Predigt vom 25.3.2012

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
JUDIKA

Pfr. Dr. Martin Klein
Talkirche,
25.3. 2012
Text: Num 21,4-9

Ich nehme an dieses
Zeichen haben Sie alle schon mal irgendwo gesehen. Es ist der so
genannte Äskulap-Stab, das Berufssymbol der Ärzte. Dieses Symbol
ist schon uralt. Äskulap oder Asklepios war der Gott der Heilkunst
bei den alten Griechen. Warum sein Zeichen gerade die Schlange war,
ist nicht ganz klar, aber auf jeden Fall stand der Äskulap-Stab
für die heilsamen Kräfte, die von diesem Gott ausgingen.

Und die Ärzte
waren Menschen, die versuchten, im Namen des Asklepios Menschen
zu helfen. Unsere heutige Medizin hat mit der von damals nicht mehr
viel zu tun. Trotzdem verwendet sie den Äskulap-Stab immer noch
als Zeichen für das, was ihr Auftrag ist: nämlich kranken Menschen
nach bestem Wissen und Gewissen Linderung und Heilung zu bringen.

Unser heutiger
Predigttext handelt von einem Zeichen, das dem Äskulap-Stab ganz
ähnlich ist: sowohl äußerlich als auch der Bedeutung nach; denn
auch bei diesem Zeichen geht es um Heilung und Rettung. Was es damit
auf sich hat, lesen wir im vierten Buch Mose, im 21. Kapitel:

 

Da brachen sie
auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land
der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege
und redete gegen Gott und gegen Mose: „Warum hast du uns aus Ägypten
geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch
Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.“ Da sandte
der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk,
dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen:
„Wir haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet
haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme.“ Und
Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: „Mache dir eine
eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen
ist und sieht sie an, der soll leben.“ Da machte Mose eine eherne
Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange
biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

 

Die eherne Schlange.
Als der Predigttext entstand, konnte sie noch jeder Israelit leibhaftig
anschauen. Sie stand für alle sichtbar an einem Ehrenplatz im Tempel
von Jerusalem. Wahrscheinlich stammte sie noch von den Jebusitern,
die Jerusalem bewohnt hatten, bevor König David die Stadt eroberte.
Aber in Israel erzählte man sich, dass Mose diese Schlange gemacht
habe. Und die Geschichte aus dem vierten Buch Mose berichtet, wie
das kam.

Sie versetzt uns
zurück in die Zeit, als die Wüstenwanderung Israels ihrem Ende zuging.
Die Sklaverei in Ägypten lag nun schon viele Jahre zurück. Das verheißene
Land war nahe und doch immer noch fern, denn feindliche Völker versperrten
den Weg. Kurz vor dem Ziel mussten sie noch einen weiten Umweg machen,
um das Land Edom zu umgehen. Und sie hatten die Wüste gründlich
satt. Immer nur Sand und Steine. Immer die mühsame Suche nach Wasser
und etwas Essbarem. Immer wieder der gleiche Trott: Zelte abbrechen,
stundenlang marschieren mit Sack und Pack durch glühende Hitze,
dann abends Lager aufschlagen, Zelte aufbauen und erschöpft auf
die harte Strohmatte sinken. Und dann alles wieder von vorn. Und
kein Ende abzusehen. Verglichen damit war Ägypten das reinste Paradies
gewesen, dachten sie jetzt. Kein Gedanke mehr daran, wie sie sich
dort zu Tode schuften mussten für den Pharao. Längst vergessen die
Angst am Schilfmeer, als die ägyptischen Verfolger immer näher rückten.
Jetzt kannten sie nur noch einen Gedanken: Endlich mal irgendwo
bleiben können und wieder richtig satt werden! Doch Mose, ihr Anführer,
trieb sie immer weiter. Sprach von dem Land, wo Milch und Honig
fließt, an das sie kaum noch glauben konnten. Und Gott wollte es
offenbar so haben. Aber sie wollten nicht mehr, sie hatten die Faxen
dicke. Und sie machten ihrem Ärger Luft: gegen Mose und gegen Gott.

Aber Gott hatte
auch die Nase voll. Was hatte er nicht alles getan für dieses undankbare
Volk! Hatte sie aus Ägypten befreit, hatte sie gerettet am Schilfmeer,
hatte einen Bund mit ihnen geschlossen am Berg Sinai, hatte ihnen
in der Wüste immer wieder ausgeholfen mit Wasser und Manna, hatte
ihnen Siege über ihre Feinde verschafft. Und was hatte er dafür
geerntet? Immer nur Murren und Knurren, Undank und Halsstarrigkeit.
Und das auch jetzt noch, wo sie fast am Ziel waren! Ihn packte der
Zorn, und den bekamen die Israeliten zu spüren. Plötzlich wimmelte
das Lager von giftigen Schlangen. Überall kamen sie hervor gekrochen,
und es gab kein Entrinnen. Wer gebissen wurde starb – und es wurden
viele gebissen.

„Not lehrt beten“,
sagen wir, und bei den Israeliten war das nicht anders. „Bitte den
HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme“, riefen sie Mose zu.
Eben noch hatten sie sich über Gott beklagt, jetzt war er ihre letzte
Hoffnung. Eine ganz natürliche Reaktion. Aber es war doch mehr als
nackte Angst, was sie antrieb. Sie hatten auch eingesehen, dass
ihr Ärger zwar verständlich, aber falsch und undankbar war: „Wir
haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet
haben.“ Diese Einsicht, nicht der Hilfeschrei, gab den Ausschlag:
Mose legte Fürbitte bei Gott ein, und Gott erhörte ihn.

Allerdings ließ
er die Schlangen nicht einfach sang- und klanglos verschwinden.
Statt dessen gab er den Leuten ein Zeichen. Gerade ein Abbild der
Gefahr sollte die Gefahr besiegen. Ein Blick auf die Schlange aus
Erz machte das Gift der echten Schlangen unschädlich. Wer das Bild
der todbringenden Schlange ansah blieb am Leben.

Ein seltsames
Zeichen. Und eine seltsame Geschichte. Ich denke, viele von Ihnen
haben sie nur mit innerem Widerstreben angehört. So mögen wir uns
Gott nicht vorstellen: so zornig und so brutal. Und das mit der
Schlange klingt mehr nach Zauberei als nach Glaube und Gottvertrauen.

Trotzdem denke
ich: Die Geschichte ist als Bild für unsere Wirklichkeit nicht überholt.
Auch wir kennen doch das Gefühl der Müdigkeit und der Resignation.
Zum Beispiel wenn man sich jahrelang bemüht, ein Problem zu lösen,
und feststellen muss, dass es nur immer schlimmer wird. Zum Beispiel
wenn man sich tagaus, tagein krumm legt für seinen Job und dann
eines Tages gesagt bekommt: „Tut uns leid, aber wir müssen Ihnen
kündigen – betriebsbedingt, sie verstehen schon!“ Zum Beispiel wenn
man sich immer nach Kräften um seine Kinder oder um die alten Eltern
bemüht hat und dafür nur Undank und Vorwürfe erntet. Zum Beispiel,
wenn man schwer krank ist und alles auf sich nimmt, was die Kasse
zahlt, um gesund zu werden, und es hilft doch alles nichts.

Dann sind wir
schnell so weit, dass wir nur noch das Negative sehen und das Gute
nicht mehr wahrnehmen. Warum krieg eigentlich immer ich alles ab?
fragen wir uns dann. Warum hilft mir keiner? Warum bekomme ich nie
eine Anerkennung für meine Mühen? Warum lässt Gott mich ganz allein
mit meiner Lebenslast? Warum lässt er mich nicht gesund werden?

Schickt Gott uns
auch giftige Schlangen, wenn wir so denken? Vielleicht nicht im
wörtlichen Sinne. Aber die Konsequenzen unserer Resignation können
uns genauso quälen. Unsere Giftschlangen heißen vielleicht Verbitterung
und Verzweiflung. Hass auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen.
Ausbrüche von Wut und Gewalt. Zukunfts- und Todesangst. Ich wäre
vorsichtig, zu sagen, dass das so ist, weil Gott zornig auf uns
ist. Aber das Gefühl kann man schon manchmal haben. Und dass all
diese Dinge die Strafe sind für verlorenes Gottvertrauen, das kann
ich durchaus so sehen.

Aber wie kommen
wir da raus? Was rettet uns vor dem, was unser Leben vergiftet und
zerstört? Ein Zeichen. Ein Zeichen, das Gott setzt, so wie die eherne
Schlange: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss
der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben haben. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Diese Worte aus
dem Johannesevangelium machen uns klar, was das Zeichen der Schlange
mit der Passionszeit zu tun hat. Denn wenn Jesus hier von seiner
Erhöhung redet, dann meint er seine Erhöhung ans Kreuz. Wie die
Schlange hängt er am Holz, aufgerichtet zwischen Himmel und Erde.
Und auch das Kreuz ist ein seltsames Zeichen: Kein Zeichen des Sieges,
der Macht und des Lebens, sondern der Niederlage, der Ohnmacht und
des Todes. Wie die Schlange ist das Kreuz ein Symbol für das, was
unser Leben bedroht. Und wie die Schlange, so überwindet auch das
Kreuz das, wofür es steht. Jesu Qual lindert unsere Qual, seine
Verzweiflung überwindet unsere Verzweiflung, sein Tod besiegt unsere
Todesangst.

Vorausgesetzt,
wir richten unseren Blick auf dieses Kreuz. Vorausgesetzt, wir versuchen
es nicht zu verdrängen, wie wir es so gern mit allem machen, was
uns an Leid, Schuld und Tod erinnert. Vorausgesetzt, wir lassen
für uns wahr sein, was am Kreuz geschehen ist. Nicht dass das Zeichen
des Kreuzes ungültig würde, wenn wir es nicht beachten. Nicht, dass
wir es dadurch ungeschehen machen könnten. Aber unser Leben hier
und jetzt kann es nur heil machen, wenn wir das zulassen.

Wir Reformierten
haben’s ja nicht so mit Bildern und Symbolen. Wir können eher den
frommen König Hiskia verstehen, der die eherne Schlange im Tempel
von Jerusalem zerschlagen ließ, weil er sie als heidnisches Relikt
und eine Quelle des Aberglaubens betrachtete – wahrscheinlich nicht
ganz zu Unrecht. Auch gegenüber dem Kreuz als sichtbarem Symbol
sind wir eher zurückhaltend – dass wir es hier in der Talkirche
auf einem der Chorfenster sehen können, sogar mit Jesus dran, das
ist ja eher ungewöhnlich für eine reformierte Kirche. Und es kommt
ja auch nicht darauf an, dass das Kreuz irgendwo als Stück Holz
in der Kirche oder im Gemeindehaus hängt. Wichtig ist nur, dass
wir das, wofür das Kreuz steht, in immer vor Augen haben: bei unseren
Gottesdiensten, aber zum Beispiel auch bei unseren Presbyteriumssitzungen,
und im täglichen Leben sowieso. Damit es uns erinnert an das Leiden
Jesu und an die Leiden der Menschen in unserer Gemeinde und anderswo.
Damit es uns Kraft gibt, wenn uns die Arbeit am Reich Gottes ein
Kreuz zu werden droht. Und damit wir immer wissen, warum wir Christen
sind und als Christen handeln. Nämlich damit wir uns mit Wort und
Tat und mit Geld und Gut dafür einsetzen, Menschen auf das Zeichen
des Kreuzes hinzuweisen und ihnen Wege zu erfülltem Leben zu zeigen.
Gott segne uns dabei.

Amen.