Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 22.05.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG TRINITATIS

Text: Röm 11,33-36

Ich hab mir gedacht, ich stelle Ihnen und mir heute mal die „Gret­chenfrage“. Nicht eine von den politischen Fragen, die gern als „Gret­chenfragen“ tituliert werden, weil man mit ihrer Beantwortung ir­gendwie Farbe bekennen muss – zum Beispiel: „Sag, wie hältst du’s mit der AfD oder mit Deutschland als Einwanderungsland?“ Nein, ich meine die Original-Gretchenfrage, die aus Goethes Faust, der Tragö­die erster Teil.

Da fragt das bewusste Gretchen ihren Ge­liebten, den hoch gelehrten Doktor Faust: „Nun sag: wie hast du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein, ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Faust, der Freidenker, versucht sich her­auszureden. Aber Gretchen lässt nicht locker. „Glaubst du an Gott?“ fragt sie weiter. Da gibt Faust schließlich Folgendes zur Ant­wort: „Wer darf ihn nennen / Und wer bekennen: / Ich glaub Ihn! Wer empfinden / Und sich unterwin­den / Zu sagen: Ich glaub Ihn nicht! / Der Allumfasser, der Allerhal­ter, Fasst und erhält er nicht / Dich, mich, sich selbst? / … Drängt nicht alles / Nach Haupt und Herzen dir / Und webt in ewigem Ge­heimnis / Unsichtbar-sichtbar neben dir? / Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / Nenn es dann, wie du willst: / Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe kei­nen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch.“ Ich weiß nicht, ob Gretchen das alles verstanden hat, aber auf jeden Fall ist sie mit der Antwort leidlich zufrieden: „Das ist alles recht schön und gut; / Un­gefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bisschen andern Wor­ten.“

Dieses Gespräch zwischen Faust und Gretchen passt gut zu der Art und Weise, wie es heute viele Menschen mit der Religion halten. Im­mer noch glauben die meisten Menschen hierzulande an Gott oder zumindest an irgendeine höhere Macht. Aber sie lassen sich darüber von niemandem mehr Vorschriften machen, erst recht von kei­ner Kir­che. Sie reimen sich ihren Glauben selbst zusammen, und dabei bedie­nen sie sich bei ganz verschiedenen Glaubenstraditionen – christ­lichen, aber auch anderen. Auch für sie ist Glaube in erster Li­nie ein Gefühl, keine Sammlung von Aussagen, die man für wahr hält. Und wenn sie Mitglieder einer christlichen Kirche sind, dann nehmen sie für sich in Anspruch, dass ihr Glaube eben ihre per­sönliche Art des Christseins ist, auch wenn er vielleicht nur hier und da mit dem Glaubensbekennt­nis übereinstimmt. Auch ihnen reicht Gretchens Auskunft: „Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen andern Worten.“

Das sieht der Pfarrer natürlich anders. Wenn ich in Gesprächen etwas über die Glaubensvorstellungen meiner Mitchristen erfahre, dann finde ich oft, dass das ganz und gar nicht das Gleiche ist, was ich auch sage und was die Bekenntnisse sagen, auf die ich verpflichtet bin. Viel Ast­rologie und Esoterik begegnet mir da, viel unverbindliches Gerede über „Gott in der Natur“ oder „Hauptsache, man ist ein guter Mensch“, aber nur wenig Bibel. Aber ich muss es akzeptieren, wenn andere Menschen auf eine andere Weise glauben als ich selbst. Denn wenn sie nur nachsprechen würden, was ich ihnen vorsage, dann hät­ten sie noch nicht zu einem wirklich eige­nen Glauben gefunden. Jeder Mensch glaubt anders, weil jeder Mensch verschieden ist. Und je selb­ständiger jemand auch in Glau­bensdingen ist, desto besser.

Trotzdem sehe ich eine große Gefahr darin, dass wir es mit der Reli­gion immer individueller und immer verschiedener halten. Denn je verschiedener und unbestimmter das ist, was wir als Einzelne glauben, desto weniger können wir uns darüber austauschen. Und je weniger wir uns austau­schen, desto schwerer fällt es uns, unseren Glauben überhaupt in Worte zu fassen. Und je weniger wir unseren Glauben in Worte fassen können, desto mehr wird er zu einem unklaren Gefühl. Und je unkla­rer dieses Gefühl wird, desto mehr verflüchtigt es sich. Und mit ihm verflüchtigt sich das, was uns der Glaube an festem Halt und Gebor­genheit bieten könnte. Und je mehr Menschen es so ergeht, desto weniger Menschen gibt es, die uns an das erinnern könnten, was uns verloren gegangen ist. Daraus ziehe ich den Schluss, dass es unge­heuer wichtig ist, dass wir Christen uns über unseren Glauben austau­schen. Und dazu gehört für mich vor allem, dass wir uns auf den ge­meinsamen Ursprung unseres Glaubens besinnen. Dazu brau­chen wir die Bibel, und damit bin ich nach langem Anlauf beim heu­tigen Pre­digttext. Er steht im Brief des Apostels Paulus an die Chris­ten in Rom, in Kapitel 11:

O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Entscheidungen und uner­forschlich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gege­ben, dass Gott es ihm vergelten müsste? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Auch das ist, wenn man so will, eine Antwort auf die „Gretchen­frage“. Auf den ersten Blick ist sie der Antwort des Doktor Faust ziemlich ähnlich. Paulus bleibt anscheinend auch sehr allgemein und legt sich nicht fest. Er spricht von der Tiefe des Reichtums, der Weis­heit und der Erkenntnis Gottes – einer Tiefe, die kein Mensch auslo­ten kann. Er nennt das Handeln Gottes unbegreiflich und unerforsch­lich. Kein Mensch kann Gottes Ge­danken lesen; keiner kann ihm Vor­schriften machen, wie er zu sein und sich zu verhalten hat; niemand kann mit Gott ins Geschäft kom­men. Paulus sagt auch warum das so ist: „Von ihm und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge.“ Das gilt auch für uns selbst: Gott hat uns geschaffen, er hält uns am Leben, er bestimmt das Ziel unseres Da­seins. Wie könnten wir von ihm je mehr erfassen, als den winzigen Ausschnitt, den wir überschauen können? Es geht uns wie den Fi­schen: sie leben im Wasser, vom Wasser und sind von Wasser umge­ben. Aber was das ist, Wasser, das können sie weder erfassen noch beschreiben. Dazu müssten sie ja ihr Lebensele­ment verlassen und sich einen Standpunkt außerhalb davon suchen. Aber daran würden sie sterben.

Tja, aber was dann? Wie sollen wir überhaupt von Gott reden, wenn uns doch die Worte fehlen, mit denen wir das tun könnten? Wie soll ich noch predigen, wenn ich über Gott eigentlich nur schweigen kann? Ich denke, wir können uns dabei von der Art und Weise leiten lassen, wie Paulus in unserem Predigttext von Gott spricht. Was er sagt, klingt trotz allem kein bisschen ratlos oder resi­gniert. Stattdessen hö­ren wir Ausrufe des Staunens, und alles mündet ein in Dank und Lob­preis: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“

Was Paulus uns hier mitteilt, ist nicht das Ergebnis langen Nachgrü­belns über Gott und die Welt. Hier spricht vielmehr einer, der eine Menge mit Gott erlebt hat und der nicht anders kann als davon zu reden. Und wo es ihm wie hier vor Staunen die Sprache verschlägt, da bleibt immer noch der Dank für die Erfahrungen, die Gott ihm ge­schenkt hat. Solche Erfahrungen kann man freilich nicht mit irgendei­nem höchsten Wesen machen, das nur in unseren Köpfen existiert. Paulus spricht von einem Gott, der den Menschen nahe ist: nicht nur im Kopf, sondern auch in Herzen, Mund und Händen. Er spricht von dem Gott, der in Jesus Christus selbst Mensch geworden ist, dem Gott, der von sich aus die Hindernisse überwunden hat, die uns von ihm trennen und die wir nicht überwinden können. Dass der „Allum­fasser und Allerhalter“ sich als schreiender Säugling in einen Futter­trog legen lässt, dass er sich freiwillig der Vergänglichkeit preisgibt, um für uns den Tod zu überwinden, das hätte in der Tat kein Philo­soph sich auszudenken gewagt. Wo bleiben denn da Ver­nunft und Logik? Dass Gott alle Menschen so liebt und annimmt, wie sie sind, und das ohne die geringste Gegenleistung, das wäre keinem Religi­onsstifter je in den Sinn gekommen. Wo bleibt denn da die Moral, das „immer strebend sich Bemühen“, um noch mal den Faust zu zitieren?

Das alles kann man als vernünftiger Mensch in der Tat nur für völlig verrückt halten, für „verworrenen Quark“, wie Goethe sagt. Es sei denn, man lässt es für sich wahr sein. Es sei denn, man entdeckt, wie befreiend und belebend diese verrückte Botschaft ist, wie sie Trost schenken kann im Leben und im Sterben. Dann entdeckt man die Kraft, die darin steckt, die Kraft Gottes, die uns aufrichtet und Halt gibt. Auch dann wissen wir nicht einfach Bescheid über Gott. Auch dann bleiben seine Tiefen unausgelotet, seine Entscheidungen unbe­greiflich und seine Wege unerforschlich. Aber das muss uns nicht mehr quälend umtreiben oder achselzuckend resignieren lassen. Wir können uns an das halten, was in Jesus von Gott offenbar geworden ist und was uns in der Bibel davon überliefert wird. Mehr brauchen wir nicht. Darin finden wir genug Gewissheit für unseren Glauben und Erfüllung für unser Leben. Und wenn wir an dieser Grundlage unseres Glaubens festhalten, dann bleibt uns auch eine gemeinsame Basis, auf der wir uns austauschen können. Dann können wir uns gegenseitig bereichern, und wir können uns helfen, dass unser Glaube in uns Wur­zeln schlägt und gedeiht und nicht in nebulösen Gefühlen verkümmert.

Eine kleine jüdische Anekdote sagt zu diesem Thema folgendes:

Der Rabbi sprach einen Schüler, der eben bei ihm eintrat, so an: „Mosche, was ist das, ‘Gott’?“ Der Schüler schwieg. Der Rabbi fragte zum zweiten und zum dritten Mal. Weiteres Schweigen. „Warum schweigst du?“, fragte der Rabbi da. – „Weil ich es nicht weiß“, ant­wortete der Schüler. „Weiß ich’s denn?“ sprach der Rabbi. „Aber ich muss sagen; denn so ist es, dass ich es sagen muss: Er ist deutlich da, und außer ihm ist nichts deutlich da, und das ist er.“

Soweit die Anekdote. Gott ist deutlich da – diesen Satz kann ich übernehmen. Als Christ glaube ich, dass Gott in Jesus deutlich da ist. Wenn ich die Antwort des jüdischen Rabbi so verstehe, muss ich ihr nichts mehr hinzufügen und kann für heute aufhören. Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein