Gottesdienst für den zweiten Advent
Text: Jak 5,7-11
So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. Seufzt nicht gegeneinander, ihr Brüder, damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür. Nehmt, Brüder, zum Vorbild des Leidens und der Geduld die Propheten, die geredet haben in dem Namen des Herrn. Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer.
Geduld haben, warten, ausharren. Das ist nicht so einfach. Ich muss an kleine Kinder denken. Für die ist „Geduld“ meist noch ein Fremdwort. Wenn zum Beispiel unser Jüngster früher irgendetwas sagen oder etwas haben wollte, dann hatten wir sofort zu reagieren. Auf aufschiebende Antworten wie „gleich“ oder „Moment noch“ reagierte er gar nicht. Er wiederholte seinen Wunsch einfach so lange mit zunehmender Lautstärke, bis wir endlich Antwort gaben und taten, was er sagte.
Aber uns Erwachsenen fällt das mit der Geduld ja auch nicht leicht – ob wir nun auf der Autobahn im Stau stehen oder ob wir nach einer schweren Krankheit nur ganz langsam wieder auf die Beine kommen. Nie geht es uns schnell genug, bis wir endlich wieder freie Fahrt haben oder endlich wieder gesund sind. Noch schlimmer ist es natürlich, wenn ein Ende von dem, was unsere Geduld strapaziert, überhaupt nicht abzusehen ist. Manche Veränderung, die wir herbeisehnen, kommt nur sehr langsam oder gar nicht. Und manche körperlichen Beschwerden, die wir gerne los wären, gehen einfach nicht wieder weg. Ich denke, gerade die Älteren unter Ihnen sind vielen solchen Geduldsproben ausgesetzt, aber nicht nur sie. Wir alle verbringen einen beträchtlichen Teil unseres Lebens mit Warten: die Kinder warten aufs Christkind, die Jugendlichen darauf, dass sie endlich achtzehn sind, die jüngeren Erwachsenen auf die richtige Arbeitsstelle oder den richtigen Lebenspartner, und die Älteren warten auf eine Abwechslung im täglichen Einerlei, auf Besuch, auf den Arzt, auf den Pflegedienst, und am Ende warten manche auch auf den Tod.
Geduld haben, warten, ausharren. Das ist nicht so einfach. Es war auch nicht einfach für die Menschen, an die der Jakobusbrief gerichtet ist. Christ zu sein in einer Stadt des Römischen Reiches am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus, das war kein angenehmes Leben. Die Schar der Christen war nur ein kleines Häuflein in einer gleichgültigen oder gar feindseligen Umgebung. Die Christen lebten anders als ihre heidnischen Mitbürger, und das machte sie verdächtig. Dass man sich über sie lustig machte, war noch das Geringste. Oft wurden sie auch ausgegrenzt, schikaniert und misshandelt. Manchmal mussten sie sogar um ihr Leben fürchten. Kein Wunder, dass sie sich fragten: „Wie lange sollen wir das noch aushalten? Hieß es nicht immer, dass es nicht mehr lang dauert, bis Jesus wiederkommt, bis endlich auch unsere Feinde erkennen, dass unser Gott der Herr der Welt ist? Aber jetzt warten wir schon fünfzig, sechzig Jahre! Hat es da überhaupt noch Sinn, Christ zu bleiben? Hält Hoffen und Harren uns nicht doch zum Narren?“
Der Jakobusbrief kämpft gegen diese Zweifel an. „Haltet aus“, sagt er, „verliert die Geduld nicht! Es bleibt dabei: Unser Herr kommt, und er kommt bald.“ Um das deutlich zu machen, gebraucht er ein Bild aus der Landwirtschaft: Von der Aussaat bis zur Ernte dauert es eben auch seine Zeit. Der Bauer kann seinen Acker pflügen und sein Saatgut ausstreuen, aber dann kann er nur noch warten. Er kann nichts tun, damit das Korn schneller wächst. Sonne und Regen werden schon dafür sorgen, dass es reif wird, wenn die Zeit dafür da ist. So ist es auch mit dem Tag, an dem der Herr kommt: er muss in Ruhe heranreifen, aber er rückt immer näher, genau wie die nächste Ernte.
Aber der Jakobusbrief belässt es nicht bei diesem Bild. Er erinnert uns auch an Vorbilder der Geduld und der Leidensfähigkeit: „Seid geduldig wie die Propheten. Oder wie Hiob.“ So weit, so gut. Vorbilder können ja nicht schaden. Aber bei näherem Hinsehen werde ich bei den genannten Beispielgestalten doch etwas stutzig. Hiob und die Propheten als Vorbilder der Geduld und des Wartenkönnens? Passt das überhaupt?
Passt es zum Beispiel auf den Propheten Jeremia? Der musste jahraus, jahrein seinem Volk Unheil ankündigen. Und weil sich so was keiner gern anhört, versuchten man ihn immer wieder zum Schweigen zu bringen. Schließlich wurde er sogar eingesperrt, und fast wäre er einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Jeremia musste also ganz schön was erdulden. Aber was ich dann tatsächlich im Jeremiabuch lese, hat mit Geduld ziemlich wenig zu tun. Da begegnet uns vielmehr ein Prophet, dem sein Auftrag gewaltig stinkt. Er spricht davon, dass er lieber tot wäre, als immer wieder Unheil und Zerstörung ansagen zu müssen. Es wird ihm nur ein schwacher Trost gewesen sein, dass das Unheil schließlich eintraf, dass Jerusalem zerstört und ein Großteil seines Volkes verschleppt wurde. Denn er hätte doch viel lieber Gutes verkündet. Bitter beklagt er sich, dass Gott ausgerechnet ihn für diese undankbare Aufgabe auserwählt hat. Er blieb seinem Auftrag treu, weil er nicht anders konnte. Er musste Gottes Worte weitergeben, ob er wollte oder nicht. Lohn hat er dafür keinen erhalten. Er blieb vor dem Schlimmsten verschont, aber die besseren Zeiten, die er erhofft hat, die hat er nicht mehr erlebt.
Und dann Hiob. Zum einen Teil wird er uns zwar als einer geschildert, der sein schweres Leid geduldig erträgt. Sie kennen sicher seinen Ausspruch: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.“ Aber wir hören von ihm auch ganz andere Töne: „Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt?“ klagt er. „Warum bin ich nicht umgekommen als ich aus dem Mutterleib kam? Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen, die sich sehr freuten und fröhlich wären, wenn sie ein Grab bekämen – dem Mann dessen Weg verborgen ist, dem Gott den Pfad ringsum verzäunt hat?“ Jeder von uns kennt diese Warum-Fragen, mit denen gequälte Menschen Gott anklagen. Keiner hat sie radikaler gestellt als Hiob. Ist das die Geduld, von der der Jakobusbrief spricht? Sieht so das Harren auf das gute Ende aus, das die Geschichte dank Gottes Erbarmen nimmt?
Wir sehen also: Entweder hat der Jakobusbrief seine Beispielfiguren schlecht ausgewählt oder Geduld ist noch etwas anderes, als wir üblicherweise darunter verstehen. Wir denken immer: geduldig sein, das heißt: gelassen bleiben, ruhig abwarten können, sich fügen in das Unvermeidliche, auf uns nehmen, was Gott uns schickt. Das ist ja auch alles richtig. Aber Geduld hat noch eine andere Seite. Für das, was Luther mit „Geduld“ übersetzt hat, gibt es im Griechischen, auch in unserem Text, zwei verschiedene Wörter. Davon ist nur das eine mit „Geduld“ richtig wiedergegeben. Das andere bedeutet eher „Standhaftigkeit“. Wenn also im Neuen Testament von Geduld die Rede ist, dann heißt das immer auch: standhaft bleiben, nicht nur passiv alles hinnehmen, was kommt, sondern aktiv festhalten an unserem Gott, an unserem Glauben und damit auch an unserer Selbstachtung. Darin sind Jeremia und Hiob tatsächlich Vorbilder. Sie lassen sich von dem Leid, das sie trifft, nicht verbiegen – sich selbst nicht und auch ihren Glauben nicht. Sie können nicht von ihrer Überzeugung lassen, dass Gott es gut mit den Menschen meint, dass er barmherzig und ein Erbarmer ist, wie der Jakobusbrief sagt. Gerade deshalb können sie es nicht ertragen, dass er nur noch Leid und Unheil über sie selbst oder ihre Mitmenschen bringt. Sie müssen protestieren, sie müssen Gott daran erinnern, dass er anders ist, als sie ihn jetzt erleben. Gerade so bleiben sie ihrem Glauben an Gottes Barmherzigkeit treu. Gerade so zeigen sie Standhaftigkeit.
Geduld haben, warten, ausharren. Das ist nicht einfach. Aber vielleicht wird es einfacher, wenn wir diese andere Seite der Geduld im Sinn behalten. Manchmal ist es Zeit, dass auch wir uns wehren gegen die Zustände, die unsere Geduld strapazieren. Dass wir protestieren gegen die Menschen, die diese Zustände verursacht haben. Und wenn es sein muss, dass wir auch protestieren gegen Gott: Warum lässt du mich so einsam sein? Warum muss ich so leiden? Warum lässt du mich nicht spüren, dass du da bist? Wenn Jeremia oder Hiob so mit Gott reden durften, dann dürfen wir es auch. Wenn der Jakobusbrief die Standhaften selig preist, dann dürfen auch wir standhaft an Gottes Barmherzigkeit festhalten und sie einfordern, wenn wir nichts davon sehen. Ich vertraue darauf, dass Gott über kurz oder lang niemanden von uns ohne Antwort lassen wird. Amen.
Pfarrer Dr. Martin Klein