Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 19. Oktober 2014

Gottesdienst für den achtzehnten Sonntag nach Trinitatis

Text: Eph. 5,15-20

Was ist der Unterschied zwischen einem Spiel um die deutsche Fuß­ballmeisterschaft und einem evangelischen Gottes­dienst? – Was für eine Frage, denken Sie jetzt vielleicht. Das kann man doch gar nicht miteinander vergleichen, das sind doch zwei völ­lig verschiedene Paar Schuh! – Wirklich? Ich bin da nicht so sicher. Denn wenn ich eine Weile darüber nachdenke, entdecke ich zwi­schen beiden Veranstal­tungen erstaunlich viele Parallelen:

Bei beiden versammeln sich Menschen verschiedener Herkunft und verschiedener Generationen, die ein gemeinsamer Glaube verbindet: hier der Glaube an Jesus Christus, dort der Glaube an Schalke oder an die Bayern und daran, dass kein anderer Verein es so sehr verdient hat, Deutscher Meister zu werden. – Nur dass im Stadion sehr viel mehr Menschen zusammenkommen als im Gottesdienst und der Al­tersdurchschnitt deutlich niedriger liegt. Außerdem scheint der Glaube auf der Süd-Tribüne oder in der Nord-Kurve viel inbrünstiger zu Tage zu treten als im Kirchenschiff.

Bei beiden Anlässen werden immer wieder die gleichen Lieder ge­sungen: hier „Jesu, geh voran“, dort „BVB, wir folgen dir“ oder so ähnlich. Nur dass der Gesang auf den Rängen viel mitreißender klingt als in den Kirchenbänken. Da singen sogar Jungs im Stimm­bruch lauthals mit, die als Konfirman­den die Zähne kaum auseinan­der bekommen.

Bei beiden gibt es feste Rituale, die immer wiederkehren. Bei den einen geht der Klingelbeutel herum, bei den anderen „La Ola“. Die einen falten an bestimmten Stellen die Hände, die anderen reißen zu bestimmten Zeiten die Arme hoch. Und natürlich spricht oder singt der wahre Fan sein Glaubensbekenntnis wie in der Kirche im Stehen. Nur: Im Sta­dion beherrschen alle die Rituale, in der Kirche werden sie immer mehr Leuten fremd.

Bei so vielen Ähnlichkeiten ist es natürlich kein Wunder, dass sich beide Bereiche auch vermischen. Mancher Torschütze pflegt sich nach getaner Tat zu bekreuzigen, bei manchem wurde sogar schon der Spruch „Jesus liebt dich“ sichtbar, wenn er sich das Trikot vom Leib riss. Und auch von der anderen Seite gibt es Annäherungsversu­che. So gibt es auf Schalke, in Berlin und in Frankfurt inzwischen Stadien mit eigener Kapelle. Ja, okay, Kirche soll dorthin, wo die Menschen sind. Aber ob es für sie im Stadion wirklich was zu ge­winnen gibt, das erscheint mir doch eher fraglich. Denn wir haben es ja gesehen: in punkto Besucherzahlen, Bindungskraft und Begeiste­rungsfähigkeit ist der Fußball dem christlichen Glauben of­fenbar haushoch überle­gen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich Ihnen das alles erzähle. Nun, darauf gebracht hat mich der heutige Predigttext. Er steht im Ephe­serbrief und beschäftigt sich wie der ganze Brief mit der Frage, wie denn die christliche Kirche ihren Glauben leben soll in einer Umge­bung, in der sie eine kleine Minderheit ist unter Andersgläubigen und Gar-nicht-Gläubigen. Nach meinem Eindruck beginnen wir uns hier­zulande dieser Situation wieder anzunähern – der Fußball ist dafür nur ein Beispiel. Deshalb könnten die Gedanken des Epheser­briefes auch für uns noch mal interessant werden. Ich lese Epheser 5,15-20:

So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, und kauft die Zeit aus; denn es ist böse Zeit. Darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist. Und sauft euch nicht voll Wein, woraus ein un­ordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. Er­muntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Lie­dern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen und sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.

Folgt man diesem Text, so herrschen zwischen Christen und Nicht­christen klare Verhältnisse: Die einen sind unverständige Toren, die Gott nicht kennen, die anderen sind Weise, die verstehen, was der Wille Gottes ist. Die einen sorgen dafür, dass die Zeiten böse sind, die anderen nutzen diese bösen Zeiten klug aus. Die einen sind voll süßen Weines, die anderen erfüllt vom heiligen Geist. So soll es zu­mindest sein, und die Christen sollen sorgfältig darauf zu achten, dass sich diese klaren Verhältnisse nicht vermischen, damit sich heidnische Zustände in der christlichen Gemeinde nicht wieder ein­schleichen.

In den frommen Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, hat man sich um solche klaren Verhältnisse bemüht. Da waren die Grenzen zwischen Christen und Nichtchristen scharf gezogen, zumindest in den Köpfen, und man glaubte sehr genau zu wissen, was sich für Chris­ten gehört und was nicht. Da war man entweder im Fußball­verein oder im CVJM. Man feierte entweder Karneval oder ging zu den „Offenen Abenden Siegen“. Man ging sonntags abends entweder zum Tanz­kurs oder zur Gebetsstunde. Schlagzeug und E-Gitarre hatten in der geistlichen Musik nichts zu suchen, und Alkohol gab’s im Vereins­haus höchstens beim Abendmahl.

Im Lauf der Zeit ist mir allerdings aufgegangen, wie willkürlich diese Grenzen zwischen „geistlich“ und „weltlich“ gezo­gen waren. Denn natürlich wurde im CVJM genauso Fußball gespielt und dabei gefoult wie im Sportverein. Natürlich tranken auch die Frommen zu Hause Alkohol – und waren dabei nicht unbedingt be­sonders zurück­haltend. Und natürlich hatten wir in der christlichen Jugendarbeit mindestens genauso einen Heidenspaß wie alle anderen auch. Schließlich bin ich zu dem Standpunkt gelangt, dass einem Christen nichts ver­boten ist, wofür er Gott ehrlichen Herzens Dank sagen kann, und dass alles, was man zur Ehre Gottes tut, auch im christli­chen Gottes­dienst seinen Platz haben kann – sei es klatschen, tanzen oder Schlagzeug spielen.

Ja, ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: So lange man christliche Gottesdienste hauptsächlich daran erkennt, dass es dort verkopfter, gefühlsärmer und langweiliger zugeht als bei vergleichbaren „weltli­chen“ Veranstaltungen, so lange haben wir von alledem noch viel zu wenig. Denn wenn es im Epheserbrief heißt: „singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen“, dann heißt das bestimmt nicht, dass man außerhalb des Herzens davon nichts merken soll. „Ermuntern“ sollen uns die „Psalmen, Lobgesänge und geistlichen Lieder“, nicht ein­schläfern. Deshalb feiern wir ja auch in unserer Gemeinde eine Viel­zahl verschiedener Gottesdienste von der Guten-Abend-Kirche bis zum Krabbelgottesdienst, weil wir meinen, dass andere Formen, Texte und Lieder die Herzen vieler Menschen wohl eher zum Singen und Schwingen bringen als das Althergebrachte.

An dieser Stelle muss ich allerdings auf eine Gefahr hinweisen, die damit verbunden ist. Wir leben heute in einer Welt, in der man alles Mögliche künstlich herstellen kann – sogar Gefühle. Das war zwar in gewissem Maß schon immer so. Dass man sich mit Al­kohol in eine künstliche Hochstimmung versetzen kann, das wusste schon der Epheserbrief. Aber der technische Fortschritt tut uns da heute noch ganz andere Möglichkeiten auf. Immer perfekter können Computer und Technik die „echte“ Welt simulieren – einschließlich der Emoti­onen, die sie auslöst. Immer schwieriger wird es, zwischen „echt“ und „künstlich“ zu unterscheiden.

Dadurch wächst bei uns Christen die Versuchung, auch religiöse Ge­fühle künstlich zu erzeugen. Wahrscheinlich gab es in der Kir­chen­geschichte noch nie so viele perfekt inszenierte Gottesdienste und kirchliche Großveranstaltungen wie heute – von der charismatischen Mega-Church bis zum Kirchentag. Mit großem Aufwand wird dafür ge­sorgt, dass die Leute bei uns endlich auch etwas „erleben“ können. Und damit kommen wir dann auch gern mal wieder in die Zeitung oder gar ins Fernsehen.

Ich will das alles gar nicht schlecht machen. Schließlich freue ich mich auch über jeden besonders gelungenen Gottesdienst hier bei uns in Klafeld, auch wenn er mit manchem Aufwand verbunden ist. Wir brauchen solche Highlights – für uns selbst und auch, um andere auf uns aufmerksam zu machen. Aber erstens werden wir dabei die „weltliche“ Konkurrenz höchstens ausnahmsweise ausstechen kön­nen. In der Regel sind die einfach schneller, professioneller und fi­nanzkräftiger als wir. Und zweitens sollten wir eins nicht vergessen: Zum Glauben gehören zwar auch Gefühle, aber der Glaube selbst ist mehr als ein Gefühl. Und wir können zwar religiöse Gefühle künst­lich erzeugen, aber Glauben können wir nicht machen. Das Verhält­nis von Glaube und Gottesdienst ist nämlich umgekehrt: nicht der Gottesdienst macht den Glauben, sondern der Glaube bringt den Gottesdienst hervor. Deshalb sagt der Epheserbrief zuerst: „Lasst euch vom heiligen Geist erfüllen“ und spricht erst dann von der ge­genseitigen Ermunterung, vom Singen und Spielen und vom Dank­sagen im Gottesdienst.

Deshalb bin ich überzeugt: Wo Menschen im Glauben an Jesus Christus und erfüllt vom Geist Gottes miteinander singen, beten und auf Gottes Wort hören, da wird man ihnen abspüren, dass das „echt“ ist, was sie da tun – auch wenn sie ohne großen Aufwand einen ganz normalen Gottesdienst feiern, so wie wir heute Morgen. Ich bin dankbar dafür, dass ich das schon oft erlebt habe: Dass ich als Frem­der in einen Gottesdienst gekommen bin und doch gleich gespürt habe, dass ich dort unter Schwestern und Brüdern bin und dass Gott gegenwärtig ist. Sehr verschieden waren diese Gottesdienste, aber gerade die unspek­takulären waren oft die besten.

Genau das wünsche ich mir auch für unsere Gottesdienste im Tal und im Wenscht. Wenn an einem Sonntagmorgen jemand zum ersten Mal eine unserer Kirchen betritt, dann soll er oder sie spüren: Hier sind Menschen, die mich freundlich aufnehmen, die ihren Gottesdienst ernst nehmen und ihn doch fröhlich feiern und bei denen nicht alles perfekt, aber alles echt und ehrlich ist. Und beim Nachhausegehen soll sie oder er denken: Das hat gut getan, da möchte ich wieder hin, da möchte ich gern dazu gehören. Damit es so wird, müssen wir, glaube ich, gar nichts groß neu erfinden – höchstens manches be­wusster tun und besser rüberbringen. Und dazu gibt es keine bessere Hilfe als Gottes guten heiligen Geist. Möge er uns immer wieder neu erfüllen. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein