beispiel: Wir haben als Kirche immer auch einen gesellschaftlichen
Auftrag. Viele erwarten Orientierung von uns: Stellungnahmen zu
aktuellen Problemen und entsprechendes Handeln. Wir mögen uns damit
überfordert fühlen und es deshalb ganz gern den Hauptamtlichen und
den Experten überlassen, aber wir können trotzdem nicht daran vorbei.
Trauen wir uns noch, in Streitfragen eine christlich fundierte Position
zu beziehen, auch wenn wir dafür Prügel einstecken? Nehmen wir unser
Stück Verantwortung für die Geschicke dieser Welt wahr, auch wenn
es vielleicht nur ein sehr kleines Stück ist?

Das sind nur Fragen,
auf die ich keine fertigen Antworten habe. Aber ich finde, wir müssen
darüber nachdenken, und das immer wieder. Wir werden nie alle Probleme
lösen und alle Not beenden können, nicht einmal dann, wenn wir nur
an unsere engste Umgebung denken. Wir werden es auch nie erreichen,
dass alle unsere Gemeindeglieder sich auch am Gemeindeleben beteiligen.
Aber auch wenn wir im Kleinen anfangen, können wir viel bewegen.
Wir müssen es nur wollen und müssen es dann auch tun. Mit einem
„wir können doch eh nichts ändern“ gibt Gott sich jedenfalls nicht
zufrieden. Wenigstens das sollten wir uns von Amos hinter die Ohren
schreiben lassen.

Bevor ich meine
Predigt beende, muss ich allerdings noch ein mögliches Missverständnis
ausräumen. Wir könnten von den Worten des Amos her versucht sein,
Gottesdienst und Dienst am Menschen gegeneinander auszuspielen nach
dem Motto: Gerechtigkeit statt Gottesdienst, Arbeiten statt Beten.
Aber das wäre falsch. Im Gegenteil: Je mehr wir unsere Verantwortung
für unsere Mitmenschen wahrnehmen, desto dringender brauchen wir
den Gottesdienst. Denn wir müssen ja irgendwo Kraft schöpfen für
das, was wir tun. Wir brauchen Vergebung für das, was wir falsch
machen. Und wir brauchen die Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitchristen,
die uns Halt gibt. Sonst wird unser Handeln blinder Aktionismus,
und uns wird bald die Puste ausgehen. Damit ist keinem geholfen.
Gottesdienst und Dienst am Menschen gehören zusammen wie Einatmen
und Ausatmen. Also ist es gut, wenn wir auch weiterhin schöne Gottesdienste
feiern – mit Wort und Sakrament, mit Musik und mit Stille, mit Reden
und mit Hören, mit Ernst und mit Freude. Und wenn wir das ausgiebig
getan haben, dann können wir uns frisch gestärkt dorthin wenden,
wo Menschen uns brauchen. Gott segne uns dabei.

 Amen.