Rassismus im Alltag – wo begegnet er mir?

Liebe Gemeinde,

beim Presbyteriumswochenende im letzten November haben wir uns ausführlich mit dem Thema „Rassismus“ befasst. Dabei entstand die Idee, in den folgenden Monaten in „Gemeinde jetzt“ einzelne Aspekte des Themas für die Gemeinde näher zu beleuchten. Mir fiel der Part „Wo begegnet mir Rassismus im Alltag?“ zu.

Angesichts der momentanen (hoffentlich bei Austeilung der Gemeindenachrichten schon überholten, jetzt kurz vor Redaktionsschluss Ende März aber sehr aktuellen) Weltlage zwischen Corona-Pandemie, Wirtschaftskrise, „Shut down“, Flüchtlingen aus Krisengebieten, Existenzängsten und vielem mehr scheint ja „Rassismus“ nicht wirklich ein Thema zu sein – oder doch? Rassismus ist doch eher etwas, das im Osten Deutschlands stattfindet? Und was mit Juden zu tun hat? Leider nein!

Rassismus in all seinen Formen und Diskriminierungen jeder Couleur begegnet uns leider überall und immer wieder, nach meinem Gefühl immer häufiger und deutlich zu oft. Rein definitionsmäßig gibt es natürlich einen Unterschied zwischen Rassismus und Diskriminierung, aber ehrlich gesagt ist mir das völlig egal! In beiden Fällen sind die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen fatal.

An dem Freitag, an dem nachmittags vom Ministerium für Schule und Bildung beschlossen wurde, dass ab dem darauffolgenden Montag alle KiTas und Schulen des Landes NRW bis mindestens zum Ende der Osterferien geschlossen werden, hatte ich eine Klassenstunde in meiner 8. Natürlich waren da Corona und die mögliche Schließung der Schulen Thema Nr. 1! Ein Schüler meinte sinngemäß „Das schleppen doch die ganzen Flüchtlinge hier ein!“ Mir entglitten die Gesichtszüge und ich war sehr stolz, als eine Schülerin aufstand und sagte „Halt doch einfach mal die Klappe! Du hast echt keine Ahnung! Seit wann kommen denn die Flüchtlinge aus China?“ Rassismus in Zeiten von Corona…

Rassismus und Diskriminierung haben viele Seiten, viele Arten, sich zu äußern… Und leider sind sie bei unseren Kindern weit verbreitet. Als Lehrerin und Mitglied der Schulleitung bekomme ich so Einiges mit – und ich bin entsetzt, dass schon Schüler der Klasse 6 in den sozialen Medien rassistische Inhalte verbreiten! Beispiele gefällig?

  • Ein Schüler aus Klasse 6 verbreitet über WhatsApp (hallo? WhatsApp ist ab 16!) rassistische Bilder, bei denen mir schlecht wird – und ich kann Einiges ab! Ich weiß gar nicht, ob ich das beschreiben sollte…
  • Ein Schüler aus Klasse 8 schreit auf der Skifahrt (!!!), als er mit Schneebällen beworfen wird „Lass das, Du Drecksjude!“
  • In Klasse 9 und 10 gehen WhatsApp-Klassenchats rassistisch und pornographisch so weit, dass wir den Staatsschutz einschalten mussten…
  • Eine Schülerin aus Klasse 8, deren Wurzeln in Tunesien liegen und die aus Tradition Kopftuch trägt, wird als „Terroristenschlampe“ bezeichnet…

Und interessanterweise sind die Verbreiter dieser Äußerungen, zumindest aus meiner direkten Erfahrung, immer männlich! Was läuft da schief? Haben die alle einen Knall? Oder liegt es an mangelnder Aufklärung? Der Lehrplan sieht eine kontinuierliche Aufarbeitung der Geschichte ab der Steinzeit vor. Bis die Schülerinnen und Schüler beim Zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ankommen, sind sie in Klasse 9 – bis dahin haben sich aber bei vielen Schülerinnen und Schülern schon Meinungen, zum Teil vorgelebt vom Elternhaus, zum Teil indoktriniert von Peergroups, gebildet. Dann ist es sehr schwer, diese Denkmuster aufzubrechen.

Da Rechtsradikalismus gerade ein sehr aktuelles und brennendes Thema ist, haben wir uns in unserer Schulleitung Gedanken gemacht, wie wir dem entgegenwirken können. Zwei Kolleginnen engagieren sich sehr aktiv und riefen schon vor einiger Zeit eine AG „Schule ohne Rassismus“ ins Leben. „Schule ohne Rassismus“ ist ein Programm mit einem deutschlandweiten Netzwerk, welches aktiv gegen Rassismus an Schulen kämpft (nähere Infos unter https://www.schule-ohne-rassismus.org). Schulen, die sich an diesem Programm beteiligen wollen, müssen per Unterschriftensammlung mindestens 70% ihrer Schüler und Lehrer hinter sich haben. Welche irren Blüten Rassismus treibt, konnte ich bei der Unterschriftensammlung an meiner Schule erleben. Denn Rassismus heißt nicht nur Antisemitismus – in Siegen-Wittgenstein kennen die meisten Menschen keinen Juden, jedenfalls nicht bewusst. Rassismus heißt auch – aber das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung – wegsehen und nichts tun! Nicht unterschreiben, weil man denkt „Das ändert eh nichts“ – Nichts tun ist Zustimmung! Nicht unterschreiben, weil einer der Schüler, die das Projekt vorgestellt haben, schwul ist. Nicht unterschreiben, weil …

Was können wir dagegen tun, tun gegen den alltäglichen Rassismus, gegen die alltägliche Diskriminierung in den Schulen, auf der Straße, im Alltag? Auf der Straße und im Alltag? Ja, denn es IST diskriminierend, wenn Jan Ole als Heilerziehungspfleger mit seinen Bewohnern unterwegs ist und abfällige Bemerkungen zu hören bekommt. Es IST rassistisch, wenn ein Nachbar Menschen türkischen Ursprungs grundsätzlich nur als „die Alis“ bezeichnet. Es IST rassistisch, wenn ein Schüler aus Klasse 9 auf WhatsApp ein Bild postet, auf dem eine Pizzaschachtel mit dem Bild von Anne Frank und der Aufschrift „Die Ofenfrische“ zu sehen ist. Es IST diskriminierend, wenn meine Tochter, die als Sozialarbeiterin in der Caritas Lebenshilfe mit Menschen mit Down-Syndrom arbeitet, zu hören bekommt „Die Spasstis sind doch alle dumm“. Dumm sind für mich nur die Menschen, die solche Bemerkungen machen!

Ich bin heute sehr dankbar dafür, dass meine Mutter es ganz nebenbei geschafft hat, dass wir Kinder uns nie Gedanken über die Hautfarbe eines Menschen gemacht haben. Dass sie uns beigebracht hat, nicht in Kategorien wie „schwarz oder weiß?“ zu denken, sondern dass die Kategorien in meinem Kopf „sympathisch oder unsympathisch“ heißen oder vielleicht auch „vertrauenswürdig oder eher nicht“. Und ich bin dankbar, dass meine Kinder angesichts rassistischer Äußerungen genauso hilflos dastehen wie ich, weil sie – wie ich – die Denkweise, die dahintersteckt, einfach nicht nachvollziehen können.

Aber die Frage, was wir gegen den alltäglichen Rassismus tun können, die kann ich leider immer noch nicht wirklich beantworten. Natürlich Hinsehen, denn Wegsehen ist Zustimmung. Natürlich Eingreifen und etwas sagen, denn nicht Eingreifen ist Zustimmung. Aber das sagt sich so leicht – und ist so schwer umzusetzen, wenn man alleine einer Gruppe gegenübersteht. Wenn wir aber alle ein bisschen sensibilisiert werden, dass die „kleinen Spitzen“ eben auch Rassismus und Diskriminierung sind, dann können wir vielleicht nach und nach die Welt zu einer besseren wenden. Bleiben Sie gesund!

Katja Mohn