Predigt vom 17.6.2012

 

 

 

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN
SONNTAG NACH TRINITATIS

Pfr. Dr.. Martin Klein
Wenschtkirche,
17.6. 2012
Text: 1. Kor 14,1-4.15-19.23-25

Neulich beim Abendmahl
in der Wenschtkirche: Unter den Teilnehmenden befindet sich ein
Trupp Konfirmanden, der schon zuvor durch Kichern, Schwätzen und
Zappeln unangenehm aufgefallen ist und nun auch beim Mahl des Herrn
die Andacht stört. Als die Presbyterin auch an die Konfis die kleinen
Kelche austeilt und dabei wie üblich sagt: „Christi Blut, für dich
vergossen“, wird sie dann noch prompt und deutlich hörbar gefragt:
„Was hast du gesagt?“

Damit ist der
Gipfel erreicht. Alle sind sich einig, dass das so nicht geht. Mit
den Konfis wird nach dem Gottesdienst ein ernstes Wort geredet,
und sie werden ohne Unterschrift nach Hause geschickt. Presbyter
bringen die Sache in der nächsten Sitzung zur Sprache. Und eine
ältere treue Gottesdienstbesucherin sagt: „Wenn ich noch mal so
ein Abendmahl erlebe, gehe ich da nicht mehr hin!“

Ich war in diesem
Gottesdienst nicht dabei. Aber ich kann die Empörung gut verstehen.
Auch ich hätte mich wahrscheinlich gestört gefühlt. Und vielleicht
hätte mich gar so ein kleiner heiliger Zorn gepackt über soviel
Missachtung von Dingen, die das Herzstück meines Glaubens bilden.
Aber die Frage „Was hast du gesagt?“, die hat mich ins Nachdenken
gebracht. Vielleicht war sie tatsächlich einfach nur albern, frech
und unpassend. Aber es könnte auch sein, dass sich hinter der Albernheit
ein echtes und ernst gemeintes Anliegen verbirgt: „Was hast du da
gesagt? Ich verstehe es einfach nicht – bitte erklär’s mir!“

Denn wir müssen
uns ja mal klar machen, wie das für einen Durch-schnitts-Konfi ist,
wenn er einen unserer Gottesdienste besucht. Erst einmal befindet
er oder sie sich in einem Lebensalter, wo Körper und Geist einem
tief greifenden Umbau unterworfen sind. Da wird sozusagen alles
auseinander genommen und neu zusammengesetzt. Wie man sich in welcher
Situation angemessen verhält, muss man auf dem Weg vom Kind zum
Erwachsenen noch mal ganz neu lernen. Schon das allein erzeugt große
Unsicherheit, und die wird dann gern durch Coolness oder Albernheit
überspielt. Dazu kommt, dass die meisten Konfis bisher nur selten
in der Kirche waren und wahrscheinlich nie in einem ganz „normalen“
Sonntagsgottesdienst. Natürlich erklären wir ihnen beizeiten, was
es mit dem Gottesdienst auf sich hat, warum er so und nicht anders
abläuft, und wie man sich da angemessen verhält. Aber erklären hilft
nicht viel. Es muss dann auch eingeübt werden. Und das geht nicht
ohne Komplikationen ab, selbst wenn es gelingt. Etwas aber steht
dem Gelingen ganz entscheidend im Weg, nämlich dass die meisten
Konfis unsere gewohnte gottesdienstliche Sprache schlicht und einfach
nicht verstehen. Was heißt denn „im Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes“? Was heißt „Gemeinschaft der Heiligen,
Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten“? Was heißt: „dein
Reich komme“? Was heißt: „der Herr lasse sein Angesicht leuchten
über dir?“ Oder eben: Was bedeutet „Christi Blut, für dich vergossen“?
Uns sind diese Worte vertraut. Uns tut es gut, sie zu hören oder
mitzusprechen. Aber könnten wir sie auch in normale Alltagssprache
übersetzen? Und haben wir schon mal versucht, sie einem Kind oder
Jugendlichen zu erklären? Wenn ja, dann können wir, denke ich, nachempfinden,
dass das alles zwar deutsche Wörter sind, dass wir aber für unbedarfte
Konfi-Ohren genauso gut die lateinische Messe wieder einführen oder
in charismatisches Zungenreden verfallen könnten.

Ja, es stimmt:
Unsere kirchliche Insider-Sprache nimmt heute genau die Stellung
ein, die zu Luthers Zeiten das Kirchenlatein und zur Zeit des Paulus
die Zungenrede innehatte. Sie werden das sofort merken, wenn ich
Ihnen nun den heutigen Predigttext vorlese. Er steht im 1. Korintherbrief
im 14. Kapitel:

 

Bemüht euch
um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen
Rede! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern
für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist
von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen
zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet,
der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die
Gemeinde.

Wie soll es
denn nun sein? Ich will beten mit dem Geist und will auch beten
mit dem Verstand; ich will Psalmen singen mit dem Geist und will
auch Psalmen singen mit dem Verstand. Wenn du Gott lobst im Geist,
wie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen auf
dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst? Dein Dankgebet
mag schön sein; aber der andere wird dadurch nicht erbaut. Ich danke
Gott, dass ich mehr in Zungen rede als ihr alle. Aber ich will in
der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit
ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen.

Wenn nun die
ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen,
es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht
sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn sie aber alle prophetisch redeten
und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von
allen geprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen
ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht,
Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.

 

„Zungenrede“ ist
natürlich auch so ein Wort, das heute kein Normal-sterblicher mehr
kennt. „Zunge“ ist hier im Sinne von „Sprache“ zu verstehen. Gemeint
ist ein vom Geist Gottes bewirkter Zustand der Ekstase. Die Betroffenen
geraten außer sich und geben dabei Laute und Worte von sich, die
in der Regel keiner real existierenden Sprache entstammen und einem
unbeteiligten Zuhörer deshalb unverständlich sind. In den frühen
Zeiten der Christenheit, als die Begeisterung noch frisch war, wurde
viel in Zungen geredet. Und in Korinth wurde diese Geistesgabe besonders
hoch geschätzt. Eine maßgebliche Gruppe in der Gemeinde hat sie
wohl als „Sprache der Engel“ gedeutet und zum Kennzeichen der wahrhaft
vollkommenen Gläubigen gemacht. Wer in Zungen redet, der schwebt
in ihren Au-gen sozusagen schon im Himmel, ist eins mit Gott und
allem Irdischen enthoben.

Paulus hat da
grundsätzlich gar nichts gegen einzuwenden. Im Gegenteil: Er sagt
von sich, dass er mehr in Zungen redet als alle an-deren und Gott
dafür dankbar ist. Er weist der Zungenrede nur ihren Platz zu, nämlich
im privaten Bereich, in der ganz persönlichen Erbauung. Dort ist
sie eine wunderbare Bereicherung und Stärkung des Glaubens. Aber
im Gemeindegottesdienst hat sie nichts verloren – höchstens dann,
wenn sie jemand in normale Sprache „übersetzen“ kann und sie so
für andere nachvollziehbar und fruchtbar macht.

Wir sehen daran,
dass der Gottesdienst für Paulus gerade keine fromme Insider-Veranstaltung
ist. Es gibt dort viele Gemeindeglieder, die die Gabe der Zungenrede
nicht besitzen. Und die haben gar nichts davon, wenn da jemand in
„Engelszungen“ redet, so toll das für die Betreffenden auch
sein mag. Sie können dazu nicht Amen sagen und es sich zueigen machen.
Sie können nicht im Glauben wachsen, wenn das Wort Gottes nicht
bei ihnen ankommt. Und außerdem geht Paulus davon aus, dass jederzeit
auch Nichtchristen im Gottesdienst auftauchen können. Wenn die erleben,
dass da erwachsene Menschen mit seligem Lächeln im Gesicht unverständliches
Zeug brabbeln, dann denken sie: „Hilfe, wie bekloppt sind die denn?“,
drehen sich um und verlassen fluchtartig das Haus. Schade um die
verpasste missionarische Gelegenheit!

Deshalb stellt
Paulus der Zungenrede die Prophetie gegenüber und räumt ihr die
höhere Stellung ein. Auch was Prophetie ist, muss man erklären.
Für uns ist ein Prophet landläufig einer, der die Zukunft vorhersagt.
Und natürlich ging es auch damals bei Prophetie um die Ansage zukünftiger
Dinge – nicht im Sinne von Zukunftsforschung oder Science-Fiction,
sondern bezogen auf die Wiederkunft Christi, die man ja damals in
naher Zukunft erwartete. Aber hier meint Paulus wohl mit Prophetie
ganz allgemein die vollmächtige Verkündigung des Wortes Gottes.
Auch sie ist nichts, was Menschen machen könnten, sondern eine Gabe
des Heiligen Geistes. Aber sie ist nicht wie die Zungenrede auf
Ekstase aus, sondern auf Kommunikation. Sie spricht nicht das Gefühl
an, sondern die Vernunft. Und sie bleibt deshalb nicht auf die persönliche
Erbauung beschränkt, sondern dient dem Aufbau der Gemeinde. Deshalb
gehört sie und nicht die Zungenrede in den Gottesdienst. Denn erst
wenn jemand wirklich versteht, was da im Namen Gottes gesagt wird,
kann er oder sie erkennen: „da geht es ja um mich, um mein Leben,
meine Schuld, mein Verhältnis zu Gott“, und erst dann kann ihr oder
ihm aufgehen: „Wahrhaftig, hier ist Gott gegenwärtig.“

Zungenrede, wie
Paulus sie erlebt und erfahren hat, gibt es auch heute noch. In
der wachsenden charismatischen Bewegung erfreut sich ähnlich großer
Beliebtheit wie damals in Korinth. Dazu wäre von Paulus her sicher
manches Kritische zu sagen. Aber ich möchte hier ja keine Fensterreden
halten und bleibe deshalb bei unserer traditionellen Gottesdienstsprache;
denn sie halte ich, wie gesagt, für unsere Form der Zungenrede.

Ich will diese
Sprache damit keinesfalls abwerten. Das dürfte schon klar sein,
wenn man beachtet, wie Paulus die Zungenrede einschätzt. Für mich
und für alle, die mit ihr vertraut sind, ist auch sie eine gute
Gabe Gottes. Wir lieben sie und möchten sie nicht missen. Wir fühlen
uns getröstet und aufgehoben, wenn wir den Psalm 23 nach Luthers
Übersetzung hören. Uns geht das Herz auf, wenn wir die schönen alten
Paul-Gerhardt-Lieder singen. Und wenn uns jemand zuspricht: „Christi
Blut, für dich vergossen“, dann spüren wir etwas von der heilvollen
Gegenwart Christi, die damit ausgesagt werden soll, dann fühlen
wir uns dem Geheimnis unseres Glaubens ganz nah. Nach einem Gottesdienst,
der in gelungener Weise mit dieser altvertrauten Sprache umgegangen
ist, werden wir mit einem guten Gefühl die Kirche verlassen und
denken: „Das war ein richtig schöner und erbaulicher Gottesdienst!“
Und was wir gehört, gesungen und gebetet haben, wird uns nach Hause
begleiten und Kraft geben für den All-tag.

Wie gesagt: Ich
danke Gott von Herzen, dass ich diese Sprache noch von klein auf
habe lernen dürfen und dass ich daraus täglich neu Gewinn für meinen
Glauben und mein Leben ziehen kann. Aber wir sehen es ja an der
schwindenden Zahl derer, die unsere Gottesdienste noch regelmäßig
besuchen: die meisten Menschen in unserem Land, ja selbst die meisten
Mitglieder unserer Kirche verstehen diese Sprache nicht mehr, haben
sie nie verstanden und werden sie aller Vor-aussicht nach auch nicht
mehr lernen. Denn eine Fremdsprache zu lernen macht Mühe – das wissen
die meisten von uns aus der Schule –, und wenn ich nicht weiß, wofür
es gut sein soll, tue ich mir das nicht freiwillig an. Aber andererseits
sitzen diese Menschen ja durchaus in unseren Gottesdiensten: als
Konfirmanden, als Kindergarteneltern, als Gäste bei einer Taufe,
Trauung oder Beerdigung. Oft sind sie dann sogar in der Mehrheit
– und wir regen uns auf, wenn sie nicht wissen, wie man sich in
der Kirche benimmt, und wenn sie uns damit die persönliche Erbauung
verderben.

Von Paulus her
müssen wir allerdings ganz klar sagen: Sie alle haben ein Recht
dort zu sein, auch wenn sie uns stören. Ja, gerade um sie geht es,
wenn wir Gottesdienst feiern. Unsere persönliche Erbauung in den
vertrauten Worten und Formen, die können wir auch für uns allein
oder im kleinen Kreis von Gleichgesinnten finden. Aber der Gottesdienst
ist und war schon immer eine öffentliche Veranstaltung. In ihm geht
es eben nicht um die Erbauung des Einzelnen, sondern um den Aufbau
der Gemeinde. Der geschieht dadurch, dass Menschen im Glauben wachsen
und ihren Platz in der Gemeinde finden. Und er geschieht dadurch,
dass Menschen, die keine Christen sind, dort dem lebendigen Gott
begegnen, umkehren und als Glied am Leib Christi ein neues Leben
beginnen.

Damit das gelingt,
braucht es auch heute die Gabe der Prophetie: Verkündigung des Wortes
Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes und in einer Sprache, die
jeder verstehen kann. Und wenn ich dann in einem Gottesdienst nur
fünf Worte sage, die bei den Konfis wirklich ankommen und ihnen
Gott näher bringen, dann ist das tausendmal mehr wert, als die beste
Predigt, der schönste Choral, das andächtigste Gebet, von dem sie
nichts verstehen.

Was heißt das
nun für uns als Gottesdienstgemeinde? Es heißt erstens, so schwer
uns das fallen mag: Wir müssen es ertragen lernen, wenn Menschen
zu uns kommen, die unsere gewohnte Ordnung stören. Denn sie haben
ein Recht, dort zu sein und Gott zu begegnen, und wir sollten froh
sein, wenn sie wenigstens gelegentlich davon Gebrauch machen, auch
wenn es für sie erst mal ganz andere Gründe haben mag, warum sie
dort hinkommen, auch wenn sie sich in unseren Augen „danebenbenehmen“,
weil sie es nicht besser wissen.

Zweitens müssen
wir uns noch viel mehr darum bemühen, unseren Glauben in den Worten,
der Musik, den Formen unserer Zeit auszudrücken, auch wenn wir dabei
auf manches verzichten müssen, was uns lieb und teuer ist. Wir müssen
die Frage „Was hast du da gesagt?“ ernst nehmen und darauf antworten
können. Denn sonst wird die Sprache unseres Glaubens eines nicht
fernen Tages so tot sein wie Babylonisch oder Altgriechisch. Das
ist natürlich in erster Linie eine Aufgabe für die Pfarrer und alle
anderen, die mit der öffentlichen Verkündigung beauftragt sind.
Aber es ist wichtig, dass mit ihrer Unterstützung auch andere Christen
sprachfähig werden, um den Menschen um sie herum ihren Glauben weitergeben
zu können – in Wort und Tat.

Und drittens –
das ist das Entscheidende – : Wir dürfen alle miteinander nicht
nachlassen, Gott immer wieder um die Gabe der Prophetie zu bitten,
wie Paulus sie versteht. Denn wir haben sie ja nicht in der Hand,
die richtigen Worte, mit denen Gott zu den Menschen reden kann.
Sie sind ein Geschenk des Heiligen Geistes. Natürlich kann er auch
unsere „Zungenrede“ auslegen und so Menschen für Christus gewinnen.
Aber wenn Paulus recht hat, spricht er doch lieber eine einfache,
klare Sprache, die auch der letzte geistliche Analphabet begreifen
kann. Wenn das geschieht – und ich glaube, es geschieht auch bei
uns öfter, als wir denken –, dann wird auch der hibbeligste Konfirmand
keinen Quatsch mehr machen. Dann wird auch die ahnungsloseste Kindergartenmutter
ihren Fotoapparat vergessen. Dann wird auch der kirchenfernste Konfirmationsgast
nicht mehr zwischendurch rauchen gehen. Sondern sie alle werden
begreifen: „Hier geht es um mich, hier redet Gott, und ich will
hören, was er zu sagen hat.“ Weil das so ist, gehört das Lied von
Manfred Siebald, das wir gleich singen, noch zur Predigt: „Gib mir
die richtigen Worte, gib mir den richtigen Ton: Worte, die deutlich
für jeden von dir reden, gib mir genug davon!“

Amen.