Predigt Talkirche, Sonntag, 28. September 2014

Gottesdienst für den fünfzehnten Sonntag nach Trinitatis

Text: Gen 2,4b-8.15b.18-24

Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass das Wort „Mensch“ zurzeit Hochkonjunktur hat? Bei unseren Politikern zum Beispiel. Die reden ständig von „den Menschen in unserem Land“, wo sie früher mal von „den Bürgern“ oder – politisch korrekter, aber umständlicher – von „den Bürgerinnen und Bürgern“ gesprochen haben. Aber nicht nur bei den Politikern ist das so. Auch sonst spricht man heute z.B. statt von „Behinderten“ von „Men­schen mit Behinderung“, statt von „Migranten“ von „Menschen mit Migrationshintergrund“. Das soll natürlich Verständnis und Einfüh­lungsvermögen demonstrieren, eben einfach „menschlicher“ klingen, und daran ist ja auch nichts Schlechtes. Allerdings könnte man es auch bedenklich finden, wenn wir eigens hervorheben müs­sen, dass sich bei Behinderten oder Mig­ranten um Menschen han­delt. Andererseits wird dagegen diskutiert, ob es sich bei bestimmten Formen menschlichen Lebens schon oder noch um Menschen han­delt – bei Embryonen in einer Petrischale zum Beispiel oder bei unheilbaren Komapati­enten. Bei alledem habe ich den Eindruck: Je häufiger wir die Worte „Mensch“ und „mensch­lich“ verwenden, desto unklarer wird uns, was der Mensch eigentlich ist und worin seine so gern beschworene Würde besteht.

Weil das so ist, freue ich mich über den heutigen Predigttext. Denn der hat zu diesem Thema einiges zu sagen. Und das, obwohl er min­destens zweieinhalbtausend Jahre alt ist. Er steht im zweiten Kapitel des ersten Buchs Mose und lautet folgendermaßen:

Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Nebel stieg auf von der Erde und befeuchtete alles Land. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte, dass er ihn bebaute und be­wahrte.

Und Gott der Herr sprach: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die um ihn sei.“ Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vö­gel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die um ihn wäre.

Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin (ischah) nennen, weil sie vom Manne (isch) genommen ist.“

Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.

Beim ersten Hören klingt das ja alles reichlich primitiv. Gott als Handwerker, der Mensch und Tier aus feuchter Erde formt und Bäume und Sträucher pflanzt? Über solche Vorstellungen sind wir doch längst hinaus! Und dann die Frau, die aus einer Rippe des Man­nes entstanden sein soll – das passt doch nicht mehr in unsere eman­zipierten Zeiten! Ganz zu schweigen davon, dass die Wissen­schaft die Entstehung des homo sapiens ganz anders erklärt.

Aber wenn wir den Text so lesen, haben wir die falsche Brille auf. Er ist weder eine theologische Abhandlung noch ein Tatsachenbericht über die Anfänge der Menschheit. Beides wollte er auch nie sein. Wenn die Menschen damals die Welt erklären wollten, haben sie keine wissenschaftlichen Untersuchungen angestellt, sondern Ge­schichten erzählt. Und so sollten wir diesen Text verstehen: als eine Geschichte über die Erschaffung des Menschen. Gerade wenn wir das tun, wird uns aufgehen, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt – Wahrheit, die auch nach Jahrtausenden nichts von ihrer Be­deutung eingebüßt hat. An einigen Punkten möchte ich das aufzei­gen.

Die erste Wahrheit: Zum Menschsein gehört die Erde. Nun ja, denken Sie jetzt vielleicht, dass wir Menschen auf der Erde leben, ist doch eine Selbstverständlichkeit. Um das zu wissen, brauche ich nicht unbedingt die Bibel. Okay, antworte ich, wenn es nur darum ginge, dass menschliches Leben auf der Erde stattfindet, hätten Sie Recht. Aber die Geschichte aus dem ersten Buch Mose sagt mehr: Wir leben nicht nur auf der Erde, sondern wir sind Erde. Oder wie es bis heute unsere Bestattungsliturgie sagt: „Von Erde bist du genom­men, zu Erde wirst du wieder werden.“ Diese Tatsache verdrängen wir ganz gern. Wir Menschen sind immer bestrebt, uns möglichst weit abzuheben von der Erde und von der gesamten übrigen Schöp­fung. Dass Gott dem Menschen seinen Atem in die Nase bläst oder dass wir zum Bilde Gottes geschaffen sind, wie es die andere bibli­sche Schöpfungsgeschichte sagt, das nehmen wir wohlwollend zur Kenntnis. „Die Krone der Schöpfung“ nennen wir uns deshalb, ob­wohl das so nicht in der Bibel steht. Und seit der Zeit der Aufklärung halten wir es gern mit dem Philosophen Descartes. Der unterschied grundsätzlich zwischen dem Menschen als denkendem Wesen und den bloßen „Dingen“, zu denen für ihn auch die Tiere gehörten. Und er sah es als die Aufgabe des Menschen an, „Meister und Besitzer der Natur“ zu werden. Nun haben wir es auf diesem Gebiet ja inzwi­schen ziemlich weit gebracht. Nirgendwo auf der Erde gibt es noch ein Stück Natur, das von der menschlichen Zivilisation völlig unbe­rührt wäre. Und wenn es noch eins gäbe, würde es spätestens nächs­tes Jahr in allen Reisekatalogen stehen. Wir können heute bis zu den fernsten Sternen und bis zu den kleinsten Elementarteilchen vordrin­gen. Wir stellen Brot und Koteletts genauso maschinell her wie Au­tos oder Computer. Und manche brüsten sich sogar schon damit, Menschen nach ihrem Bilde schaffen zu können.

Aber trotzdem: Wir kommen von der Erde nicht los. Wir bestehen aus dem gleichen „Material“ wie Tiere und Pflanzen, wir haben fast die gleichen Gene wie unsere nächsten Verwandten im Tierreich, und wir stehen mit der übrigen Schöpfung in vielfacher Wechselwir­kung. Da sagt die heutige Wissenschaft nichts anderes als die Bibel, und wenn wir auf beide nicht hören, dann müssen wir eben fühlen: die Lebensmittelskandale unserer Agrarindustrie zum Beispiel oder die katastrophalen Folgen des selbstgemachten Klimawandels. Wenn wir weiterhin meinen, dass wir mit der Erde, aus der wir gemacht sind, umspringen können, wie wir wollen, dann werden wir mit ihr untergehen. Wir sollten endlich begreifen, dass wir Selbstverstüm­melung betreiben, wenn wir sie misshandeln.

Gott hat uns freilich einen anderen Auftrag gegeben: Nicht „Meister und Besitzer der Natur“ sollen wir sein, sondern wir sollen die Erde „bebauen und bewahren“. Wir dürfen und sollen sie nutzen und et­was aus ihr machen, aber so, dass wir sie dabei nicht zerstören. Heute preist man das als „nachhaltiges Wirtschaften“ an und hat damit doch nur das wiederentdeckt, was schon immer in der Bibel stand.

Damit bin ich bei der zweiten Wahrheit: Zum Menschsein gehört die Arbeit. „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er ge­macht hatte, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ Der Garten Eden ist also kein Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund flie­gen, sondern ein Nutzgarten. „Paradiesische Zustände“ bedeuten für die Bibel nicht süßes Nichtstun, sondern frohes Schaf­fen. Es gehört zum Menschen, dass er etwas Sinnvolles zu tun hat, dass er seine Kräfte und Fähigkeiten entfalten und für sich und die Seinen sorgen kann. Deshalb müssen wir alles tun, damit Schulen, aber auch Fami­lienverhältnisse den Kindern nicht ihre natürliche Freude am Lernen verderben, sondern sie fördern. Und wir dür­fen uns auch nicht abfin­den mit den viel zu vielen Arbeits­losen – auch bei uns immer noch, aber erst recht im übrigen Europa und in der ganzen Welt. Aber zum „Bebauen und bewahren“ gehört nicht nur die be­zahlte Erwerbsar­beit, sondern auch alles, was wir für unsere Familie tun. Und es ge­hört dazu alle freiwillige, gemeinnützige Arbeit – sei es im Sportver­ein oder in der Kirchengemeinde, sei es der Ein­kauf für die kranke Nachbarin oder der humanitäre Einsatz in Afrika. Eigentlich dürfte es keinen Menschen geben, der zu dieser Art Arbeit nicht in irgend­einer Form beiträgt.

Also: Arbeit gehört zum Menschsein. Allerdings ist das der Ge­schichte aus der Bibel nur einen Nebensatz wert. Viel ausführlicher erzählt sie von der dritten Wahrheit: Zum Menschsein gehört die Gemeinschaft.

Da sitzt also nun der Mensch im Garten Eden, hat zu essen und zu tun und könnte eigentlich glücklich sein – aber da fehlt noch etwas! „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, sagt Gott. Auch das klingt nach einer Binsenweisheit. Aber so selbstverständlich gilt die­ser Satz wohl heutzutage nicht mehr. Für Kinder mag es noch ein­sichtig sein, dass sie mindestens eine feste Bezugsperson brauchen, auch für Kranke, Gebrechliche und Hilfsbedürftige. Aber als erwach­sener Mensch im Vollbesitz meiner Kräfte komme ich doch ganz gut allein klar, oder? Immer mehr Menschen ziehen heute ein Leben vor, das ohne feste Bindungen auskommt und oberflächliche Sozialkon­takte für ausreichend hält. Schließlich erspart man sich so eine Menge Ärger und lästige Pflichten. Wenn eine Beziehung ihren Reiz verloren hat, dann trennt man sich eben und geht seiner Wege, ohne sich mit Dingen wie Sorgerecht und Unterhaltspflicht herumschlagen zu müssen.

Trotzdem glaube ich, dass Gott Recht hat. Ich glaube, es ist wirklich nicht gut, dass der Mensch allein sei. Und ich glaube, im Grunde unseres Herzens sehen wir das alle so. Würden sonst die meisten Jugendlichen heiraten und Kinder bekommen wollen, obwohl viele von ihnen eher Familienverhältnisse zum Abgewöhnen erle­ben? Würden sonst immer wieder Filme gedreht, in denen über­zeugte Sin­gles schließlich doch im Hafen von Ehe und Familie lan­den? Gäbe es sonst all die vielen Kontaktanzeigen in den Zeitungen – spätere Hei­rat nicht ausgeschlossen? Freilich ist da oft mehr Sehn­sucht als Rea­litätssinn im Spiel. Aber diese Sehnsucht ist uns eben nicht auszu­treiben.

In der Geschichte aus der Bibel muss Gott erst einmal einiges aus­probieren, bis er für den Menschen „die Hilfe“ findet, „die um ihn sei“. Die Tiere können es nicht sein, denn sie sind zwar aus Erde wie er, aber sie sind nicht „Bein von seinem Bein“ und „Fleisch von sei­nem Fleisch“. Erst die Frau, die Gott aus der Seite des Menschen entnimmt und formt, ist dieses gleichwertige Gegenüber. Okay, ir­gendwie ist die alte Geschichte immer noch eher männerzentriert. Aber immerhin: „Mann“ wird der Mensch erst ge­nannt, als die Frau da ist. Vorher waren in „dem Menschen“ ja noch beide enthalten. Und es ist auch wichtig, dass da nicht „Gehilfin“ steht, wie Luther übersetzt hat, sondern „Hilfe“. Die Frau ist also nicht nur für die nie­deren Dienste da, sondern sie ist für den Mann Beistand und Gegen­über im umfassenden Sinne. Und wenn wir heute ergänzen, dass um­gekehrt das Gleiche gilt, dann ist das durchaus im Sinne des Textes.

Also gehört zum Menschsein die Gemeinschaft von Mann und Frau. Dass das immer die Ehe im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches sein muss, steht hier nicht. Und es steht auch nicht da, dass ein Mann oder eine Frau, die gewollt oder ungewollt ohne Part­ner leben, keine richtigen Menschen sind. Es gibt auch andere Mög­lichkeiten, wie ein Einzelmensch die verlässliche und dauerhafte Gemeinschaft finden kann, die zum Menschsein gehört. In einer gu­ten Hausgemeinschaft zum Beispiel. Oder in einem guten Freundes­kreis, wo man nicht nur etwas gemeinsam unternimmt, sondern auch füreinander da ist.

So, das soll für heute reichen. Eigentlich habe ich für eine Predigt sowieso schon viel zu viele Themen angeschnitten. Aber ich wollte Ihnen eben einfach mal deutlich machen, wie wahr und aktuell eine jahrtausendealte Geschichte sein kann.

Eine Frage bleibt allerdings zum Schluss noch zu klären: Gilt das alles, was hier erzählt wird, denn auch noch unter der Bedingung des Sündenfalls, von dem das nächste Kapitel berichtet? Ich denke, ja. Denn wir leben zwar nicht mehr im Garten Eden, und unsere Ent­fremdung von Gott führt auch zur Entfremdung von der Erde, von der Arbeit und von Mann und Frau. Aber trotzdem bleibt das gültig, wozu Gott uns geschaffen hat. Und wenn es stimmt, dass Gott in Jesus Christus die Entfremdung zwischen uns aufgehoben hat, dann können wir auch wieder Menschen sein, wie Gott sie gewollt hat: „Gott will mit uns die Erde verwandeln, / wir können neu ins Leben gehn.“ Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein