Predigt Talkirche, Sonntag, 14. Dezember 2014

Gottesdienst für den dritten Advent

Text: Lk 1,67-79

Weihnachten ist auch das Fest der Lieder. Kein anderes Fest der Christenheit ist so sehr mit Musik und Gesang verbunden. Schon aus der Kindheit bringen wir alle unsere Erinnerungen dazu mit. Mir fallen zum Beispiel die Hefte mit Liedern und Gedichten ein, die es zur Weihnachtszeit immer bei Tchibo gab. Mit denen haben wir uns zu Hause um den Adventskranz oder unter den Tannenbaum gesetzt und gesungen: „Macht hoch die Tür“ und „Tochter Zion“, „Lasst uns froh und munter sein“ und „Morgen, Kinder, wird’s was geben“, „Stille Nacht“ und „O du fröhliche“. Schön war das. Und prägend fürs Leben.

Heute ist das Selbersingen ja weitgehend der Beschallung gewichen. Und da geben eher „Jingle Bells“ oder „Last Christmas“ von „Wham!“ den Ton an. Auch mal ganz nett, aber auf die Dauer ziem­lich nervtötend, weshalb ich Örtlichkeiten, wo man dieser Beschal­lung nicht entgehen kann, lieber meide. Aber die alten, vertrauten Lieder, die höre und singe ich alle Jahre wieder gern – seien es die eher ernsten und doch hoffnungsvollen Adventslieder, die wir bis jetzt in diesem Gottesdienst gesungen haben, seien es die fröhli­chen Willkommenslieder, die wir zur Geburt Jesu Christi anstimmen und von denen mir auch die meistgesungenen niemals leid werden.

Dass das Singen so sehr zum Weihnachtsfest gehört, daran ist wahr­scheinlich Lukas schuld. Denn wenn wir den ersten Kapiteln seines Evangeliums folgen, dann war das Geschehen um Jesu Geburt von Anfang an mit Psalmengesang verbunden. Den Anfang macht das „Magnificat“, der Lobgesang der schwangeren Maria: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilan­des“. Der Höhepunkt ist mit dem „Gloria“ der himmlischen Heerscha­ren erreicht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Und den würdigen Abschluss bildet das „Nunc dimittis“, der Lobpreis des Simeon: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“

Dazwischen habe ich eins erst mal ausgelassen, denn das ist heute Predigttext. Es ist das „Benedictus“, der Lobgesang des Zacharias. Nach der Geburt seines Sohnes Johannes, des künftigen Täufers, wird der alte Priester vom Heiligen Geist erfüllt und wird mit folgen­den Worten zum Psalmsänger und Propheten:

Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!

Denn er hat besucht und erlöst sein Volk

und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils

im Hause seines Die­ners David

– wie er vorzeiten geredet hat

durch den Mund seiner heiligen Pro­pheten –,

dass er uns errettete von unsern Feinden

und aus der Hand aller, die uns hassen,

und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern

und gedächte an seinen heiligen Bund

und an den Eid, den er geschworen hat

unserm Vater Abraham, uns zu geben,

dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht

unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Au­gen.

Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen.

Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg berei­test

und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk

in der Vergebung ih­rer Sünden,

durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes,

durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe,

damit es erscheine denen,

die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes,

und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.

Ein wichtiges Stichwort dieses Liedes wirkt vielleicht erst einmal enttäuschend. „Der Herr hat sein Volk besucht“, steht am Anfang. „Besuchen wird uns das aufgehende Licht aus der Höhe“, heißt es am Ende. Mehr nicht? mögen wir da denken. Denn Besuch, so verste­hen wir das, kommt für ein paar Stunden, höchstens für ein paar Tage, dann geht er wieder. Je nachdem, wer da kommt, finden wir das auch ganz gut so. Aber bei einem Besucher, der uns wirklich lieb und teuer ist, sind wir traurig, wenn er wieder abreist. Und wer nur zu Besuch kommt, der ändert auch nichts in unserem Leben. Er hinterlässt vielleicht ein Gastgeschenk und einen Eintrag im Gäste­buch, aber ansonsten nimmt er alles wieder mit, was er mitgebracht hat. Wir selber verhalten uns als Besucher ja nicht anders.

Vielen Menschen geht es so auch mit Gott. Dass er sie besuchen könnte, damit rechnen sie sowieso eher nicht. Und wenn sie ihn besuchen, dann bleibt es meistens bei einer Stippvisite. Sie schauen dann halt zu Weihnachten mal vorbei, zur Taufe, zur Konfirmation, finden es ganz nett, würden auch nie drauf verzichten, aber nach Beendigung des Besuchs ist alles wie gehabt.

Gott kennt das von uns. Deshalb hat er nicht abgewartet, bis seine Menschen mal das Bedürfnis hatten, länger und intensiver mit ihm zusammen zu sein. Da hätte er auch lange warten können! Sondern er hat sich selber aufgemacht, um uns zu besuchen – nicht, um mög­lichst bald wieder zu gehen, sondern um zu bleiben. Was er macht, ist also nicht nur ein Besuch sondern eine Heimsuchung: Gott sucht uns auf in unserem Heim und macht es auch zu seinem Heim, und das für immer. Wir benutzen das Wort „Heimsuchung“ ja eher für negative Dinge. Und von Krankheit oder anderem Elend heimge­sucht werden will natürlich niemand. Aber wenn Gott uns heim­sucht, dann ist es das Beste, was uns passieren kann. Denn dann bringt er all das mit, wovon der Lobgesang des Zacharias spricht: Erlösung, Heil, Rettung vor unseren Feinden, Barmherzigkeit, Verge­bung, Licht in der Finsternis, Ausrichtung auf den Weg des Friedens. Das alles sind seine Gastgeschenke an uns, und er nimmt nichts da­von wieder mit, sondern er bleibt ja da und seine Gaben auch.

Klingt gut, nicht? Aber manchem kling es wohl auch zu schön, um wahr zu sein. Denn wenn Gott uns Erlösung mitbringt, warum sind wir dann immer noch nicht frei von den Dingen, die uns belasten, von den äußeren und inneren Zwängen, denen wir unterliegen? Wenn Gott uns Heil und Rettung bringt, warum herrschen dann in unserer Welt immer noch so heillose Zustände? Wenn er Barmherzig­keit bringt, warum gehen Menschen dann immer noch so herzlos miteinander um? Wenn mit ihm das Licht aufgeht, warum herrscht dann immer noch finstere Nacht an so vielen Orten der Erde und in so vielen Herzen? Wenn er uns befähigt zu einem Leben in Frieden und Gerechtigkeit, warum regieren dann immer noch Krieg und Terror, Willkür und Unterdrückung? Und warum fällt es auch uns selber immer noch so schwer, friedlich und gerecht zu sein?

Ich glaube, es hat mit den unterschiedlichen Zeitformen in unserem Text zu tun. „Er hat besucht und erlöst sein Volk“ heißt es am An­fang. „Es wird uns besuchen das aufgehende Licht aus der Höhe“ heißt es am Ende. Einmal Perfekt, einmal Futur. Das eine ist schon geschehen, das andere wird sich erst ereignen. Aber wie ist das mög­lich? Der Besuch kann doch nicht gleichzeitig schon da sein und erst kommen!

In der Erzählung des Lukas haben die unterschiedlichen Zeitformen natürlich mit der erzählten Situation zu tun. Johannes, der Wegberei­ter, ist bereits geboren, Jesus, der verheißene Messias, ist schon unterwegs. Gott hat also schon zum Heil der Menschen gehan­delt. Er hat Fakten geschaffen, die nicht mehr umkehrbar sind. Im Leib der Maria wächst der Sohn Gottes heran. Gott und Mensch sind bereits eins geworden, und das ist das Entscheidende. Aber er ist erst der Anfang. Die Geburt Jesu steht noch bevor. Dann wird das Licht aus der Höhe die Hirten umleuchten – aber erst einmal nur sie. Johannes und Jesus müssen erwachsen werden, ehe sie ihre Wirksam­keit entfalten können. Dann wird Johannes taufen und zur Umkehr rufen und Jesus wird das Gnadenjahr des Herrn verkünden – aber erst einmal nur in und für Israel. Dann wird die Botschaft von Jesus Christus ihren Lauf um die Welt antreten. Mit Paulus und den anderen Aposteln wird sich die Verheißung aus Jesaja 49 erfüllen: „Ich habe dich zum Licht für die Heiden gemacht, damit du das Heil seist bis an die Enden der Erde.“ (Apg. 13,47). Doch am Ende der biblischen Apostelgeschichte ist gerade mal Rom erreicht, aber keines­wegs die „Enden der Erde“.

Heute allerdings ist es endlich soweit: Überall auf der Welt kann man das Evangelium von Jesus Christus hören und die allermeisten können es in ihrer Muttersprache nachlesen. In allen Ländern der Erde gibt es christliche Gemeinden. Und anders als bei uns wachsen sie vielerorts und machen die weltweite Christenheit zahlenmäßig größer als je zuvor. Aber trotzdem ist das „Licht aus der Höhe“ im­mer noch nicht ganz aufgegangen.  Das Heil ist noch nicht vollendet. Gerechtigkeit und Frieden sind noch nicht Wirklichkeit, ja manchmal scheinen sie ferner denn je.  Das Futur behält also seinen Sinn. Zu fragen wäre höchstens, ob dann vielleicht das Perfekt nicht stimmt: Wenn das Heil der Welt nach 2000 Jahren immer noch nicht am Ziel ist, hat es dann damals überhaupt angefangen? Oder besteht der ganze schöne Lobgesang doch nur aus großen Worten ohne Wert?

Diese Frage muss letztlich jeder von uns für sich selber beantwor­ten: Vertraue ich dem Anfang, den Gott gemacht hat? Verlasse ich mich darauf, dass er wirklich Mensch geworden ist, dass er uns in Jesus aufgesucht hat und geblieben ist? Und halte ich an der Hoff­nung fest, dass er wahr machen wird, was an seinen Verheißungen noch nicht erfüllt ist? Ob ich das tue, hängt wohl daran, ob ich hier und heute Zeichen für Gottes Gegenwart entdecke, ob ich erfahren kann, dass Gott barmherzig ist und vergibt, dass ich „erlöst und ohne Furcht ihm dienen“.

Ich glaube, dass wir viele solche Zeichen entdecken können – über­all, wo Menschen in Gottes Namen reden und handeln, überall, wo wir Schritte auf dem Weg des Friedens gehen, und seien es nur kleine. Für heute will ich mich auf eins dieser Zeichen beschränken – eines, das wir meistens gar nicht als solches wahrnehmen. Und das ist das, womit ich meine Predigt angefangen habe: es sind die Lie­der, die Musik zu Advent und Weihnachten.

Das fängt schon beim alten Zacharias an: Er hat auf wunderbare Weise einen Sohn bekommen, dem eine große Zukunft verheißen ist. Aber ansonsten ist sein bescheidenes Leben immer noch das gleiche, und die Welt ist immer noch, wie sie ist. Trotzdem: Wenn er seinen Lobpreis singt, dann ist für ihn schon Wirklichkeit, wovon er singt. Auch die Soldaten haben es erlebt, die zu Weihnachten 1914 aus den Schützengräben stiegen und gemeinsam „Stille Nacht“ san­gen, jeder in seiner Sprache: wenigstens für diesen Moment war der Friede da. Und mir geht es auch so: Wenn ich die vertrauten Lieder wieder singe, ja, auch schon, wenn ich sie bewusst höre, dann sind sie in dem Augenblick für mich wahr. Dann geht das Licht auf, und alle Finsternis muss weichen. Dann ist die Angst weg und die Freude da. Denn gleichzeitig singen und Angst haben, das geht gar nicht, sagen die Hirnforscher. Und ich sage: gut dass der Schöpfer es so eingerichtet hat!

Also, liebe Gemeinde: Wenn ihr die Wahrheit der Advents- und Weih­nachtsbotschaft spüren wollt, dann singt – so viel, so oft und so gut ihr könnt! Singt selber und singt gemeinsam mit anderen – in der Kirche, in der Familie, meinetwegen auch auf dem Weihnachts­markt! Und bringt euren Kindern und Enkeln das Singen bei – egal, ob sie mit euch die alten Lieder singen (das hoffentlich auch) oder lieber neue, die ihnen besser eingehen! Dann werden Musik und Worte noch lange in euch nachklingen und sie werden euch weiterbrin­gen auf dem Weg des Friedens, auf den Gott eure Schritte ausgerichtet hat. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein