Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 28. September 2014

Gottesdienst zur Einführung von Dorines Dickel, 15. Sonntag nach Trinitatis

Text: Gal 5,25-6,5

Der deutsche Durchschnittsmensch wird immer mehr zum Einzel­gänger. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte wächst – in Großstäd­ten sind es schon mehr als fünfzig Prozent. Natürlich geschieht das nicht immer freiwillig, zum Beispiel bei Witwen und Witwern. Und es ist auch nicht immer auf Dauer, zum Beispiel bei Studenten. Aber viele empfinden das Single-Dasein auch als ange­nehm und wollen gar nicht anders leben. Und davon ab: auch viele Ehepaare oder Familien leben zwar unter einem Dach, aber jeder für sich. Man hat seine eigene Arbeit oder Schule, seine eigenen Freunde und Hobbys, seinen eigenen Computer oder Fernseher. Man sieht sich beim Kom­men oder Gehen, redet nur das Nötigste, und wenn man doch mal mehr Zeit miteinander verbringt – zu Weihnachten vielleicht oder im Urlaub – weiß man nicht viel miteinander anzu­fangen.

Man muss das gar nicht unbedingt bedauern. Man kann die Zeiten auch glücklich schätzen, in denen Menschen so frei und ungebun­den leben können. Man kann es durchaus genießen, sein eigener Herr zu sein und auf niemand Rücksicht nehmen zu müssen. Und wenn man sich anschaut, was für eine Zwangsveranstaltung das Familienleben früher oft war und manchmal immer noch ist, dann bekommt man Verständnis für alle, die sich lieber nicht so fest bin­den.

Und doch steckt tief in uns drin wohl immer noch die biblische Weis­heit: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Wer nur noch auf sich selbst bezogen lebt, geht sich selber irgendwann verloren. In London letzte Woche sagte uns einer, der viele solche Menschen kennt: Sie verdienen gut, sie leben für die eigene Fitness und für den Konsum, immer dem neusten Trend hinterher, aber sie wissen nicht, wer sie sind – und leiden darunter. Nun ist Geisweid nicht gerade die Londoner City, aber ich denke, es gibt diese Menschen auch un­ter uns – gerade unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Soweit zum Großen und Allgemeinen. Und wie sieht es unter uns Christen aus? Auch da spüren wir deutlich den Trend der Zeit. Kirchen­mitglied ist man nicht mehr unbedingt lebenslang, son­dern nur solange man‘s zu brauchen meint – also etwa, solange die Kin­der im kirchlichen Kindergarten sind oder zum Konfirmanden­unter­richt gehen. Und wenn man Pate werden soll oder einen bei der Kirche arbeiten will, dann tritt man halt mal wieder ein. Viele Men­schen fühlen sich nicht mehr als Teil ihrer Kir­che oder Gemeinde, sondern als Konsumenten, die eine Dienstleis­tung in Anspruch neh­men. Und geglaubt wird heute sowieso ganz individuell. Da bastelt sich jeder selber was zurecht und bedient sich dafür frei auf dem Weltmarkt der Religion oder der Esoterik. Dass es wichtig sein könnte, sich gemeinsam mit anderen zu einem bestimmten Glauben zu bekennen, dass leuchtet kaum noch jemandem ein.

Natürlich hat auch das seine positiven Aspekte. Auch in Glaubenssa­chen gab es ja früher viel unguten Zwang und viele Lippenbekennt­nisse ohne echte Überzeugung. Aber wenn es schon nicht gut ist, dass der Mensch allein sei, dann trifft das für den Christenmen­schen erst recht zu. Ohne Gemeinschaft ist christlicher Glaube gar nicht denkbar. Und wer meint, dass er auch ohne Kirche, ohne Ge­meinde Christ sein kann, der hat nicht wirklich begriffen, was Christsein heißt.

Dir, Dorines, muss ich das natürlich nicht erzählen. Mir und anderen ist ja schon positiv aufgefallen, dass dir viel an der Gemeinschaft der Christen liegt, dass du dich auf uns und unsere Gemeinde mit Offen­heit und Interesse eingelassen hast und dass dir überhaupt gute Beziehungen wichtig sind zu den Menschen, mit denen du lebst und arbeitest. Und auch allen anderen hier ist die Gemeinschaft der Chris­ten offenbar noch etwas wert. Sonst würden sie nicht zum Gottes­dienst kommen und nicht in der Gemeinde mitarbeiten – sei es in der Kinder- und Jugendarbeit oder anderswo. Aber wie sieht sie genau aus, diese Gemeinschaft? Wie kann sie funk­tionieren und gelingen – unter Kindern und Jugendlichen, zwischen Jungen und Alten, zwischen denen, die mitarbeiten, und denen, die ihnen anver­traut sind?

Wir sind immer noch gut beraten, wenn wir uns mit diesen Fragen an die Bibel wenden. Und dort können wir zum Thema am meisten beim Apostel Paulus erfahren. Denn zu seiner Zeit war die Ge­meinde Jesu Christi ja erst im Entstehen. Da war viel Aufbruch und Begeisterung, aber noch wenig Tragfähiges für die Dauer. Deshalb musste Paulus viele Briefseiten darauf verwenden, die Gemein­schaft der Gläubigen zu beschreiben und zu festigen. Er tut das auch in einem der Predigttexte für den heutigen Sonntag, im 5. und 6. Kapitel des Galaterbriefes:

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Geschwister, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei et­was, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen.

Das wichtigste wird gleich am Anfang deutlich. Wir sind als Christen nicht deshalb zusammen, weil wir uns alle so nett finden. Wir gehö­ren auch nicht deshalb dazu, weil wir in eine christliche Familie hin­eingeboren sind. Und erst recht nicht deshalb, weil wir einen Mit­gliedsbeitrag zahlen. Sondern „wir leben im Geist“, sagt Paulus. Das heißt: Wir bilden eine Gemeinschaft und gehören dazu, weil Gott es so wollte. Er hat uns den Glauben geschenkt. Er hat das Vertrauen zu ihm in uns wachsen lassen. Er hat in Jesus alles Trennende zwi­schen uns beseitigt und uns mit der Taufe seine Liebe zu­gesprochen. Er schließt uns durch den Heiligen Geist mit allen Glauben­den zusam­men – zu einer Gemein­schaft, die in Jesus Christus ihren Mittel­punkt hat. Und wenn er das einmal getan hat, dann kann nichts und niemand es noch rückgängig machen. „Ihr lebt im Geist, ihr seid geistlich“, sagt Paulus. Und das heißt nichts anderes als: ihr gehört zu Gott und da­mit zueinander, ein für alle Mal.

Die Frage ist nur, ob und welchen Gebrauch wir davon machen. „Wenn wir im Geist leben“, sagt Paulus, „dann lasst uns auch im Geist wandeln.“ Sei, was du bist, heißt das knapp formuliert. Halte fest an dem, was Gott dir mit dem Glauben geschenkt hat. Und dann führe dein Leben so, dass es Gottes Geist entspricht, auch im Um­gang mit deinen Mitmenschen und Mitchristen. Wenn wir das nicht tun, wenn wir einfach so vor uns hin leben, als ob es Gott nicht gäbe, dann nimmt Gott uns zwar sein Geschenk nicht wieder weg. Aber es wäre doch schade, wenn es bloß in der Ecke läge und weder wir selber noch andere etwas davon hät­ten, oder?

Also lasst uns anfangen, wenn wir es noch nicht getan haben, so zu leben, wie Gott will. Nicht nur jeder für sich, sondern auch als Ge­meinschaft der Glaubenden. Wir müssen diese Gemeinschaft, wie gesagt, nicht erst herstellen. Aber es ist unsere Aufgabe, sie zu pfle­gen und zu stärken, damit wir alle etwas davon haben. Und es ist unsere Aufgabe, sie den Kindern und Jugendlichen nahezubringen und vorzuleben, damit sie in diese Gemeinschaft hineinwachsen, damit aus ihnen eben keine Einzelmenschen werden, die nur um sich selber kreisen und deshalb nicht wissen, wer sie sind und wohin sie gehören. Wie das gehen kann? Paulus sagt es so: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Ich finde, das ist erfreulich nüchtern formuliert. Es ist mir viel lieber, als wenn da stünde: „Habt einander lieb!“ Das steht zwar auch in der Bibel, aber man kann es leicht missverstehen. Gott verlangt nicht von uns, dass wir für unsere Mit­christen liebevolle Gefühle entwickeln, erst recht nicht, dass wir wel­che heucheln. Wenn wir unsere Ge­schwister im Herrn nicht ausste­hen können oder sie uns auf die Ner­ven gehen, dann ist das halt so. Da kann und muss keiner aus seiner Haut. Trotzdem können wir ei­ner des anderen Last tra­gen. Wir kön­nen auch einem ungeliebten Mitchristen beiste­hen, wenn er Hilfe braucht, können ihm abnehmen, was ihm Leib und Seele nieder­drückt – durch verständnisvolles Zuhören, durch Worte, die Mut ma­chen, durch tatkräftige Unterstützung. Mag sein, dass wir uns an­schließend auch besser leiden können. Aber wir müs­sen nicht die dicksten Freunde werden. Ich denke, gerade für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, das zu lernen.

Und dann ist noch das Stich­wort „einander“ wichtig. Niemand muss sich zum Lastenpackesel für die ganze Gemeinde machen und ir­gendwann zusammen­brechen. Auch Dorines muss die Kinder- und Jugendarbeit unserer Gemeinde nicht allein schultern, sondern wir sind alle in der Pflicht, ihr tragen zu helfen: durch aktive Mitarbeit, durch Wertschätzung dessen, was sie ist tut, nicht zuletzt auch durch das Gebet. Andererseits: Wer seine Lasten immer nur ande­ren aufbürdet, ohne an Gegenleistung zu denken, der sollte den letzten Satz des Textes beachten: Vor Gott wird jeder doch seine eigene Last tragen – sprich: sein ganz persönliches Urteil be­kom­men, wenn Gott Ge­richt hält. Und wer immer nur nimmt und nie gibt, auf den wird dann manche Last zurückfallen.

Aber es gibt noch etwas anderes neben dem Lastentragen, womit wir die Gemeinschaft der Christen fördern können, und das ist realisti­sche Selbsteinschätzung. Vor „eitler Ehre“ warnt Paulus, vor Selbst­betrug und provozierender Prahlerei. Und er fordert uns zur Selbst­prüfung auf – interessanterweise gerade dann, wenn wir Fehl­tritte bei anderen entde­cken. Denn was andere falsch machen, das ist von unseren eigenen Fehlern meist nicht weit entfernt. Ich glaube, wir können das gar nicht ernst genug nehmen. Denn im Prin­zip ist uns zwar bewusst, dass kein Mensch unfehlbar ist, alles kann und immer Recht hat. Nur fällt es uns in der Praxis unglaublich schwer, dieses Prinzip auf uns selber anzuwenden. Da sind dann doch immer die anderen schuld, in jedem Konflikt liegt das Recht natürlich auf mei­ner Seite, und alles würde viel besser laufen, auch in der Kirche, wenn alle endlich täten, was ich für richtig halte. Beson­ders schlimm wird es für die Gemeinschaft der Glaubenden, wenn jemand seine Rechthaberei auch noch direkt aus der Bibel herleitet. Denn das ist die sicherste Methode, Gemeinden zerbre­chen zu lassen und Kir­chen zu spalten.

Also, mit Paulus gesprochen: „Ein jeder prüfe sein eigenes Werk!“ Und wenn ich das tue, sollte ich mir zum Beispiel folgende Fragen stellen: Bin ich über die Fehler anderer Leute wirklich so erhaben, dass ich mich darüber entrüsten dürfte? Liegt das Recht in dieser oder jener Sache wirklich ganz auf meiner Seite, oder haben die an­deren vielleicht genauso Recht, wenn ich mich mal in ihre Lage ver­setze? Muss Kirche unbedingt so sein, wie ich sie mir vorstelle, oder kann ich anderen Vorstellungen ihren Platz lassen, auch wenn sie mir nicht gefallen? Kann ich als Erwachsener zum Beispiel akzeptie­ren, dass Jugendliche ganz andere Formen von Gottesdienst brau­chen, als ich es gewohnt bin? Und können Jugendliche akzeptieren, dass das, was sie am traditionellen Gottesdienst ätzend und langwei­lig finden, anderen Trost und Kraft gibt? Und schließlich: Ist meine Meinung in dieser oder jener Glaubensfrage wirklich biblisch fundiert oder hängt sie doch nur an Tra­dition und Gewohnheit? Den­ken wir mal an diese Fragen, wenn wir uns das nächste Mal über unsere Glaubensgeschwister und Mitmen­schen aufre­gen! Vielleicht legt sie sich die Aufregung dann ganz ohne Beruhi­gungspillen.

„Tragt einander die Lasten und prüft euch selbst“: das könnte also ein Ansatz sein, wie Gemeinschaft unter Christen be­wusst gelebt werden, wie auch unsere Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gelin­gen kann – mit dem Heiligen Geist und im Sinne Jesu Christi. Das mag anstrengender sein, als wenn jeder allein vor sich hin glaubt. Es mag mehr Mühe machen als Kirchen­steuer zu zahlen und bei Bedarf kirchlichen Service in Anspruch zu nehmen. Aber es lohnt sich. Denn ich bin überzeugt: Was wir in diese Gemeinschaft investieren, der wir durch Glaube und Taufe angehören, das werden wir vielfältig zurückbekommen: in Form von Halt und Sinn, von Hilfe und Anre­gung, von Bestätigung und Zu­friedenheit, von Lust und Lebens­freude. Und das ist noch nicht alles, was Gott für uns bereithält. Wer trotzdem lieber Solochrist und Einzelgänger bleibt, der verpasst was. Und das kann doch keiner wollen, oder? Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein