Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 24.04.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG KANTATE

Text: Kol 3,12-17

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinan­der, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in eu­ren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

„Kantate“ heißt dieser Sonntag – zu deutsch: „Singt!“ Auf den ersten Blick muss man uns das nicht zweimal sagen. Denn es wird immer noch viel ge­sungen in deutschen Landen. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viele Chöre und Gesangsvereine. Schon allein in un­serer Kirchen­gemeinde kommen wir, wenn wir alle Chöre zusam­menrechnen, auf rund 140 Sängerinnen und Sänger – von den Blä­sern ganz zu schweigen. Wer in der Kirche die Zähne nicht ausei­nander bekommt – oder erst gar nicht hingeht – gehört vielleicht trotzdem zu einem der vieltausendstimmigen Chöre, die am Wo­chenende die großen Fußballstadien beschallen. Und wer sich in der Öffentlichkeit nicht traut, singt vielleicht wenigstens mit dem häusli­chen Radio oder mit Head-Set auf den Ohren.

Singen hat ja auch einen guten Ruf. „Wo man singt“, sagen wir, „da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Oder: „Nur frisch, nur frisch gesungen, und alles wird wieder gut!“ Und Studien besagen, dass Singen sogar gesundheitsför­dernd ist. Kurz gesagt: Singen macht froh, Singen baut auf, Singen verbindet.

Aber auch das Singen ist keine heile Welt. Wenn man zum Beispiel an das „Horst-Wessel-Lied“ denkt oder an seine modernen Gegen­stücke in der rechtsradikalen Rockszene, sollte man noch mal über­legen, ob böse Menschen wirklich keine Lieder haben. Und außer­dem: Singen verbindet zwar, aber oft verbindet es nur Gleichgesinnte und schließt andere aus. So soll es in meiner früheren Gemeinde mal einer Gruppe von sangeskräftigen Leuten gelungen sein, sich nach einem Osterfeuer Platz im überfüll­ten Jugendraum zu verschaffen, indem sie Volkslieder anstimm­ten und die Jugend damit in die Flucht schlugen. Umgekehrt finden Jugendliche oft die Musik am coolsten, mit der man die Erwachsenen am besten provozieren kann oder bei der sie zumindest nicht mitreden können. Und nicht umsonst sagten früher Evangelische und Katholische übereinander: „Der oder die hat das falsche Gesangbuch“, weil eben wer „Ave Maria“ sang, nicht „Ein feste Burg ist unser Gott“ singen konnte und umgekehrt. Also: Singen schafft zwar Gemeinschaft, aber um dazuzugehören, muss man die entsprechenden Lieder auch kennen – und gut finden. Wer sie nicht kennt und nicht mitsingen kann, der ist draußen.

Wenn wir das alles so bedenken, was fangen wir dann mit der Auf­forderung aus dem Kolosserbrief an: „Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“?

Zunächst einmal sagt sie uns: Singen gehört dazu, auch in der Ge­meinschaft der Christen. Auch unter Christen macht Singen froh, baut auf und verbindet. Und „singt in euren Herzen“ heißt auch nicht, dass es nur irgendwo tief in mir drin singen soll, sondern dass der Gesang von Herzen kommen und zu Herzen gehen soll – und dazu muss er laut und kräftig sein! Die Väter unserer reformier­ten Kirche wollten zwar mal das Singen im Gottesdienst abschaffen, weil sie das Wort Christi, das reichlich unter uns wohnen soll, nur als gesproche­nes Wort gelten ließen. Aber nie haben sie verkehrter gelegen, und Gott sei Dank haben sie ihren Fehler bald eingesehen. In diesem Punkt halte ich es also lieber mit Martin Luther. Denn für ihn war die Musik die höchste aller Künste und er hat auch mit seinen eigenen Liedern dafür gesorgt, dass die sin­gende Gemeinde das besondere Kennzeichen der evangelischen Christenheit wurde.

Singen verbindet, das wissen wir. Der Kolosserbrief fügt dem noch hinzu: Singen verbindet mit Gott. Ja, ich würde sogar behaupten, es verbindet uns enger mit Gott als jedes nur gesprochene Wort. Denn Worte bleiben mit Musik viel besser haften als ohne. Wir können das zum Beispiel an alten Menschen sehen, die demenzkrank sind: Was oft noch da ist, wenn sie sonst fast alles vergessen haben, das sind die Lieder, die sie in jungen Jahren gelernt haben. Ich werde zum Bei­spiel nie eine alte Frau aus meiner Entsendungsdienstgemeinde in Bochum vergessen, die ich dort öfter besucht habe. Sie war bettläge­rig, konnte sich kaum noch bewegen, nicht mehr viel wahrnehmen und auch nicht viel sprechen. Aber einen Liedvers, den sie als kleines Kind von ihrer Mutter gelernt hatte, den konnte sie noch und wieder­holte ihn immer wieder: „Breit aus die Flügel beide, / o Jesu meine Freude, / und nimm dein Küchlein ein. / Will Satan mich verschlin­gen, / so lass die Englein singen: „Dies Kind soll unverletzet sein“. Dieser schlichte Vers war ihr Trost, an dem konnte sie sich festhal­ten, mit ihm konnte sie Gott nahe sein.

Tja, und was sollen wir singen? Psalmen, Hymnen und Oden, sagt der Kolosserbrief wörtlich. Damit nennt er die drei Ausdrücke für „Lieder“, die auf Griechisch damals zur Verfügung standen, ohne dass man sie genau auseinander halten könnte. Für mich heißt das: Singt, was ihr könnt und was euch Freude macht! Und je umfas­sen­der und vielfältiger euer Liedgut ist, umso besser. Heute könnte das so formuliert sein: Singt Gott mit Liedern aller Art! Lobt ihn mit Psalm-Gesängen, Chorälen und geistlichen Volksliedern, aber auch mit Gospel, Pop oder Hiphop. Preist ihn mit doppelchörigen Fugen, aber auch mit schlichten Kinderliedern. Spielt ihm mit Orgel, Pauken und Trompeten, aber auch mit Keyboard, Schlagzeug und Saxophon. Lobt ihn mit den guten alten Liedern, aber vergesst auch nicht, gute neue Lieder zu schreiben und zu lernen. Schließlich sagt der Wo­chenspruch: „Singet dem Herrn ein neues Lied!“ – nicht immer nur die alte Leier.

Dabei wird es natürlich immer wieder passieren, dass die einen das, was die anderen gern singen, ganz furchtbar finden. Dass zum Bei­spiel traditionsbewusste Organisten auf die moderne Lobpreisszene schimpfen und die wiederum am liebsten alle Orgeln einmotten oder nach Polen verkaufen würde. Aber wir sollten lernen, solche Dinge als Fragen des Geschmacks zu betrachten und mit entspre­chender Toleranz zu behandeln. Es geht nur, wenn wir jedem das Seine gön­nen und darüber hinaus einen möglichst großen gemeinsa­men Nen­ner suchen. Ich denke, dass da einiges möglich ist. Denn schon man­cher gesetzte Kirchenchor hat entdeckt, dass es Spaß macht Gospels zu singen, und schon mancher christliche Pop-Musi­ker kam irgend­wann drauf, was für tolle Musik in den alten Chorälen steckt.

Nur eins, hält der Kolosserbrief fest, soll für alle unsere Lieder gel­ten: „Geistlich“ sollen sie sein. Da wird wohl niemand widerspre­chen. Aber was heißt das?

Nach dem, was ich bisher gesagt habe, dürfte schon klar sein, dass sich das „Geistliche“ nicht am Musik-Stil festmachen lässt. Das hat man zwar immer wieder versucht. Aber dabei hat man doch immer nur das, was man kannte, gegen das Neue, Ungewohnte verteidigt: einstimmige Gregorianik gegen mehrstimmigen Gesang, getragene Choräle gegen flotte Rhythmen, gefällige Harmonien gegen schräge Töne. Und die jeweils neuste Instrumentalbegleitung wurde auch erst mal als Teufelszeug betrachtet. Ich hab es in jungen Jah­ren noch er­lebt, dass unser Jugendchor mancherorts besser nicht mit Gitarre und Schlagzeug auftrat, weil das den frommen Gemein­schaftsleuten missfiel. Aber auch die Posaunenchöre und sogar die Orgel waren in der Kirche anfangs nicht wohlgelitten. Wir sehen schon: Es gibt keine Musik, die nicht geistlich sein könnte. Auch für sie gilt der letzte Satz des Predigttextes: „Alles, was ihr tut mit Wor­ten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.“

Ich denke, das „Geistliche“ macht sich woanders fest. Geistlich ist alles, was dem Geist der Liebe entspricht, dem „Band der Vollkom­menheit“, das uns zusammenschließt. Geistlich ist alles, was dazu dient, anderen Menschen Gott nahe zu bringen und uns gemeinsam mit Gott zu verbinden. Geistlich ist alles, was nicht nur uns zur Freude geschieht – das natürlich auch –, sondern zur Ehre Gottes. Geistliche Musik ist die, die uns ansteckt mit der Begeisterung, die Gott uns schenkt. Ich wünsche unserer Gemeinde, dass diese Musik in ihr nie verstummt. Dass es in ihr immer Menschen gibt, die Gott mit ihren Stimmen und Instrumenten fröhlich loben. Und wenn ich mir unseren Kinderchor anschaue oder an die letzte Kibiwo denke, bin ich zuversichtlich, dass das auch gelingt. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein