Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 30.04.2023

Gottesdienst für den Sonntag JUBILATE

Text: Joh 16,16-23a

Jesus sprach: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“ Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: „Was be­deutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater?“ Da sprachen sie: „Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet.“ Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: „Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich ge­sagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Wahr­lich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmer­zen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr habt nun Traurig­keit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts mehr fragen.“

Am 8. September 2022 starb auf Schloss Balmoral Queen Elizabeth II., 96 Jahre alt und seit über 70 Jahren Königin von England. Nur wenige Tage vorher hatte sie noch ihre letzte Premierministerin empfangen – sichtlich geschwächt, aber wie immer mit pflicht­bewuss­tem Lächeln. Nun war sie tot und damit noch ein letz­tes Mal das beherrschende Thema in allen Medien. Viele Millionen Men­schen rund um den Globus verfolgten live die ausgedehnten Trauer­feierlichkeiten. Und nicht wenige beklagten ihren Tod wie den einer na­hen Angehörigen, obwohl sie sie höchstens mal von weitem ge­sehen hatten. Echte, persönliche Trauer um einen gelieb­ten Men­schen und künstlich erzeugte Medien-Trauer fließen halt bei solchen Gelegenheiten gern ineinander. Als vor Jahren kurz nacheinan­der Johannes Paul II. und Rainier von Monaco gestorben waren, sagte eine Frau am Grab einer guten Freundin zu mir: „Erst der Papst, dann der Fürst und jetzt auch noch unser Else – ich komm aus dem Weinen gar nicht mehr heraus!“

Woran liegt das? Warum geht so vielen der Tod von Menschen so nahe, die sie persönlich nie kennengelernt haben? Vielleicht liegt es daran, dass wir in diese Menschen etwas hineinlegen können, was wir uns selber wünschen, aber nicht erreichen: reich und erfolgreich zu sein, um ein simples Beispiel zu nehmen. Aber vielleicht auch: trotz aller Fehler und Schwächen anerkannt und geliebt zu werden, wie so mancher Sänger oder Schauspieler. Oder: so diszipliniert und ausdauernd seinen Weg gehen zu können, wie die Queen es getan hat – trotz aller Skandale in ihrem Umfeld. Solche Menschen leben sozusagen stellvertretend unsere Sehnsüchte. Und wenn sie dann ster­ben, dann stirbt ein Stück von uns mit, und wir sind mit unserer uner­füllten Sehnsucht wieder allein.

„Ihr habt nun Traurigkeit“, sagt Jesus zu seinen Jüngern. Er spricht damit aus, dass es ihnen mit ihrem Meister auch so geht. Er sagt es am Vorabend seiner Kreuzigung. Die „kleine Weile“, bis sie ihn nicht mehr sehen, wird also nicht mal 24 Stunden betragen. Und auch Jesus wird die Sehnsüchte und Hoffnungen seiner Jünger mit sich fortnehmen. Die Sehnsucht nach Frieden. Die Hoffnung auf Gerech­tigkeit. Das Vertrauen darauf, dass Gott da ist, wo Jesus ist. Was sind sie noch ohne ihn, zu dem Petrus gesagt hat: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du“ – du allein – „hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes“? (Joh 6,68-69) „Ihr werdet weinen und klagen“, sagt Jesus voraus, „und die Welt wird sich freuen“: die Welt, die es nicht ertragen kann, dass Jesus für sich in Anspruch nimmt eins mit dem himmlischen Vater zu sein. Die Welt, die sich durch einen solchen Anspruch bedroht und in Frage gestellt sieht und deshalb über Jesu Tod große Genugtuung empfindet.

Jesus beschönigt das alles nicht. Er sagt nicht: „Ihr dürft nicht traurig sein“. Er sagt nicht: „Ihr müsst jetzt stark sein“ – Haltung bewahren und bloß nicht weinen! Er lenkt nicht ab von der Trauer, sagt nicht: „Alles nicht so schlimm, ihr seht mich ja bald wieder.“ Nein, er sagt einfach: „Ihr habt nun Traurigkeit. Und diese Trauer kann und will ich euch nicht nehmen, denn ihr habt allen Grund dazu.“ Ge­nauso wie heute alle Menschen Grund zum Trauern haben, die einen lie­ben Menschen verlieren – einen, der ihnen persönlich nahe stand, vielleicht auch ein fernes Idol, das sie verehrten.

Jesus gibt der Trauer ihr Recht. Und damit geht er mit seinen Jün­gern den ersten Schritt dessen, was man heute Trauerarbeit nennt. Die Trauer zulassen, sie nicht überspielen, ihr Zeit lassen – das muss sein, gerade damit sie nicht das letzte Wort behält, sondern irgend­wann überwunden ist. So wie bei einer Frau, die ihre Geburts­schmer­zen ertragen muss, damit das Kind zur Welt kommt. In unse­ren Zeiten mit Peridural-Anästhesie und geplantem Kaiserschnitt stimmt das auch nicht mehr so ganz, aber ich denke, wir verstehen noch, was Jesus mit dem Bild meint.

Jesus verheißt seinen Jüngern, dass die Freude schon sehr bald die Trauer überwinden wird: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann wer­det ihr mich sehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ An diesen Worten rätseln die Jün­ger ziemlich lange und umständlich herum. Und wenn ich mir vor­stelle, ich hätte damals dabei gesessen, ohne den Rest des Evan­geliums zu kennen, wäre es mir wohl auch so ge­gangen. „Nicht mehr sehen“ ist klar – damit meint Jesus seinen Tod. Aber „wieder sehen“ nach einer kleinen Weile – was soll das heißen?

Die erste Antwort finden wir, wenn wir das Evangelium zu Ende le­sen. In Kapitel 20 heißt es: „Am Abend aber des ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen wa­ren, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und die Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.“ (20,19-20) Das Wiedersehen geschieht zu Ostern, wirklich nur nach einer kleinen Weile von drei Tagen. Und denen die damals dabei waren, konnte die Freude darüber tatsächlich keiner mehr nehmen. Diese Freude trug sie bis an ihr Lebensende – durch alle Wider­stände und Gefahren hindurch.

Aber für sie schreibt Johannes ja nicht sein Evangelium. Als er es tut, da sind die Zeugen der Auferstehung wahrscheinlich alle schon tot. Er schreibt für die, von denen Jesus zum zweifelnden Thomas sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29) Er schreibt für Menschen, die im Grunde schon in der gleichen Lage sind wie wir heute. Auch wir haben Traurigkeit – jede Menge. Aber wir sehen Jesus nicht. Kann es für uns trotzdem die Freude ge­ben, die niemand von uns nimmt? Die Freude darüber, dass Jesus den Tod besiegt hat – nicht nur für sich selbst, sondern auch für uns?

Einige Verse vor dem heutigen Predigttext sagt Jesus sinngemäß: „Ich gehe, und deshalb seid ihr traurig. Aber es ist gut für euch, wenn ich gehe, denn dann wird Gott euch den Tröster schicken, und der wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Dieser „Tröster“ ist das Geheim­nis derer, die nicht sehen und doch glauben. Man könnte das griechische Wort dafür auch mit „Beistand“ oder „Anwalt“ überset­zen, und gemeint ist der Heilige Geist. Wo dieser Geist ist, da weicht die Trauer, und die Freude bleibt.

Auch ihn kann man nicht sehen. Aber man kann ihn spüren. Im Got­tesdienst, beim Abendmahl, im Gebet, beim Singen eines wahrhaft geistlichen Liedes, sei es alt oder neu. Ich kann ihn spüren im Wir­ken von Menschen, die von ihm getrieben wurden und werden. Viel­leicht denken wir da auch zuerst an Verstorbene, die wir entspre­chend verehren: an Dietrich Bonhoeffer oder Sophie Scholl, an Martin Luther King oder Mutter Teresa, um nur ein paar aus den letzten hundert Jahren zu nennen. Sie haben viel bewegt – mit ih­rem Leben, manchmal noch mehr mit ihrer Nachwirkung. Aber was sie mit Gottes Beistand konnten, das können wir kleinen Leute an unseren kleinen Orten auch. Wir können gegen Widerstände zu unse­rer Überzeugung stehen und entsprechend handeln. Wir kön­nen uns einsetzen für Frieden und Gerechtigkeit und bei uns selber anfangen. Wir können viel tun für die Armen und Notleidenden die­ser Welt – auch mit bescheidenen Mitteln. Und wir können noch manches mehr, wenn Gottes Geist uns antreibt. Also bleibt mir nur die Bitte: Komm, Heiliger Geist, und erfülle unsere Herzen mit der Freude, die niemand von uns nehmen kann: dass wir singen und jubilieren können zur Ehre Gottes und andere damit anstecken – nicht nur durch Lieder und Musik, sondern durch alles, was wir den­ken, reden und tun. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein