Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 23. Juni 2013

Gottesdienst für den vierten Sonntag nach Trinitatis 

Text: Joh 8,3-11

Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu Jesus, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: „Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, sol­che Frauen zu steinigen. Was sagst du?“ Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?“ Sie antwortete: „Niemand, Herr.“ Und Jesus sprach: „So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“

Man müsste diese Szene malen können:
In der Mitte hockt Jesus auf dem Boden, beugt sich vor und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Ruhig, besonnen, scheinbar völlig in sich gekehrt, als ob er ganz allein wäre mit sich und seinen Gedanken. Merkt er überhaupt, was um ihn herum vorgeht? Doch, das tut er. Denn seine Körperhaltung ist ja schon eine Antwort auf die Herausforderung der Schriftgelehrten und Pharisäer. „Was sagst du dazu?“ fragen sie. Aber Jesus lässt sich nicht von ihnen provozieren oder in die Falle locken. Er gibt ihnen zu verstehen: „Wenn ich eure Frage beantworte, dann zu meinen und nicht zu euren Bedingungen. Ich habe euch zu gegebener Zeit durchaus etwas zu sagen, aber es ist nicht das, was ihr hören wollt.“

Vor Jesus steht die Frau. Die Männer haben sie vor sich her in die Mitte gestoßen. Und nun steht sie da und würde am liebsten im Erd­boden versinken. Vor Scham über diese Bloßstellung, vielleicht auch über das, was sie getan hat. Aber wohl auch vor ohnmächtiger Wut über die Moral dieser Männer, die eine Frau, die die Ehe bricht, stei­nigen wollen, aber von einem Mann der ein Mädchen geschwängert hätte, nur Schadenersatz fordern würden. Die sie hierher geschleppt haben, aber ihren Geliebten laufen ließen. Sie spürt die Blicke der Männer in ihrem Rücken – voll von Verachtung und selbstgerechter Entrüstung. Sie tun weh wie Nadelstiche. Sie kommt sich nackt vor, auch wenn man ihr notdürftig ihr Kleid übergeworfen hat. Und sie schaut diesen seltsamen Mann an, der da vor ihr auf der Erde hockt und in den Sand schreibt. Er starrt sie nicht an wie die anderen, aber er scheint auch keine Notiz von ihr zu nehmen. Es sieht so aus, als ob da irgendein Spiel abläuft zwischen diesem Mann und ihren Anklä­gern, aber sie versteht nicht, worum es geht in diesem Spiel. Und sie weiß auch noch nicht, wer gewinnen wird.

Und dann die Männer: Dicht gedrängt umringen sie die Frau und Jesus. Ihre gespannten Blicke wandern zwischen den beiden hin und her. Wie wird er reagieren? Wird er sagen: „Ihr habt recht, steinigt sie“? Dann haben sie gewonnen. Dann hat er kapituliert vor dem un­zweideutigen Wortlaut des Gesetzes. Und dann hat er zugleich das Urteil über sich selbst gesprochen: Wer sich mit solchen Leuten ab­gibt wie er, wer bei Huren und Zöllnern sitzt, mit Ehebrecherinnen und Die­ben isst und trinkt, der ist auch nicht besser als sie. Oder wird er sa­gen: „Nein, ihr dürft sie nicht steinigen. Lasst sie laufen“? Dann ha­ben sie auch gewonnen, denn dann entlarven ihn seine eigenen Worte als Frevler und Gesetzesbrecher.

Aber Jesus hat wie gesagt nicht die Absicht, in ihre Falle zu tappen. Er dreht den Spieß um: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“
Plötzlich geht es nicht mehr um die Frau, sondern um die Männer. Sie müssen sich nun selber fragen, wie es denn um ihre eheliche Treue steht. Und anscheinend ist keiner dabei, dem nicht irgendein gedanklicher oder wirklicher Seitensprung einfällt. Oder dem nicht andere Dinge in den Sinn kommen, die er getan hat, obwohl sie im Gesetz verboten sind. Deshalb gehen sie. Betreten und schweigend. Die Ältesten gehen zuerst, denn ihnen fallen aus ihrem langen Leben wohl die meisten Fehltritte ein. Aber schließlich geht auch der letzte junge Heißsporn, der den weitesten Weg zur Einsicht hat. Die Steini­gung fällt aus, die Fallgrube für Jesus bleibt leer.

Wir Christen sind natürlich geneigt, Jesus zu bewundern für seine Coolness und dafür, wie er die Geschichte umdreht. Aber ein einge­fleischter Jurist wäre über die Wendung der Dinge sicher gar nicht glücklich. „Wo kommen wir denn dann hin, wenn Jesus recht hat“, würde er wohl einwenden. „Dann könnte ja kein Richter mehr ir­gendeinen Delinquenten verurteilen. Selbst wenn er nach dem Gesetz noch so schuldig wäre, müsste er ihn frei­sprechen, weil er sich selber ja auch nicht immer an alle Vorschriften hält. Und sei es nur, dass er auf dem Weg zum Gericht gelegentlich zu schnell durch eine Tempo-30-Zone fährt.“
Der Jurist hätte Recht mit seinem Einwand. Als Grundsatz für die Strafjustiz gibt es in der Tat nicht, das „wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Aber bei Jesus geht es ja auch um etwas anderes. Die Männer, die die Frau vor Jesus stoßen, wollen ja nicht bestrafen. Sie wollen vernichten. Sie wollen die Frau vernichten, die sich nicht an ihre Moralvorschriften gehalten hat. Und sie wollen Jesus vernichten, der in ihren Augen mit „solchen verdorbenen Subjekten“ gemein­same Sache macht. In letzter Konse­quenz sprechen sie beiden das Lebensrecht ab. Und Jesus macht ih­nen klar: Wer radikal nach dem Lebensrecht fragt, der muss auch radikal nach der Sünde fragen. Und der muss feststellen, was Paulus sagt: Wir sind allzumal Sünder. Und wenn es stimmt, dass der Tod der Sünde Sold ist, dann haben wir damit alle unser Leben verwirkt. Wir alle müssten also sterben. Oder keiner. – Oder einer für alle an­deren.

Ich denke, wir sollten das bedenken, ehe wir das nächste Mal im Chor der allgemeinen Entrüstung mitsingen. Zum Beispiel wenn wieder mal jemand ein Kind missbraucht und umbringt. Passiert viel seltener, als viele denken. Aber wenn, dann ist das Geschrei immer groß: „Mit so einem sollte man kurzen Prozess machen. Zu­mindest sollte man ihn lebenslang in eine Isolierzelle stecken. Statt­dessen baut man für so welche auch noch teure forensische Kliniken – und das mit unserem Steuergeld!“ Oder wenn – was wohl leider nie pas­sieren wird – Hafis el-Assad eines Tages dem Internationalen Strafgerichtshof landen sollte. Dann wird es wieder heißen: „So einer wie dieser Assad, so einer, der Tausende von Menschen auf dem Gewis­sen hat, der hat doch einen fairen Prozess überhaupt nicht verdient. Da war es doch besser, was die Libyer mit ihrem Gaddafi gemacht haben: einfangen, erschießen und fertig!“

Sie haben ja alle nicht Unrecht, die sich solchermaßen entrüsten. Vieles was Menschen einander antun, ist so schrecklich, dass es nie wieder gut zu machen ist. Auch die schlimmste Strafe hätten sie reich­lich verdient. Aber der alte Gustav Heinemann hatte ja Recht: „Wenn wir mit ausgestrecktem Zeigefinger auf andere zeigen, wei­sen drei Finger auf uns selber zurück.“ Und über diese drei Finger sollten wir uns Ge­danken machen. Wer von uns ist sich denn wirk­lich ganz sicher, dass er für Macht und Einfluss nie über Leichen gehen würde? Wer von uns kann beschwören, dass er die eine oder andere Gewaltphantasie nicht doch eines Tages in die Tat umsetzt? Wer von uns kann im Brustton der Überzeugung sagen: „Ich würde meine Frau / meinen Mann niemals betrügen“? Wer von uns kann sich völlig freisprechen von der Versuchung durch Tricks und Mo­geleien das eigene Ein­kommen aufzubessern? Einen völlig tadellosen Lebenswandel kann ehrlicherweise niemand von sich erwarten – und bitte erwarten Sie ihn auch nicht von Ihrem Pastor! Wir alle leben von Natur aus so, als ob es Gott nicht gäbe, und verhalten uns ent­sprechend.

Aber nicht, dass wir darüber nun einfach zur Tagesordnung überge­hen könnten: „Ich hab meine Fehler, du hast deine Fehler – also was soll’s, Gott wird‘s uns schon nachsehen.“ Das könnten wir höchs­tens, wenn wir die Geschichte aus der Bibel nicht zu Ende lesen. Denn die geht ja noch weiter, nachdem die Ankläger weg sind: „Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hin­fort nicht mehr.“

Es ist wahr: Niemand kann uns verdammen, weil er sich dann selber mit verdammen würde. Und der eine, der es könnte, tut es nicht. Denn er liebt uns so sehr, dass er lieber selber unsere Verdammnis auf sich nimmt, um uns zu retten. Aber wer das wirklich begriffen hat, der kann nicht einfach weitermachen wie bisher. Der darf ganz neu anfangen, auch immer wieder neu anfangen, und der wird es auch tun.

Diese Chance zum Neubeginn verdient jeder. Wenn Jesus Christus sie uns gewährt, dann können wir sie anderen nicht verweigern. Auch ein brutaler Kindesmörder hat diese Chance verdient. Auch ein Kriegsverbrecher hat sie verdient. Vielleicht wird nichts draus. Viel­leicht wird der psychisch kranke Mörder nie ein normales Leben füh­ren können. Vielleicht wird aus einem skrupellosen Machtmenschen nie ein friedlicher Bürger. Aber wir sind nicht die, die ihnen die Chance dazu verwehren dürften. Alles andere wäre nicht mehr Strafe, sondern Rache. Und die ist nicht unsere Sache. Die behält Gott sich vor: „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr.“ Und wäre es nicht wunderbar, wenn diese Rache darin be­stünde, dass auch die schlimmsten Verbrecher völlig unverdient Gottes Vergebung erfahren? Wenn eines Tages im Reich Gottes so­genannte Täter und sogenannte Opfer miteinander am Tisch sitzen könnten – versöhnt miteinander und versöhnt mit Gott? Auf Erden ist solche Versöhnung nicht immer möglich. Und vor allem darf sie kein Täter von seinen Opfern erwarten oder gar verlangen. Aber Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht auch die tiefsten Gräben zwischen Menschen zuschütten könnte. Wir sollten es ihm zutrauen. Und dann sollten wir die Steine liegen lassen und die Zeigefinger einfahren und stattdessen die Hand zum Frieden und zur Versöhnung ausstrecken. So wie Lothar Zenetti es formuliert hat:

Dem da
dem andern
dem x-beliebigen
dem wildfremden
der mir wurscht ist
der mich nichts angeht
dem man nicht trauen kann
dem man besser aus dem Weg geht
dem man’s schon von weitem ansieht
dem da
dem Spinner
dem Blödmann
dem Besserwisser
dem Speichellecker
der nicht so tun soll
dem’s noch leidtun wird
der mir’s noch büßen soll
der noch was erleben kann
der sich nicht unterstehen soll
dem ich’s schon noch zeigen werde
dem da
wünsche ich Frieden
Amen.

(Pfarrer Martin Klein)